BGE 128 I 280 - Notariat Appenzell I. Rh. | |||
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Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: Sabiha Akagündüz, A. Tschentscher | |||
27. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung i.S. B. gegen Standeskommission des Kantons Appenzell I.Rh. sowie Kantonsgericht Appenzell I.Rh., Abteilung Verwaltungsgericht (staatsrechtliche Beschwerde) |
2P.31/2002 vom 6. September 2002 | |
Regeste |
Wohnsitzpflicht für Urkundspersonen (Art. 24 BV). |
Die Regelung des Kantons Appenzell I.Rh., wonach die hoheitliche Beurkundungsbefugnis Personen mit Wohnsitz im Kanton vorbehalten wird, ist mit der Bundesverfassung und namentlich mit der Niederlassungsfreiheit vereinbar (E. 4). | |
Sachverhalt | |
B. war seit dem 1. September 1997 als angestellter Rechtsanwalt in Appenzell tätig; seit 1. Mai 2001 ist er daselbst Partner im Anwaltsbüro A. & B. Am 28. Februar 2001 ersuchte er um die Bewilligung für die öffentliche Beurkundung im Kanton Appenzell I.Rh. im Sinn von Art. 1 Abs. 2 der durch den Grossen Rat erlassenen Verordnung vom 1. Juni 1951 über die öffentliche Beurkundung im Kanton Appenzell I.Rh. Nach dieser Bestimmung kann die Standeskommission für die öffentliche Beurkundung der dort aufgeführten Rechtsgeschäfte im Kanton Appenzell I.Rh. wohnhafte Personen zulassen, welche das Appenzell-Innerrhodische Anwaltspatent erworben haben.
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Die Standeskommission des Kantons Appenzell I.Rh. wies das Gesuch am 15. Mai 2001 ab mit der Begründung, B. habe nicht im Kanton Wohnsitz und erfülle somit die in der Verordnung festgelegten Voraussetzungen nicht.
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Das Kantonsgericht Appenzell I.Rh. wies eine gegen diesen Entscheid gerichtete Beschwerde am 20. November 2001 ab.
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Das Bundesgericht weist die von B. wegen Verletzung der Niederlassungsfreiheit erhobene staatsrechtliche Beschwerde ab, soweit es darauf eintritt.
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Aus den Erwägungen: | |
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Da die vom Kanton verliehene Beurkundungsbefugnis den Charakter einer übertragenen hoheitlichen Funktion hat, steht diese Tätigkeit nicht unter dem Schutz der Wirtschaftsfreiheit (BGE 73 I 366ff.; BGE 124 I 297 E. 3a S. 298; Urteil 2P.433/1997 vom 30. Juni 1998, publ. in: ZBGR 81/2000 S. 72 ff.; Urteil 2P.436/1997 vom 5. Februar 1999, publ. in: ZBGR 81/2000 S. 64 ff., je mit Hinweisen). Entsprechend ist darauf das Bundesgesetz vom 6. Oktober 1995 über den Binnenmarkt (Binnenmarktgesetz, BGBM; SR 943.02) nicht anwendbar (vgl. Art. 1 Abs. 3 BGBM; zitiertes Urteil vom 30. Juni 1998). Das Gleiche gilt für das am 1. Juni 2002 in Kraft getretene Abkommen vom 21. Juni 1999 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits über die Freizügigkeit (SR 0.142.112.681). Dieses Abkommen belässt den Vertragsstaaten die Befugnis, nicht nur das Recht auf Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung zu verweigern, wenn diese die Ausübung hoheitlicher Befugnisse umfasst (Art. 10 Anhang I), sondern auch die selbständige Erwerbstätigkeit, die dauernd oder zeitweise mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden ist (Art. 16 Anhang I). Dabei ist massgebend, dass die Tätigkeit für sich genommen eine unmittelbare und spezifische Teilnahme an der Ausübung öffentlicher Gewalt mit einschliesst. Das trifft für Urkundspersonen nach dem Gesagten zweifellos zu, hingegen nicht für Rechtsanwälte, denn diese sind privatwirtschaftlich tätig (Urteil des EuGH vom 21. Juni 1974 in der Rechtssache Rs. 2/74, Reyners, Slg. 1974, S. 631 ff.; vgl. FRITZ ROTHENBÜHLER, Freizügigkeit für Anwälte, Diss. Freiburg 1995, S. 167 f.).
