BGE 125 I 361 - Haft wegen Ausführungsgefahr | |||
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Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: Sabiha Akagündüz, A. Tschentscher | |||
33. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 22. Juni 1999 i.S. K. gegen Bezirksanwaltschaft Bülach und Bezirksgericht Bülach (staatsrechtliche Beschwerde) | |
Regeste |
Persönliche Freiheit; § 58 Abs. 2 des zürcherischen Gesetzes betreffend den Strafprozess vom 4. Mai 1919 (StPO/ZH). |
Der Haftgrund der Ausführungsgefahr bei dringendem Verdacht eines in strafbarer Weise versuchten oder vorbereiteten Verbrechens nach § 58 Abs. 2 StPO/ZH darf - in den gebotenen engen Grenzen - auch bei in Bezug auf die Begründung der Gefahr der Ausführung eines Verbrechens in jeder Hinsicht vergleichbaren Anlasstaten (hier Tötungsdrohungen) angewendet werden (E. 4b und c). |
Konkrete Anhaltspunkte für die Annahme der Ausführungsgefahr (E. 5). |
Dauer der Untersuchungshaft (E. 6). | |
Sachverhalt | |
K. wurde am 23. April 1999 wegen des Verdachts, gegenüber seinen Schwiegereltern am 15. und 21. April 1999 telefonisch die Tötung verschiedener Familienangehöriger angedroht zu haben, sowie wegen Kollusionsgefahr festgenommen und auf Antrag der Bezirksanwaltschaft Bülach vom Haftrichter des Bezirks Bülach am 26. April 1999 in Untersuchungshaft versetzt. Am 10. Mai 1999 ersuchte K. um Entlassung aus der Untersuchungshaft. Der Haftrichter des Bezirks Bülach wies diesen Antrag am 14. Mai 1999 mit der Begründung ab, es bestehe aufgrund verschiedener Vorfälle sowie der momentanen Lebenssituation von K. der dringende Verdacht, dieser würde, in Freiheit belassen, die gegenüber seinen Schwiegereltern im April 1999 geäusserten Drohungen in die Tat umsetzen; gleichzeitig befristete der Haftrichter die Untersuchungshaft einstweilen bis zum 30. Juni 1999.
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Gegen die Verfügung des Haftrichters führt K. staatsrechtliche Beschwerde beim Bundesgericht. Er beantragt die Aufhebung der angefochtenen Verfügung sowie die Anordnung der unverzüglichen Haftentlassung. Zur Begründung beruft er sich auf das Grundrecht der persönlichen Freiheit sowie auf Art. 4 BV und macht geltend, die Voraussetzungen für die Aufrechterhaltung der Haft wegen Ausführungsgefahr seien nicht gegeben.
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Das Bundesgericht weist die staatsrechtliche Beschwerde ab, soweit es darauf eintritt.
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Aus den Erwägungen: | |
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b) Der Haftrichter erwog in der angefochtenen Verfügung, die telefonischen Drohungen, wonach der Beschwerdeführer sich selbst, seine Frau und seine Kinder sowie seine Schwiegereltern töten werde, seien nicht bestritten und müssten aufgrund der konkreten Lebensumstände des Beschwerdeführers ernst genommen werden. Dieser lebe von seiner Frau, die sich gegen seinen Willen von ihm scheiden lassen wolle, seit August 1998 getrennt. Damals hätte ihn die Frau zusammen mit den Kindern nach einer heftigen Auseinandersetzung verlassen, in deren Verlauf er den Kopf seiner Frau an die Wand geschlagen und sie mit einem Fleischmesser bedroht haben soll. Weiter habe der Beschwerdeführer gegenüber Drittpersonen mehrfach Selbstmordgedanken geäussert und nach seinen eigenen Aussagen entsprechende Abschiedsbriefe geschrieben. Schliesslich berücksichtigte der Einzelrichter für die Beurteilung der Ernsthaftigkeit der Drohungen auch die Tatsache, dass der Beschwerdeführer Mitglied der religiösen Gruppierung «X.» ist, bei welcher es sich um eine christliche Gemeinschaft handle, deren Lehren unter anderem die Unterordnung der Frau unter den Mann und die Untrennbarkeit der Ehe beinhalteten.
