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Informationen zum Dokument  BGE 130 I 180 - Obhutszuweisung  Materielle Begründung
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Zitiert durch:
BGE 132 I 201 - Anwaltstarif Aargau

Zitiert selbst:
BGE 128 I 225 - Klinik Rheinau

Regeste
Sachverhalt
Aus den Erwägungen:
Erwägung 2
Erwägung 3
Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: DFR-Server, A. Tschentscher  
 
16. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung i.S. X. gegen Obergericht des Kantons Aargau (staatsrechtliche Beschwerde)
 
 
5P.182/2004 vom 1. Juli 2004
 
 
Regeste
 
Unentgeltliche Rechtsverbeiständung (Art. 29 Abs. 3 BV).  
 
Sachverhalt
 
BGE 130 I, 180 (181)A. Mit Eingabe vom 24. März 2003 liess X., Mutter der Tochter Y., bei der Vormundschaftsbehörde A. das Begehren stellen, es sei die ihr am 3. Dezember 2001 entzogene elterliche Obhut über das bei Z., ihrer Schwester, platzierte Kind wieder auf sie zu übertragen. Gleichzeitig stellte sie das Gesuch, ihr im eingeleiteten Verfahren die unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren und ihren Anwalt zum unentgeltlichen Rechtsvertreter zu bestellen.
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Die Vormundschaftsbehörde A. beschloss am 16. Juni 2003, auf das Armenrechtsgesuch nicht einzutreten mit der Begründung, im Verfahren vor den Vormundschaftsbehörden sei das Institut der unentgeltlichen Rechtspflege nicht vorgesehen.
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Am 6. Januar 2004 wies das Bezirksamt Baden die von X. gegen den vormundschaftsbehördlichen Beschluss vom 16. Juni 2003 eingereichte Beschwerde ab.
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B. X. erhob Beschwerde an das Obergericht des Kantons Aargau (Kammer für Vormundschaftswesen als zweitinstanzliche vormundschaftliche Aufsichtsbehörde). Mit Entscheid vom 16. März 2004 änderte das Obergericht den Beschluss der Vormundschaftsbehörde vom 16. Juni 2003 von Amtes wegen dahin ab, dass das Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege und Bestellung eines unentgeltlichen Rechtsbeistandes abgewiesen werde. Im Übrigen wies es die Beschwerde wie auch das für das obergerichtliche Verfahren gestellte Armenrechtsgesuch ab.
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C. X. führt staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung von Art. 9 und 29 Abs. 3 BV, eventuell von Art. 6 EMRK, und verlangt, den Entscheid des Obergerichts aufzuheben; allenfalls sei ihr für das gesamte kantonale Verfahren die unentgeltliche Rechtspflege zu bewilligen.
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Aus den Erwägungen:
 
 
Erwägung 2
 
2.1 Die Beschwerdeführerin wirft dem Obergericht sowohl eine willkürliche Anwendung von § 35 Abs. 3 des Aargauer Verwaltungsrechtspflegegesetzes (wonach in Fällen, wo die Schwere einer Massnahme oder die Rechtslage es als gerechtfertigt erscheinen lässt, ein unentgeltlicher Rechtsvertreter bestellt werden kann) als BGE 130 I, 180 (182)auch einen Verstoss gegen Art. 29 Abs. 3 BV vor. Sie geht nicht davon aus, dass die unentgeltliche Rechtspflege nach dem kantonalen Recht unter leichteren Bedingungen gewährt werden könne, als es auf Grund der Verfassungsbestimmung der Fall ist. Die Beschwerde ist daher ausschliesslich unter dem Gesichtswinkel von Art. 29 Abs. 3 BV zu beurteilen, zumal in diesem Fall das Bundesgericht in rechtlicher Hinsicht frei prüfen kann, ob der Anspruch auf Gewährung des Armenrechts missachtet worden sei. Auf Willkür beschränkt ist die Prüfungsbefugnis indessen, soweit tatsächliche Feststellungen der kantonalen Instanz beanstandet werden (BGE 129 I 129 E. 2.1 S. 133 mit Hinweisen).
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Angesichts der obergerichtlichen Feststellung, das Verfahren vor der Vormundschaftsbehörde sei kostenfrei, ist das hiefür gestellte Armenrechtsgesuch der Beschwerdeführerin ausschliesslich bezüglich der unentgeltlichen Rechtsverbeiständung von Bedeutung. Ob eine solche sachlich notwendig ist, beurteilt sich nach den konkreten Umständen des Einzelfalles. Die Rechtsnatur des Verfahrens ist ohne Belang. Grundsätzlich fällt die unentgeltliche Verbeiständung für jedes staatliche Verfahren in Betracht, in das der Gesuchsteller einbezogen wird oder das zur Wahrung seiner Rechte notwendig ist (BGE 128 I 225 E. 2.3 S. 227 mit Hinweisen). Die bedürftige Partei hat Anspruch auf unentgeltliche Verbeiständung, wenn ihre Interessen in schwerwiegender Weise betroffen sind und der Fall in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht Schwierigkeiten bietet, die den Beizug eines Rechtsvertreters erforderlich machen. Droht das in Frage stehende Verfahren besonders stark in die Rechtsposition der betroffenen Person einzugreifen, ist die Bestellung eines unentgeltlichen Rechtsvertreters grundsätzlich geboten, sonst nur dann, wenn zur relativen Schwere des Falles besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten hinzukommen, denen der Gesuchsteller auf sich alleine gestellt nicht gewachsen wäre (BGE 128 I 225 E. 2.5.2 S. 232; BGE 125 V 32 E. 4b S. 35 f., mit Hinweisen).
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Erwägung 3
 