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Der Beschwerdeführer beruft sich denn auch zu Recht nicht auf das Freizügigkeitsabkommen oder auf das Binnenmarktgesetz oder auf das Grundrecht der Wirtschaftsfreiheit gemäss Art. 27 BV.
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Erwägung 4.1 | |
4.1.1 Gemäss Art. 24 Abs. 1 BV haben Schweizerinnen und Schweizer das Recht, sich an jedem Ort des Landes niederzulassen. Die Niederlassungsfreiheit gewährleistet damit die Möglichkeit persönlichen Verweilens an jedem beliebigen Ort der Schweiz; sie gebietet den Kantonen und Gemeinden, jedem Schweizerbürger die Niederlassung auf ihrem Gebiet zu erlauben, und verbietet ihnen gleichzeitig, die Verlegung des einmal gewählten Wohnsitzes zu verhindern oder zu erschweren (BGE 108 Ia 248 E. 1 mit Hinweisen).
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Vorliegend ist unbestritten, dass für den gerügten Eingriff mit der zitierten, vom innerrhodischen Grossen Rat erlassenen Verordnung vom 1. Juni 1951, welche die Wohnsitzpflicht ausdrücklich vorschreibt (vgl. Art. 1 Abs. 2), eine genügende gesetzliche Grundlage vorhanden ist. Es liegt sodann auf der Hand, dass mit einer solchen Residenzpflicht die Niederlassungsfreiheit des Beschwerdeführers unter den gegebenen Umständen nur am Rande, keinesfalls in ihrem Kerngehalt betroffen sein kann. Der Beschwerdeführer wendet jedoch ein, es bestehe keinerlei öffentliches Interesse daran, die Zulassung zur Beurkundung an die Wohnsitznahme im Kanton zu knüpfen; zudem wäre eine solche Grundrechtsbeschränkung unverhältnismässig.
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4.2 Die Rechtsprechung des Bundesgerichts zur Niederlassungsfreiheit ist reich an Fällen, in welchen die Wohnsitzpflicht von Beamten im Lichte dieses Grundrechts zu beurteilen war. Das Bundesgericht erachtete es zunächst generell als unbedenklich, wenn der öffentlichrechtliche Arbeitgeber im Rahmen der gesetzlichen Regelung des Dienstverhältnisses Vorschriften über den Wohnsitz der Beamten aufstellt. Es sprächen hierfür, über rein dienstliche Erfordernisse hinaus, eine Reihe sachlicher Gründe. Nach schweizerischer Auffassung sei nämlich eine gewisse Verbundenheit des Beamten mit der Bevölkerung und dem Gemeinwesen anzustreben, dessen Probleme der Beamte nicht nur aus amtlicher, sondern auch aus privater Sicht kennen sollte (BGE 103 Ia 455). In der Folge ging das Bundesgericht dazu über, die Wohnsitzpflicht an den Kriterien der dienstlichen Notwendigkeit und der Verbundenheit mit der Bevölkerung zu messen, wobei es zugleich rein fiskalische Gründe für eine Wohnsitzpflicht ausschloss (BGE 118 Ia 410 mit Hinweisen; vgl. auch BGE 120 Ia 203 E. 3a S. 205 mit Hinweisen). So wurde ein öffentliches Interesse an einer Residenzpflicht unter anderem bejaht für Beamte des Polizei- oder Feuerwehrkorps (BGE 103 Ia 455 E. 4a S. 457), für Lehrer (BGE 115 Ia 207; BGE 108 Ia 248), für den Chef einer kommunalen Einwohnerkontrolle (Urteil 2P.134/1991 vom 3. April 1992, auf welches in BGE 118 Ia 410 E. 2 verwiesen wird), für den Aufseher einer Strafanstalt (BGE 116 Ia 382) sowie für den Gerichtsschreiber an einem Bezirksgericht (Urteil P.388/1986 vom 27. März 1987), nicht dagegen etwa bei einem Ambulanzfahrer (BGE 118 Ia 410).
