BGE 124 I 304 - Medizinische Zwangsmassnahmen | |||
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Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: Sabiha Akagündüz, A. Tschentscher | |||
37. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 23. September 1998 i.S. S. gegen Gesundheits- und Fürsorgedirektion sowie Verwaltungsgericht des Kantons Bern (staatsrechtliche Beschwerde) | |
Regeste |
Art. 4 BV; Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege betreffend ein Verfahren, in dem die Zulässigkeit von medizinischen Zwangsmassnahmen in Frage steht. |
Beurteilung der Aussichtslosigkeit einer Beschwerde unter Berücksichtigung, dass sich schwierige Rechtsfragen stellen und der Kerngehalt der persönlichen Freiheit berührt ist (E. 4). | |
Sachverhalt | |
S. wurde vom 18. Februar bis zum 18. März 1997 wegen schwer wahnhaftdeliranten Zuständen verbunden mit Polytoxikomanie in der Klinik Waldau der psychiatrischen Universitätsklinik Bern behandelt. Am 5. Oktober 1997 wurde er gestützt auf einen fürsorgerischen Freiheitsentzug wegen Selbstgefährdung und Behandlungsbedürftigkeit erneut in diese Klinik eingewiesen. Der Regierungsstatthalter II von Bern ordnete am 14. Oktober 1997 für vorläufig sechs Wochen die stationäre Begutachtung von S. an. Den gegen diese Verfügung erhobenen Rekurs wies die kantonale Rekurskommission für fürsorgerische Freiheitsentziehungen am 23. Oktober 1997 ab. Am 18. November 1997 verfügte der Regierungsstatthalter, S. sei für unbestimmte Zeit in der Klinik zurückzubehalten.
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Am 2. Januar 1998 entwich S. während eines Spaziergangs aus der Klinik. Am Abend des 5. Januar 1998 kehrte er aus eigenem Antrieb dorthin zurück. Am folgenden Tag wurde er in die Akutstation und kurz darauf ins Isolierzimmer verlegt, wo er zur Einnahme von Medikamenten gezwungen wurde. Am 8. Januar 1998 forderte der Verein X. die Klinik schriftlich auf, S. aus dem Isolierzimmer zu entlassen und die Zwangsmedikation einzustellen. Die Klinik antwortete darauf mit Schreiben vom 9. Januar 1998, dass die entsprechenden Vorbereitungen im Gange seien.
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Am 14. Januar 1998 beschwerte sich der inzwischen anwaltlich vertretene S. bei der Gesundheits- und Fürsorgedirektion des Kantons Bern gegen die Klinik und beantragte die Feststellung, dass die Zwangsmedikation und die Einschliessung im Isolierzimmer sein Grundrecht auf persönliche Freiheit sowie verschiedene Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK; SR 0.101) verletzten; gleichzeitig ersuchte er um Erlass vorsorglicher Massnahmen und um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege. Am 17. Januar 1998 durfte S. das Isolierzimmer verlassen. Ein von ihm gestelltes Gesuch um Entlassung aus der Klinik wies die kantonale Rekurskommission für fürsorgerische Freiheitsentziehungen am 28. Januar 1998 in zweiter Instanz ab.
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Die kantonale Gesundheits- und Fürsorgedirektion trat am 9. Februar 1998 auf das Gesuch um Erlass vorsorglicher Massnahmen nicht ein und wies den Antrag auf unentgeltliche Rechtspflege wegen materieller Aussichtslosigkeit der Beschwerde vom 14. Januar 1998 ab; in der Sache selbst fällte sie keinen Entscheid. Gegen die Nichtgewährung der unentgeltlichen Rechtspflege beschwerte sich S. beim kantonalen Verwaltungsgericht, wobei er auch für dieses Verfahren die unentgeltliche Rechtspflege beantragte. Das Verwaltungsgericht wies die Beschwerde sowie den prozessualen Antrag am 21. April 1998 ab.
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Gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts hat S. am 25. Mai 1998 staatsrechtliche Beschwerde beim Bundesgericht erhoben. Unter Berufung auf Art. 4 BV beantragt er, das angefochtene Urteil sei aufzuheben und die kantonalen Instanzen seien anzuweisen, ihm für das hängige Hauptverfahren die unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren; der Beschwerdeführer ersucht auch für das bundesgerichtliche Verfahren um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege.
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Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut, soweit es darauf eintritt, und hebt den angefochtenen Entscheid auf.