3.1 Die Notwendigkeit einer anwaltlichen Vertretung hat das Obergericht mit der Begründung verneint, das Verfahren vor der BGE 130 I, 180 (183)Vormundschaftsbehörde und den vormundschaftlichen Aufsichtsbehörden sei vergleichbar mit dem Verfahren vor den Betreibungs- und Konkursämtern und den betreibungsrechtlichen Aufsichtsbehörden. In beiden Fällen handle es sich um ein seiner Natur nach einfaches, von der Offizialmaxime beherrschtes Einparteienverfahren mit allenfalls weiteren Verfahrensbeteiligten. Für das Verfahren vor den Betreibungs- und Konkursämtern habe die unentgeltliche Rechtsvertretung stets ausser Frage gestanden und für das Beschwerdeverfahren sei festgestellt worden, dass ein strenger Massstab anzulegen und die Mitwirkung eines Rechtsanwalts in aller Regel nicht erforderlich sei. Das müsse für das Verfahren vor der Vormundschaftsbehörde um so mehr gelten, als diese, anders als eine obere Aufsichtsbehörde, nicht endgültig entscheide und zudem, wie auch die vormundschaftlichen Aufsichtsbehörden, im Rahmen der Offizialmaxime dafür zu sorgen habe, dass keinem Verfahrensbeteiligten wegen Unbeholfenheit Nachteile erwüchsen. Hinzu komme, dass der Entscheid einer Vormundschaftsbehörde durch die vormundschaftlichen Aufsichtsbehörden in deren Doppelfunktion als Aufsichts- und Beschwerdeinstanzen in einem Beschwerdeverfahren selbst bei Verwirkung der Beschwerdefrist und auch ausserhalb eines solchen Verfahrens von Amtes wegen aufgehoben werden könne, wenn er als Verstoss gegen eine klare Gesetzesvorschrift oder einen Rechtsgrundsatz im wohlverstandenen Interesse des Massnahmebedürftigen nicht hingenommen werden könnte.
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3.2 Die vom Obergericht erwähnte Untersuchungsmaxime und die von ihm angeführte Möglichkeit einer aufsichtsrechtlichen, von Amtes wegen anzuordnenden Aufhebung eines vormundschaftsbehördlichen Entscheids durch die Aufsichtsbehörden lassen eine anwaltliche Vertretung der am Verfahren Beteiligten nicht ohne weiteres als unnötig erscheinen (vgl. BGE 125 V 32 E. 4b S. 36): Das sachgerechte Anlegen eines jeden Verfahrens und dessen richtige Leitung erfordern von der Behörde eine umfassende Kenntnis der einschlägigen Rechtsfragen, geht es doch darum, die rechtserheblichen tatsächlichen Umstände einfliessen zu lassen. Die Erfahrung zeigt, dass ein schlecht begonnenes Verfahren später nur sehr schwer in die richtige Bahn zu bringen ist. Abgesehen davon, dass die Untersuchungsmaxime allfällige Fehlleistungen der Behörde nicht zu verhindern vermag, ist zu bedenken, dass sie nicht unbegrenzt ist. Sie verpflichtet die Behörde zwar, von sich aus alle Elemente in Betracht zu ziehen, die entscheidwesentlich sind, und unabhängig von BGE 130 I, 180 (184)den Anträgen der Parteien Beweise zu erheben. Diese Pflicht entbindet die Beteiligten indessen nicht davon, durch Hinweise zum Sachverhalt oder Bezeichnung von Beweisen am Verfahren mitzuwirken (dazu BGE 128 III 411 E. 3.2.1 und 3.2.2 S. 412 ff.). An der in BGE 111 Ia 5 (E. 4 S. 9 f.) unter Hinweis auf die umfassende Beschwerdemöglichkeit geäusserten Auffassung, für das Verfahren zur Entziehung der elterlichen Gewalt vor der erstinstanzlichen vormundschaftlichen Aufsichtsbehörde bestehe generell kein Anspruch auf unentgeltliche Verbeiständung, kann nicht festgehalten werden.