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Ist die Wohnsitzpflicht für eine bestimmte Kategorie Bediensteter grundsätzlich gerechtfertigt, so kann das Grundrecht der Niederlassungsfreiheit immer auch noch im konkreten Fall seine Wirkung entfalten, indem überwiegende (objektive oder subjektive) Gründe nach dem Verhältnismässigkeitsprinzip eine Ausnahme erfordern (BGE 118 Ia 410 E. 2 S. 412; BGE 115 Ia 207 E. 3c S. 211, je mit Hinweisen; siehe zum Ganzen: JÖRG PAUL MÜLLER, Grundrechte in der Schweiz, 3. Aufl., Bern 1999, S. 162 ff.).
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In jüngsten Entscheiden erhielt das Bundesgericht Gelegenheit klarzustellen, dass von Beamten, die eine besonders wichtige, leitende Stellung ausüben, eine erhöhte Disponibilität gegenüber dem Arbeitgeber verlangt werden kann (verneint etwa für die Leiterin einer Fakultätsbibliothek: Urteil 2P.113/1996 vom 9. September 1996). Im Zusammenhang mit der Wahl eines Berner Regierungsstatthalters - die Wahl war in Missachtung der Wohnsitzpflicht erfolgt und wurde vom Bundesgericht auf staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung des Stimmrechts hin aufgehoben - erachtete das Bundesgericht die Wohnsitzpflicht nicht nur wegen dienstlicher Erfordernisse als sachlich gerechtfertigt, sondern auch deshalb, weil bei einem solchen Amt eine enge Verbundenheit mit dem betreffenden Gemeinwesen vorausgesetzt werden kann (BGE 128 I 34).
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4.3 Der Kanton Appenzell I.Rh. hat die Beurkundungstätigkeit verschiedenen Behörden und Personen zugewiesen. Für bestimmte Rechtsgeschäfte kommen zugelassene Anwälte in Betracht, wenn sie im Kanton Appenzell I.Rh. Wohnsitz haben. Dieses Erfordernis kann nicht schon deshalb als unvereinbar mit der Niederlassungsfreiheit qualifiziert werden, weil der Anwalt, dem die Urkundsbefugnis für bestimmte Rechtsgeschäfte übertragen ist, freiberuflich tätig ist. Von Bedeutung ist vielmehr, dass die Urkundsperson im Rahmen der freiwilligen bzw. nichtstreitigen Gerichtsbarkeit eine hoheitliche Tätigkeit ausübt. Die Urkundsperson übt die ihr übertragene Funktion, anders als dies für zahlreiche Bedienstete des Gemeinwesens zutrifft, in eigener Verantwortung aus, ohne dass sie der Weisungsbefugnis einer vorgesetzten Behörde unterläge. Insofern - weitgehende Unabhängigkeit in der Ausübung der hoheitlichen Tätigkeit - ist die Tätigkeit vergleichbar mit richterlichen Funktionen oder hohen politischen Ämtern und leitenden Funktionen, für welche nicht ernsthaft bestritten werden kann, dass ein Gemeinwesen berechtigt ist, sie den eigenen Angehörigen vorzubehalten (REGINA KIENER, Richterliche Unabhängigkeit, Bern 2001, S. 268; HANGARTNER/KLEY, Die demokratischen Rechte in Bund und Kantonen der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Zürich 2000, S. 628, Rz. 1576). Im Kern kommt hier der demokratische Grundgedanke zum Ausdruck, wonach die Staatsgewalt durch die Staatsunterworfenen selber ausgeübt wird. Auf diese Überzeugung ist auch zurückzuführen, dass in neueren Erlassen und Abkommen Tätigkeiten, die mit der Ausübung hoheitlicher Befugnisse verbunden sind, von den allgemeinen Freizügigkeitsgarantien, die im Übrigen auch für das öffentliche Dienstrecht gelten, ausgenommen sind (vgl. oben E. 3).
