BGE 128 I 184 - Sicherheitshaft im Nachverfahren | |||
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Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: Sabiha Akagündüz, A. Tschentscher | |||
17. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung i.S. X. gegen Amt für Justizvollzug, Staatsanwaltschaft und Obergericht des Kantons Zürich (staatsrechtliche Beschwerde) |
1P.255/2002 vom 25. Juni 2002 | |
Regeste |
Art. 10 Abs. 2 BV, persönliche Freiheit; § 67 StPO/ZH; Anordnung der Sicherheitshaft im Nachverfahren; gesetzliche Grundlage. | |
Sachverhalt | |
Das Obergericht des Kantons Zürich verurteilte X. am 27. Juni 1996 wegen versuchter vorsätzlicher Tötung, Hausfriedensbruchs und mehrfachen Missbrauchs des Telefons zu sieben Jahren Zuchthaus, wovon 651 Tage durch Untersuchungshaft und vorzeitigen Strafvollzug erstanden waren. Ausserdem ordnete es eine ambulante Behandlung im Sinne von Art. 43 Ziff. 1 Abs. 1 StGB während des Strafvollzugs an. Das Obergericht als Berufungsinstanz bestrafte X. mit Urteil vom 29. August 2000 wegen mehrfacher Drohung, die er während eines Urlaubs gegenüber dem Opfer der früheren Straftat (Tötungsversuch) begangen hatte, mit acht Monaten Gefängnis.
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Das Amt für Justizvollzug des Kantons Zürich stellte mit Verfügung vom 14. Dezember 2001 den Vollzug der ambulanten Massnahme gestützt auf Art. 43 Ziff. 3 StGB ein und beantragte dem Obergericht, es sei eine stationäre Massnahme nach Art. 43 Ziff. 1 Abs. 1 StGB oder eine Verwahrungsmassnahme im Sinne von Art. 43 Ziff. 1 Abs. 2 StGB, eventuell erneut eine ambulante Massnahme anzuordnen. Das Amt führte in seiner Verfügung aus, die bei X. von November 1995 bis September 2000 durchgeführte Einzeltherapie sei erfolglos gewesen. Am mehr Erfolg versprechenden Ambulanten-Intensiv-Programm (AIP) in der kantonalen Strafanstalt Pöschwies nehme er erst seit Juni 2001, mithin bis zum Strafende im Mai 2002 nicht einmal ein volles Jahr teil. Die optimale Behandlungszeit liege jedoch gemäss Therapiebericht des Psychiatrisch-Psychologischen Dienstes vom 20. September 2001 bei 2 ½ bis 3 ½ Jahren. Zudem gehe aus diesem Bericht hervor, dass X. weiterhin einer intensiven deliktpräventiven Therapie über einen längeren Zeitraum hinweg bedürfe. Im Falle einer Entlassung aus dem Strafvollzug in den nächsten Monaten bestünde ein hohes Gefährdungspotential für das Opfer der Anlasstat und für eine künftige (vermeintliche) Partnerin. Das AIP könne bis im Mai 2002 gewisse Fortschritte bewirken. Die zur Verfügung stehende Behandlungszeit reiche aber nicht aus, um das Rückfallsrisiko auf diesen Zeitpunkt hin genügend zu verringern und eine Entlassung aus dem geschlossenen Vollzugsrahmen als verantwortbar erscheinen zu lassen.
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Die III. Strafkammer des Obergerichts ordnete im Hinblick auf den von ihr zu treffenden Entscheid über den Antrag der Vollzugsbehörde eine ergänzende psychiatrische Begutachtung von X. an. Das Gutachten wurde per Ende Juli 2002 in Aussicht gestellt. Mit Eingabe vom 4. April 2002 ersuchte das Amt für Justizvollzug das Obergericht, über die Frage der Sicherheitshaft von X. zu befinden, da dieser seine Strafe am 14. Mai 2002 verbüsst haben werde. Die III. Strafkammer überwies das Gesuch an den Präsidenten der Anklagekammer des Obergerichts. Dieser ordnete mit Verfügung vom 19. April 2002 über X. für die Dauer des Nachverfahrens mit Wirkung ab 14. Mai 2002 die Sicherheitshaft an.