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Der Beschwerdeführer legt dar, der Haftrichter habe das Haftentlassungsgesuch in willkürlicher Auslegung des § 58 Abs. 2 StPO/ZH abgewiesen. Zum einen bestünden keine konkreten Anhaltspunkte für die Befürchtung, er werde sich und seine Familie töten; zum andern beschränke sich der Gegenstand der Strafuntersuchung auf den Tatbestand der Drohung gemäss Art. 180 StGB. Dass der Beschwerdeführer - wie es nach § 58 Abs. 2 StPO/ZH für die Annahme der Ausführungsgefahr vorausgesetzt werde - jemals ein Verbrechen in strafbarer Weise versucht oder vorbereitet hätte, sei ihm von den kantonalen Behörden nie vorgeworfen worden. Entgegen den Ausführungen des Haftrichters stellten auch die beiden telefonischen Drohungen keine strafbaren Vorbereitungshandlungen für ein Tötungsdelikt dar, weshalb es für die Aufrechterhaltung der Haft an einer gesetzlichen Grundlage fehle. Der Beschwerdeführer macht weiter geltend, den Aussagen seiner Frau und seiner Schwiegereltern habe der Haftrichter mehr Glauben geschenkt als der eigenen Schilderung der Situation; damit liege ein Verstoss gegen das Willkürverbot vor. Schliesslich erachtet der Beschwerdeführer die bisherige Haftdauer als unverhältnismässig.
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4. a) Nach der Rechtsprechung bedarf ein Eingriff in die persönliche Freiheit, gleich wie die Einschränkung eines jeden Freiheitsrechts, einer hinreichend bestimmten Grundlage in einem Rechtssatz. Der Grad der erforderlichen Bestimmtheit lässt sich freilich nicht abstrakt festlegen, sondern hängt von der fraglichen Materie ab. Die Rechtsnorm soll so präzise formuliert sein, dass der Bürger sein Verhalten danach richten bzw. die Folgen eines bestimmten Verhaltens mit einem den Umständen entsprechenden Grad an Gewissheit voraussehen kann. Dieses Erfordernis schliesst es nicht aus, dass ein Rechtssatz der anwendenden Behörde einen Beurteilungsspielraum einräumt, wenn das Ziel der Regelung hinreichend bestimmt ist, um eine angemessene Kontrolle der Handhabung der Norm zu ermöglichen. Der Gesetzgeber kann nicht völlig darauf verzichten, allgemeine Begriffe zu verwenden, die formal nicht eindeutig generell umschrieben werden können und die an die Auslegung durch die Behörde besondere Anforderungen stellen; denn ohne die Verwendung solcher Begriffe könnte er der Vielgestaltigkeit der Verhältnisse nicht Rechnung tragen (BGE 123 I 112 E. 7a S. 124 f. mit Hinweisen; BGE 117 Ia 472 E. 3e S. 479 f. mit Hinweisen; Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte i.S. Tolstoy Miloslavsky c. Vereinigtes Königreich vom 13. Juli 1995, Serie A, Band 316 B, Ziff. 37). Eine besondere Bedeutung kommt der Bestimmtheit von Normen zu, die durch Androhung von Sanktionen unmittelbar das Verhalten des Einzelnen steuern sollen. Umgekehrt sind die Anforderungen weniger streng, wenn unterschiedlich gelagerte Sachverhalte zu regeln sind, bei denen im Interesse der Flexibilität oder der Einzelfallgerechtigkeit Differenzierungen angebracht sind. Ausserdem kann dem Bedürfnis nach Rechtsgleichheit auch durch eine gleichmässige und den besonderen Umständen Rechnung tragende Behördenpraxis entsprochen werden (BGE 123 I 1 E. 4b S. 6; vgl. Urteil des Europäischen Gerichtshofs i.S. Kruslin c. Frankreich vom 24. April 1990, Serie A, Band 176 A, Ziff. 29).