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Aus den Erwägungen: | |
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Art. 4 BV verschafft einer bedürftigen Partei in einem für sie nicht aussichtslosen Verfahren den Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege, der auch die Vertretung durch einen unentgeltlichen Rechtsbeistand umfasst, sofern ein solcher zur gehörigen Interessenwahrung erforderlich ist. Dieser Anspruch gilt nach neuerer Rechtsprechung des Bundesgerichts als verfassungsmässige Minimalgarantie auch in Verwaltungsverfahren (BGE 122 I 267 E. 2 mit Hinweisen).
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b) Dass der Beschwerdeführer bedürftig ist und seine Interessen im Beschwerdeverfahren auf sich alleine gestellt nicht zu wahren vermag, steht hier nicht in Frage. Die unentgeltliche Rechtspflege ist im angefochtenen Entscheid allein deshalb verweigert worden, weil das Beschwerdebegehren zum Vornherein aussichtslos sei.
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c) Als aussichtslos sind nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung Prozessbegehren anzusehen, bei denen die Gewinnaussichten beträchtlich geringer sind als die Verlustgefahren und die deshalb kaum als ernsthaft bezeichnet werden können. Dagegen gilt ein Begehren nicht als aussichtslos, wenn sich Gewinnaussichten und Verlustgefahren ungefähr die Waage halten oder jene nur wenig geringer sind als diese. Massgebend ist, ob eine Partei, die über die nötigen finanziellen Mittel verfügt, sich bei vernünftiger Überlegung zu einem Prozess entschliessen würde; eine Partei soll einen Prozess, den sie auf eigene Rechnung und Gefahr nicht führen würde, nicht deshalb anstrengen können, weil er sie nichts kostet (BGE 122 I 267 E. 2b mit Hinweisen).
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Die Rüge einer bedürftigen Partei, ihr verfassungsmässiger Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege sei verletzt, prüft das Bundesgericht in rechtlicher Hinsicht frei, in tatsächlicher dagegen nur unter dem Gesichtspunkt der Willkür (BGE 111 Ia 5 E. 1 und BGE 109 Ia 5 E. 1 mit Hinweisen). Ob im Einzelfall genügende Erfolgsaussichten bestehen, beurteilt sich nach den Verhältnissen zur Zeit, in der das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege gestellt wird (BGE 122 I 5 E. 4a). Dabei ist Rechtsfrage, welche Umstände bei der Beurteilung der Prozessaussichten in Betracht fallen und ob sie für oder gegen eine hinreichende Erfolgsaussicht sprechen, Tatfrage hingegen, ob und wieweit einzelne Tatumstände erstellt sind.
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Die Gesundheits- und Fürsorgedirektion trat gestützt auf eine Stellungnahme der Klinik mit Verfügung vom 9. Februar 1998 auf die Beschwerde nicht ein, weil das aktuelle Rechtsschutzinteresse zufolge der zwischenzeitlichen Entlassung aus dem Isolierzimmer weggefallen sei. Das Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege wies sie wegen Aussichtslosigkeit ab. Zu dieser negativen Beurteilung der Prozessaussichten war sie nach einer summarischen Prüfung der Akten, insbesondere der Krankengeschichte, gelangt. Auch den Umstand, dass die Rekurskommission für fürsorgerische Freiheitsentziehungen ein Entlassungsgesuch des Beschwerdeführers am 28. Januar 1998 wegen Selbst- und Fremdgefährdung abgewiesen hatte, zog die Gesundheits- und Fürsorgedirektion in ihre Erwägungen mit ein.
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b) Im Verfahren vor Verwaltungsgericht, in dem allein die Verweigerung der unentgeltlichen Rechtspflege Verfahrensgegenstand war, stellte der Beschwerdeführer erneut die medizinisch-therapeutische Notwendigkeit der beanstandeten Zwangsmassnahmen in Frage und machte zusätzlich geltend, die damit verbundenen Eingriffe in die persönliche Freiheit liessen sich auf keine ausreichende gesetzliche Grundlage stützen.