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Das Bundesgericht weist die von X. gegen diesen Entscheid eingereichte staatsrechtliche Beschwerde ab.
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Aus den Erwägungen: | |
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2.1 Mit der Anordnung der Sicherheitshaft über den Beschwerdeführer wurde dessen Recht auf persönliche Freiheit eingeschränkt. Einschränkungen dieses Grundrechts sind zulässig, wenn sie auf einer gesetzlichen Grundlage beruhen, im öffentlichen Interesse liegen und verhältnismässig sind; zudem dürfen sie den Kerngehalt des Grundrechts nicht beeinträchtigen (Art. 36 BV; BGE 127 I 6 E. 6 S. 18; BGE 126 I 112 E. 3a S. 115 mit Hinweisen). Im vorliegenden Fall steht ein Freiheitsentzug und damit ein schwerwiegender Eingriff in die persönliche Freiheit in Frage. Eine solche Einschränkung muss nach Art. 36 Abs. 1 Satz 2 BV im Gesetz selbst vorgesehen sein.
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Bei staatsrechtlichen Beschwerden, die gestützt auf das verfassungsmässige Recht der persönlichen Freiheit wegen Anordnung oder Fortdauer der Haft erhoben werden, prüft das Bundesgericht im Hinblick auf die Schwere des Eingriffs die Auslegung und Anwendung des entsprechenden kantonalen Rechts frei (BGE 123 I 31 E. 3a S. 35, 268 E. 2d S. 271, je mit Hinweisen). Der Rüge des Beschwerdeführers, die kantonale Instanz habe die einschlägigen Vorschriften der zürcherischen Strafprozessordnung (StPO/ZH) willkürlich ausgelegt, kommt daher neben dem Vorwurf der Verletzung der persönlichen Freiheit keine selbständige Bedeutung zu. Soweit reine Sachverhaltsfeststellungen und damit Fragen der Beweiswürdigung zu beurteilen sind, greift das Bundesgericht nur ein, wenn die tatsächlichen Feststellungen der kantonalen Instanz willkürlich sind (BGE 123 I 31 E. 3a S. 35, 268 E. 2d S. 271, je mit Hinweisen).
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2.2 Der Präsident der Anklagekammer ordnete die Sicherheitshaft über den Beschwerdeführer für das so genannte Nachverfahren mit Wirkung ab 14. Mai 2002 an. Als Nachverfahren gelten Verfahren, in denen sich das Gericht im Nachgang zu einem Urteil im Hinblick auf eine Massnahme oder auf den Vollzug einer aufgeschobenen Strafe nochmals mit der Sache zu befassen hat (ANDREAS DONATSCH, in: Andreas Donatsch/Niklaus Schmid, Kommentar zur Strafprozessordnung des Kantons Zürich, 1. Lieferung, März 1996, Rz. 7 zu § 67 StPO/ZH). Das Nachverfahren wird beim Gericht durch eine entsprechende Eingabe der Vollzugsbehörde anhängig gemacht (ANDREAS DONATSCH, a.a.O., Rz. 8 zu § 67 StPO/ZH). Im vorliegenden Fall geschah dies durch die Eingabe des Amts für Justizvollzug vom 14. Dezember 2001 beim Obergericht. Das Amt hatte den Vollzug der vom Obergericht mit Urteil vom 27. Juni 1996 angeordneten ambulanten Massnahme eingestellt und beantragte dem Obergericht, es sei eine stationäre Massnahme oder eine Verwahrungsmassnahme nach Art. 43 Ziff. 1 StGB anzuordnen. Da über dieses Begehren nicht bis zum Ablauf der Strafdauer am 14. Mai 2002 entschieden werden konnte, musste geprüft werden, ob für die Dauer des Nachverfahrens mit Wirkung ab 14. Mai 2002 die Sicherheitshaft verfügt werden könne. Der Präsident der Anklagekammer des Obergerichts bejahte diese Frage. Er führte in der angefochtenen Verfügung aus, das Verfahren betreffend Anordnung der Sicherheitshaft richte sich nach § 67 Abs. 2 in Verbindung mit § 58 StPO/ZH, wobei im Nachverfahren - zufolge rechtskräftiger Verurteilung - die Prüfung des dringenden