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3.3 Der angefochtene Entscheid lässt sich sodann auch durch die Rechtsprechung des Bundesgerichts zum Verfahren vor den Betreibungsbehörden und den betreibungsrechtlichen Aufsichtsbehörden nicht stützen: Wohl wurde in BGE 122 I 8 (E. 2c S. 10) - unter Hinweis auf den Untersuchungsgrundsatz - festgehalten, die Mitwirkung eines Rechtsanwalts sei in aller Regel nicht erforderlich. Doch ist zu bedenken, dass sich diese Äusserung ausdrücklich auf die Ermittlung des pfändbaren Einkommens des Schuldners bezog, bei der die Betreibungsbehörden die massgebenden tatsächlichen Verhältnisse von Amtes wegen abzuklären haben und sich in der Tat nur selten anspruchsvolle Rechts- oder Tatfragen stellen. Der Auffassung des Obergerichts, das Gleiche treffe auch hier zu und es liege somit kein Fall vor, der eine unentgeltliche Rechtsverbeiständung rechtfertige, ist nicht beizupflichten:
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3.3.1 Das Bezirksamt Baden, auf dessen Entscheid vom 6. Januar 2004 sich das Obergericht beruft, hatte festgehalten, die Beschwerdeführerin habe in dem an die Vormundschaftsbehörde zu richtenden Rechtsbegehren auf Obhutszuweisung an sie die wesentlichen Änderungen ihrer persönlichen Verhältnisse vorzubringen und darzutun, dass keine Gefährdung des Kindeswohls bestehe. Die Vormundschaftsbehörde werde dann die als Voraussetzung für die Aufhebung des Gemeinderatsbeschlusses vom 3. Dezember 2001 behaupteten Verhältnisse von Amtes wegen zu prüfen und abzuklären haben. Es bestünden keine Anhaltspunkte dafür, dass die Beschwerdeführerin den durch ein solches Rechtsbegehren an sie gestellten Anforderungen intellektuell nicht gewachsen oder im eingeleiteten Verfahren aus irgendeinem andern Grund überfordert sein könnte. Sodann ist dem Beschluss des Gemeinderats A. als Vormundschaftsbehörde vom 16. Juni 2003 zu entnehmen, dass der Beschwerdeführerin die elterliche Obhut wegen langjähriger instabiler BGE 130 I, 180 (185)Lebens- und Wohnsituation und wegen Drogenabhängigkeit entzogen worden war.
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3.3.2 Die Frage, ob die Obhut über das Mädchen wieder der Beschwerdeführerin zugewiesen werden könne, ist sehr heikel und vielschichtig. Ihre Beantwortung ist für die Beschwerdeführerin selbst - wie auch für das Kind und die Pflegemutter - von erheblicher Bedeutung. Der unter Berücksichtigung des Wohls des Kindes zu fällende Entscheid wird sehr stark in die persönliche Situation der Beschwerdeführerin als leiblicher Mutter eingreifen. Es ist für sie von grosser Wichtigkeit, dass im Verfahren die nach der Rechtsprechung entscheidwesentlichen Tatsachen vorgebracht und ins richtige Licht gerückt werden. Die bezirksamtliche Feststellung, die Beschwerdeführerin sei den Anforderungen, die das vor der Vormundschaftsbehörde hängige Verfahren an sie stelle, gewachsen, wird den gegebenen Umständen nicht gerecht. In Anbetracht der komplexen, von einem juristischen Laien nur sehr schwer überblickbaren Verhältnisse verbietet sich die Annahme, eine anwaltliche Vertretung sei für die Beschwerdeführerin nicht notwendig.
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