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Das Bundesgericht hat es in mehreren nicht veröffentlichten Urteilen, in denen die Rechtsgrundlage für die Anordnung resp. Aufrechterhaltung der Untersuchungs- bzw. Sicherheitshaft wegen des besonderen Haftgrundes der Wiederholungsgefahr zu prüfen war, unter dem Gesichtspunkt der genügend bestimmten gesetzlichen Grundlage als ausreichend erachtet, dass die jeweils einschlägige kantonale Bestimmung diesen Haftgrund nicht ausdrücklich aufführte und umschrieb, sondern ihn aufgrund einer nicht abschliessenden Aufzählung von andern Haftgründen oder aufgrund der Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe anwandte (nicht veröffentlichte Urteile vom 10. Juli 1996 i.S. D., E. 2, vom 18. Dezember 1991 i.S. H., E. 2, und vom 20. Oktober 1987 i.S. V., E. 2).
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b) Folgt man streng dem Wortlaut von § 58 Abs. 2 StPO/ZH, auf den der kantonale Haftrichter den Haftgrund der Ausführungsgefahr abstützte, so wird verlangt, dass der Angeschuldigte dringend verdächtigt wird, ein Verbrechen in strafbarer Weise versucht oder vorbereitet zu haben. Der angefochtenen Verfügung lässt sich ein solcher Vorwurf gegen den Beschwerdeführer nicht entnehmen. Der tätliche Angriff, den der Beschwerdeführer anlässlich der heftigen Auseinandersetzung mit seiner Frau im August 1998 begangen haben soll, wird in der haftrichterlichen Verfügung zwar erwähnt, dem Beschwerdeführer jedoch nicht als strafbarer Tötungsversuch oder als strafbare Vorbereitung einer Tötung zur Last gelegt. Der zuständige Bezirksanwalt und mit ihm der Haftrichter werfen dem Beschwerdeführer vor, mit seinen telefonischen Drohungen ernsthaft die Absicht bekundet zu haben, sich und verschiedene Familienangehörige zu töten. Es fragt sich, ob diese Drohungen unter den vorliegenden Umständen - im Lichte des Erfordernisses einer hinreichenden gesetzlichen Grundlage für den Eingriff in die persönliche Freiheit - einem in strafbarer Weise versuchten oder vorbereiteten Verbrechen gleichgestellt werden können.
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c) Sinn und Zweck von § 58 Abs. 2 StPO/ZH ist primär die Verhütung von Verbrechen; die Haft ist somit überwiegend Präventiv-haft. Vorausgesetzt sind konkrete Anhaltspunkte dafür, dass der Angeschuldigte ein in strafbarer Weise versuchtes oder vorbereitetes Verbrechen, dessen er dringend verdächtigt wird, ausführen werde (DONATSCH, in: Donatsch/Schmid, Kommentar zur Strafprozessordnung des Kantons Zürich, 1. Lieferung, März 1996, N. 61 und 64 zu § 58). Der dringende Verdacht eines in strafbarer Weise versuchten oder vorbereiteten Verbrechens begründet danach - gleich wie bei der in § 58 Abs. 1 Ziff. 3 StPO/ZH ebenfalls näher umschriebenen Wiederholungsgefahr - grundsätzlich die Gefahr, dass ein Angeschuldigter das Verbrechen tatsächlich begehen bzw. wiederholen könnte. Der Haftgrund der Ausführungsgefahr ist ausdrücklich auch in Art. 5 Ziff. 1 lit. c EMRK vorgesehen, wonach der Freiheitsentzug zulässig ist, «wenn begründeter Anlass zu der Annahme besteht, dass es notwendig ist, den Betreffenden an der Begehung einer strafbaren Handlung zu hindern».