Tatverdachts entfalle. Es bedürfe sodann einer hinreichenden Wahrscheinlichkeit, dass das Nachverfahren zu einer Massnahme führe, welche die Sicherstellung der Person des Betroffenen erfordere. Zudem müsse einer der besonderen Haftgründe (Flucht-, Kollusions- oder Wiederholungsgefahr) gegeben sein. Der Präsident der Anklagekammer hielt dafür, im vorliegenden Fall seien die Voraussetzungen für die Anordnung von Sicherheitshaft gestützt auf § 58 Abs. 1 Ziff. 3 StPO/ZH erfüllt. Er stützte sich dabei auf die Überlegungen, welche das Amt für Justizvollzug in der Verfügung vom 14. Dezember 2001 angeführt hatte. Er betonte, es falle ins Gewicht, dass die Rückfallsgefahr Ende 2001 noch mit 50% eingeschätzt worden sei, weshalb bei einer Entlassung des Beschwerdeführers aus dem Strafvollzug derzeit noch ein hohes Gefährdungspotential nicht nur für das Opfer der Anlasstat, sondern auch für eine allfällige künftige Partnerin bestehe. Unter diesen Umständen sei die Wahrscheinlichkeit der Anordnung einer Verwahrung oder einer stationären Massnahme im Nachverfahren einstweilen als genügend zu bewerten, zumal der Entscheid hierüber nach Eingang des Ergänzungsgutachtens und der daran anschliessenden mündlichen Verhandlung letztlich der für die Sache zuständigen III. Strafkammer des Obergerichts vorbehalten bleibe.
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2.3.1 Das Bundesgericht hatte sich im Jahre 1993 mit einem Fall zu befassen, in welchem es um die Frage ging, ob § 67 StPO/ZH eine ausreichende gesetzliche Grundlage für die Anordnung der Sicherheitshaft im Nachverfahren bilde (Urteil 1P.745/1992 vom 1. Februar 1993). In jenem Fall hatte die Vollzugsbehörde den vom Gericht angeordneten Vollzug der stationären Massnahme eingestellt und dem Gericht beantragt, es sei im Sinne von Art. 44 Ziff. 3 StGB zu entscheiden, ob und inwieweit die zugunsten der stationären Massnahme aufgeschobenen Freiheitsstrafen nachträglich noch zu vollziehen seien oder ob allenfalls eine andere sichernde Massnahme anzuordnen sei. Die kantonale Behörde war der Ansicht, wenn das Nachverfahren beim Gericht hängig sei, bilde § 67 StPO/ZH die Grundlage für die Anordnung und Aufrechterhaltung der Haft. Das Bundesgericht erachtete eine solche Auslegung des kantonalen Rechts als mit der Verfassung und der Europäischen Menschenrechtskonvention vereinbar. Es führte aus, wohl treffe es zu, dass der Fall, in welchem beim Gericht ein Nachverfahren gemäss Art. 44 Ziff. 3 StGB hängig sei, in § 67 StPO/ZH nicht ausdrücklich erwähnt sei. Das bedeute jedoch nicht, dass sich die Haft in diesem Verfahrensstadium nicht auf die Vorschrift von § 67 StPO/ZH stützen liesse. Es sei kaum möglich, ein Gesetz so zu formulieren, dass es jeden möglichen Sachverhalt präzis erfasse. Es sei deshalb unvermeidlich, dass sich in Gesetzen mehr oder weniger allgemeine Umschreibungen finden, deren Auslegung der Praxis überlassen werden müsse. Wenn die kantonale Instanz § 67 StPO/ZH dahin interpretiere, dass diese Bestimmung auch jenen Fall erfasse, in welchem bei einem Gericht nach der Anklageerhebung im ursprünglichen Verfahren später ein Nachverfahren gemäss Art. 44 Ziff. 3 StGB hängig sei, so handle es sich um eine sinnvolle und vernünftige Auslegung. Es wäre stossend und liefe dem Sinn der Vorschrift über die Sicherheitshaft zuwider, wenn diese im Stadium des Nachverfahrens ausgeschlossen wäre, denn die Sicherheitshaft bilde auch in diesem Verfahrensabschnitt das Mittel, um die Person des Beschuldigten für den allfälligen Straf- oder Massnahmenvollzug sicherzustellen.