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Im schweizerischen Bundesstaat kommt Staatlichkeit auch den Kantonen zu. Wohl kann die Niederlassungsfreiheit als Grundrecht der Bundesverfassung gebieten, die Wohnsitzpflicht im öffentlichen Dienstrecht nicht allzu starr auszugestalten. Es mag auch sein, dass für bestimmte Kategorien von Bediensteten des Gemeinwesens, für welche in der Vergangenheit die Wohnsitzpflicht noch als vereinbar mit der Niederlassungsfreiheit betrachtet wurde, dies heute nicht mehr aufrechterhalten werden kann, namentlich, wo nicht eine eigentliche hoheitliche Tätigkeit vorliegt. Bei hoheitlichen Tätigkeiten, welche in grosser Unabhängigkeit ausgeübt werden, kann dem Gemeinwesen aber nicht verwehrt sein, an der Wohnsitzpflicht festzuhalten und solche Tätigkeiten nur Angehörigen des betroffenen Gemeinwesens zu übertragen. Mit Rücksicht auf die verfassungsmässige Kompetenzordnung im Bundesstaat ist es auch gerechtfertigt, dass das Bundesgericht in Grenzfällen eine gewisse Zurückhaltung gegenüber dem kantonalen Gesetzgeber übt, wenn es zu entscheiden hat, ob die getroffene Regelung mit der Niederlassungsfreiheit noch vereinbar ist (vgl. BGE 118 Ia 64 E. 2c S. 72 f. mit Hinweisen).
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4.4 Nach diesem Massstab verstösst die zitierte Regelung des Kantons Appenzell I.Rh. nicht gegen die Niederlassungsfreiheit. Mit der Begründung, die Beurkundungstätigkeit erfordere eine erhöhte Präsenz oder Disponibilität des Notars oder eine gewisse Verbundenheit mit der Bevölkerung, liesse sich zwar die Wohnsitzpflicht kaum rechtfertigen; ebenso wenig mit dem vom Kantonsgericht Appenzell I.Rh. vorgebrachten Argument, eine Urkundsperson müsse für eine sachgerechte Aufgabenerfüllung mit den kantonalen, historisch gewachsenen Strukturen vertraut sein. Hingegen fällt entscheidend ins Gewicht, dass die Urkundsperson, wie oben ausgeführt, als staatliches Organ eine hoheitliche (wenn auch nicht leitende) Funktion wahrnimmt und die ihr übertragene Tätigkeit weitgehend weisungsunabhängig ausübt. Die Übertragung derartiger Staatsgewalt liegt grundsätzlich in der Regelungskompetenz der Kantone. Zahlreiche Kantone sehen heute vom Wohnsitzerfordernis für freiberufliche Notare ab (vgl. BRÜCKNER, a.a.O., S. 975, Rz. 3456). Es ist aber mit der Bundesverfassung und namentlich mit der Niederlassungsfreiheit auch vereinbar, wenn ein Kanton, wie vorliegend der Kanton Appenzell I.Rh., die hoheitliche Beurkundungsbefugnis Personen mit Wohnsitz im Kanton vorbehält.
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4.5 Überwiegende Gründe, die im konkreten Fall eine Ausnahme von der Wohnsitzpflicht gebieten würden, werden nicht namhaft gemacht. Sie ergeben sich insbesondere nicht schon daraus, dass der Beschwerdeführer nahe der innerrhodischen Grenze wohnhaft ist. Das wäre allenfalls bedeutsam, wenn es aus Gründen der korrekten Amtsführung auf die örtliche Nähe ankäme, was vorliegend jedoch nicht zutrifft. Die geltend gemachten persönlichen Annehmlichkeiten, wenn der Beschwerdeführer seinen Wohnsitz nicht wechseln müsste, vermögen das Interesse an der Wohnsitzpflicht nicht aufzuwiegen und lassen diese nicht als unverhältnismässig erscheinen.
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