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Dass der Haftrichter die Tötungsdrohungen, die dem Beschwerdeführer zur Last gelegt werden, dem Erfordernis der strafbaren Vorbereitungs- oder Versuchshandlung gemäss § 58 Abs. 2 StPO/ZH gleichsetzte und damit diesen Haftgrund der Ausführungsgefahr bejahte, entspricht dem Sinn und Zweck der gesetzlichen Regelung: Bei entsprechender konkreter Gefahr der Begehung von Verbrechen sollen diese durch die Haftanordnung verhindert werden. Die gesetzliche Regelung wäre nicht sachgerecht, wenn sie nicht erlaubte, in Fällen gleicher Gefahrenlage in gleicher Weise Haft anzuordnen, um Verbrechen zu verhindern. Die Vorschrift ist, auch wenn in verfassungskonformer Auslegung und Anwendung von einer nicht abschliessenden Aufzählung der Anlasstaten in Art. 58 Abs. 2 StPO/ZH auszugehen ist, genügend bestimmt im Sinne der angeführten Rechtsprechung (s. vorne E. 4a). Das Ziel der Regelung ist klar, weshalb es zulässig ist, sie - in den gebotenen engen Grenzen - auch bei nicht ausdrücklich erwähnten, aber in Bezug auf die Begründung der Gefahr der Ausführung eines Verbrechens in jeder Hinsicht vergleichbaren Anlasstaten anzuwenden. JÖRG REHBERG/MARKUS HOHL (Die Revision des Zürcher Strafprozessrechts von 1991, Zürich 1992, S. 33) bejahen die Zulässigkeit eines Analogieschlusses denn auch, zumindest wenn eine entsprechende Tat bereits vollendet wurde und eine Vertiefung des Schadens befürchtet werden muss, während DONATSCH (a.a.O., N. 62) dies grundsätzlich verneint, allerdings ohne sich mit der rechtsgleichen Anwendung der Bestimmung und den Anforderungen an eine genügende gesetzliche Grundlage näher auseinanderzusetzen.
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Dass der Haftrichter hier die Tötungsdrohungen, die dem Be- schwerdeführer zur Last gelegt werden, dem Erfordernis der strafbaren Vorbereitungs- oder Versuchshandlung gemäss § 58 Abs. 2 StPO/ZH gleichsetzte, hält nach dem Gesagten vor dem Legalitätsprinzip stand.
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5. Was die konkreten Anhaltspunkte betrifft, die nach § 58 Abs. 2 StPO/ZH für die Annahme der Ausführungsgefahr vorausgesetzt werden, so ist es nicht erforderlich, dass der Verdächtige konkrete Anstalten getroffen hat, um das befürchtete Verbrechen zu vollenden. Vielmehr genügt es, wenn sich aufgrund der persönlichen Verhältnisse des Verdächtigen sowie der Umstände ergibt, dass die Wahrscheinlichkeit einer Ausführung als sehr hoch erachtet werden muss. Die Abschätzung des Wahrscheinlichkeitsgrades ist aufgrund einer Gesamtwertung aller massgeblichen Aspekte zu treffen (vgl. BGE 125 I 60 E. 3a; vgl. DONATSCH, a.a.O., N. 66 f. zu § 58).
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Diese Voraussetzung ist hier beim gegenwärtigen Stand der Untersuchung erfüllt. Die vom Haftrichter angeführten, teils bestrittenen, teils zugegebenen Vorfälle sowie die aktuellen Lebensumstände des Beschwerdeführers rechtfertigen den Schluss, es bestehe die konkrete Gefahr, dieser könnte aufgrund seiner abwehrenden Haltung zur bevorstehenden Ehescheidung sowie der Uneinigkeit über die Kinderzuteilung in einer heftigen Erregung seine Drohung wahrmachen, mithin ihm nahestehende Personen töten. Die Rüge, für die Annahme der Ausführungsgefahr bestünden keine konkreten Anzeichen, ist demnach unbegründet.
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