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2.3.2 Diese Überlegungen gelten auch für den hier zu beurteilenden Fall. Er unterscheidet sich von der im erwähnten Urteil behandelten Sache dadurch, dass der Beschwerdeführer während des Nachverfahrens am 14. Mai 2002 die gegen ihn vom Obergericht am 27. Juni 1996 und 29. August 2000 ausgefällten Strafen von insgesamt sieben Jahren und acht Monaten verbüsst hat. Der Beschwerdeführer ist zu Unrecht der Meinung, ein Rechtsgrund für einen Freiheitsentzug sei deshalb gestützt auf diese Verurteilungen nicht mehr möglich. Gemäss dem Urteil vom 27. Juni 1996 wurde eine ambulante Behandlung während des Strafvollzugs angeordnet. Dies bedeutet indessen nicht, dass mit der Verbüssung der Strafe jeder Massnahme die Grundlage entzogen wäre. Massnahmen im Sinne von Art. 43 StGB werden auf unbestimmte Zeit angeordnet, ohne Rücksicht auf Art und Dauer der ausgesprochenen Strafe; massgebend sind der Geisteszustand des Täters und die Auswirkungen der Massnahme auf die Gefahr weiterer Straftaten (BGE 123 IV 100 E. 3c S. 105 mit Hinweisen auf die Literatur). Es bestehen verschiedene Handlungsmöglichkeiten, wenn das Ziel der ambulanten Massnahme im Vollzug oder in der Freiheit nicht erreicht wird. Wie das Bundesgericht erklärte (BGE 123 IV 100 E. 3c S. 105 f.), ermöglicht das Bundesrecht auf der einen Seite, zunächst die ambulante Massnahme anzuordnen und die Strafe aufzuschieben, wenn der Täter für Dritte nicht gefährlich erscheint (Art. 43 Ziff. 1 Abs. 1 und Ziff. 2 Abs. 2 StGB), und ihn nachträglich im Falle der Verschlechterung seines Zustands gestützt auf Art. 43 Ziff. 3 StGB zu verwahren. Auf der anderen Seite hindert die Verbindung der ambulanten Massnahme mit dem Strafvollzug den Richter nicht, die Massnahme nachträglich zu ändern und dem Verurteilten die nötige Psychotherapie zu verschaffen (BGE 100 IV 12 E. 2b S. 15) bzw. ihn nötigenfalls zu verwahren (Art. 43 Ziff. 3 StGB).
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Im vorliegenden Fall wurde das Nachverfahren eingeleitet, damit das Obergericht nach dem Scheitern der beim Beschwerdeführer während des Strafvollzugs durchgeführten ambulanten Behandlung prüfen könne, ob eine stationäre Massnahme oder eine Verwahrungsmassnahme anzuordnen sei. Der Präsident der Anklagekammer des Obergerichts war mit Recht der Auffassung, beim Entscheid über die Sicherheitshaft im Nachverfahren sei § 67 in Verbindung mit § 58 StPO/ZH analog anwendbar. Es ist klar, dass im Nachverfahren die Prüfung des dringenden Tatverdachts entfällt, da eine rechtskräftige Verurteilung bereits vorliegt. Im Nachverfahren bedarf es für die Anordnung von Sicherheitshaft einer hinreichenden Wahrscheinlichkeit, dass das Verfahren zu einer Massnahme führt, welche die Sicherstellung der Person des Betroffenen erfordert. Ausserdem muss einer der in § 58 Abs. 1 StPO/ZH genannten Haftgründe hinzukommen. Die kantonale Instanz verletzte das verfassungsmässige Recht auf persönliche Freiheit nicht, wenn sie annahm, § 67 in Verbindung mit § 58 StPO/ZH bilde eine genügende gesetzliche Grundlage für die Anordnung von Sicherheitshaft im Nachverfahren.
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