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Das Verwaltungsgericht ist im angefochtenen Urteil nach eingehender Prüfung der Angelegenheit zum Schluss gelangt, der vom Beschwerdeführer angestrengte Prozess sei aussichtslos. Es ist in tatsächlicher Hinsicht davon ausgegangen, dass er während der Isolierung und Zwangsmedikation urteilsunfähig war und hat in seinen rechtlichen Erwägungen ausgeführt, Art. 16 Abs. 2 PatD, wonach die Ärzte bei vorübergehend oder dauernd urteilsunfähigen Patienten ohne gesetzliche Vertretung nach pflichtgemässem Ermessen handeln, genüge als Rechtsgrundlage für eine kurzfristige Isolation und Zwangsmedikation. Die Verhältnismässigkeit dieser Massnahmen hat das Verwaltungsgericht in Anlehnung an die Begründung der Vorinstanz bejaht.
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c) In seiner staatsrechtlichen Beschwerde macht der Beschwerdeführer geltend, das Verwaltungsgericht sei bei der Beurteilung des Gesuchs um unentgeltliche Rechtspflege zu Unrecht von der Aussichtslosigkeit des Hauptverfahrens ausgegangen. Zur Begründung wiederholt er im Wesentlichen die vor Verwaltungsgericht vorgebrachten Rügen. Zudem wirft er diesem in Bezug auf die Auslegung von Art. 111 VRPG und die Würdigung der vorhandenen Beweise Willkür vor.
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4. a) Das Verwaltungsgericht hat die Rüge, die Eingriffe in die persönliche Freiheit des Beschwerdeführers liessen sich nicht auf eine genügende Rechtsgrundlage stützen, in einer abschliessenden Art und Weise materiell beurteilt, wie sie Gegenstand des Hauptverfahrens bildet, jedoch nicht bereits des Zwischenverfahrens betreffend Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege sein darf. Es hatte sich offenbar erstmals mit der Frage, ob und inwiefern Art. 16 Abs. 2 PatD als Rechtsgrundlage für ärztliche Zwangseingriffe ausreicht, auseinanderzusetzen. Angesichts der Schwere der mit solchen Eingriffen verbundenen Beschränkungen der persönlichen Freiheit von Patienten einerseits sowie der weit gefassten Formulierung von Art. 16 Abs. 2 PatD andererseits handelt es sich dabei um ein heikles rechtliches Problem, dessen Lösung eine besonders sorgfältige Prüfung und Interessenabwägung erfordert. Umso mehr ist zu beanstanden, dass das Verwaltungsgericht einerseits die Antwort auf eine Rechtsfrage präjudiziert hat, welche gar nicht Gegenstand des Verfahrens war, und es andererseits versäumt hat, die Gewinnaussichten der aufgeworfenen Rechtsfrage summarisch einzuschätzen.
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b) Isolierung und Zwangsmedikation berühren den Kerngehalt des Grundrechts der persönlichen Freiheit. Dem Prinzip der Verhältnismässigkeit entsprechend darf von derart weitgehenden Massnahmen nur mit der gebotenen Zurückhaltung Gebrauch gemacht werden. Damit der Richter in der Lage ist, die Verhältnismässigkeit solcher Eingriffe zu beurteilen, sind an die Aussagekraft einer Krankengeschichte hohe Anforderungen zu stellen. Je schwerer ein Eingriff wiegt, desto sorgfältiger ist er folglich zu begründen. Da mit der Zwangsmedikation und der mehr als zehntägigen Isolierung massiv in die persönliche Freiheit des Beschwerdeführers eingegriffen wurde, sind seine Rügen auch unter diesem Gesichtspunkt zu würdigen. Es muss hier offen bleiben, ob die vorliegende Krankengeschichte diesen hohen Begründungsanforderungen genügt und ob die durch das Verwaltungsgericht vorweggenommene Begründung in der Hauptsache haltbar ist. Da sich erstmals zu beantwortende komplexe Rechtsfragen stellten und bei der Prüfung der Verhältnismässigkeit der fraglichen Eingriffe ein Ermessensspielraum besteht, war eine Schlussfolgerung hinsichtlich des Ausgangs des Hauptverfahrens äusserst schwierig. Dies gilt namentlich für die Beurteilung der zeitlichen Angemessenheit der Isolierung; schliesslich enthält die Krankengeschichte für den Zeitraum vom 7. bis 16. Januar 1998 nur wenige Aussagen über den Gesundheitszustand des Beschwerdeführers. Unter diesen Umständen durften die Gewinnaussichten des vom Beschwerdeführer angestrengten Feststellungsverfahrens im Vergleich zu den Verlustgefahren nicht als beträchtlich geringer gewertet werden.
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