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Informationen zum Dokument  BGE 144 I 242  Materielle Begründung
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Regeste
Sachverhalt
Aus den Erwägungen:
1. Die Beschwerdeführerin kritisiert, der der Verurteilung z ...
Erwägung 1.2
2. Die Beschwerdeführerin rügt, als juristische Person  ...
3. Die Beschwerdeführerin wirft schliesslich die Frage auf,  ...
Erwägung 3.1
Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch)  
 
21. Auszug aus dem Urteil der Strafrechtlichen Abteilung i.S. X. GmbH gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Obwalden (Beschwerde in Strafsachen)
 
 
6B_252/2017 vom 20. Juni 2018
 
 
Regeste
 
Art. 6 OBG i.V.m. Art. 32 Abs. 1 und 35 Abs. 1 BV, Art. 6 Ziff. 2 EMRK; Unschuldsvermutung, nemo tenetur; Art. 6 OBG i.V.m. Art. 1, 102, 105 und 333 StGB, Art. 6 und 7 EMRK; Haltereigenschaft und Halterhaftung juristischer Personen für Übertretungen des Strassenverkehrsrechts; Legalitätsprinzip.  
 
Sachverhalt
 
BGE 144 I, 242 (243)A. Am 2. August 2014 überschritt der Lenker eines auf die X. GmbH zugelassenen Personenwagens die zulässige Höchstgeschwindigkeit innerorts um 14 km/h. Hierauf forderte die Kantonspolizei Obwalden die Firma als Fahrzeughalterin gestützt auf Art. 6 OBG zur Bezahlung einer Ordnungsbusse von Fr. 250.- auf. Nachdem die Firma mitgeteilt hatte, dass sie nicht wisse, wer das Fahrzeug geführt habe, verurteilte sie die zuständige Staatsanwaltschaft mit Strafbefehl vom 24. März 2015 im ordentlichen Verfahren zu einer Busse in vorgenannter Höhe. Auf Einsprache der X. GmbH hin sprach sie der Kantonsgerichtspräsident II Obwalden am 1. März 2016 der einfachen Verkehrsregelverletzung schuldig und auferlegte ihr eine Busse von Fr. 250.-. Die dagegen erhobene Berufung wies das Obergericht des Kantons Obwalden am 7. Februar 2017 ab.
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B. Mit Beschwerde in Strafsachen beantragt die X. GmbH, das obergerichtliche Urteil sei aufzuheben und sie sei von Schuld und Strafe freizusprechen.
2
BGE 144 I, 242 (244)C. Das Bundesgericht hat die Angelegenheit am 20. Juni 2018 in einer öffentlichen Sitzung beraten.
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Das Bundesgericht heisst die Beschwerde teilweise gut. Es hebt das Urteil des Obergerichts des Kantons Obwalden vom 7. Februar 2017 auf und spricht die Beschwerdeführerin frei. Das Bundesgericht weist die Sache zur Neufestsetzung der Kosten und der Entschädigung an das Obergericht zurück. Im Übrigen weist es die Beschwerde ab, soweit es darauf eintritt.
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Aus den Erwägungen:
 
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1.1 Ist nicht bekannt, wer eine Widerhandlung begangen hat, so wird die Busse dem im Fahrzeugausweis eingetragenen Fahrzeughalter auferlegt (Art. 6 Abs. 1 OBG). Dem Halter wird die Busse schriftlich eröffnet. Er kann sie innert 30 Tagen bezahlen (Art. 6 Abs. 2 OBG). Bezahlt er die Busse nicht fristgerecht, so wird das ordentliche Strafverfahren eingeleitet (Art. 6 Abs. 3 OBG). Nennt der Halter Name und Adresse des Fahrzeugführers, der zum Zeitpunkt der Widerhandlung das Fahrzeug geführt hat, so wird gegen diesen das Verfahren nach den Absätzen 2 und 3 eingeleitet (Art. 6 Abs. 4 OBG). Kann mit verhältnismässigem Aufwand nicht festgestellt werden, wer der Fahrzeugführer ist, so ist die Busse vom Halter zu bezahlen, es sei denn, er macht im ordentlichen Strafverfahren glaubhaft, dass das Fahrzeug gegen seinen Willen benutzt wurde und er dies trotz entsprechender Sorgfalt nicht verhindern konnte (Art. 6 Abs. 5 OBG).
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Erwägung 1.2
 
1.2.1 Die Unschuldsvermutung ist in Art. 32 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 2 EMRK verankert. Demnach ist es als Regel für die Verteilung der Beweislast Sache der Strafverfolgungsbehörden, dem Beschuldigten seine Täterschaft nachzuweisen. Obwohl in der Konvention nicht eigens erwähnt, gehört das Recht zu schweigen und BGE 144 I, 242 (245)sich nicht selbst zu belasten zum allgemein anerkannten internationalen Standard eines fairen Verfahrens im Sinne von Art. 6 EMRK. Das Recht soll den Beschuldigten vor Pressionen schützen und hängt mit der Unschuldsvermutung zusammen. Die Anklage soll gezwungen sein, die notwendigen Beweise ohne Rückgriff auf Beweismittel zu erbringen, die gegen den Willen des Beschuldigten durch ungerechtfertigten Zwang erlangt wurden (MEYER-LADEWIG/HARRENDORF/KÖNIG, in: EMRK, Handkommentar, Meyer-Ladewig und andere [Hrsg.], 4. Aufl. 2017, N. 131 zu Art. 6 EMRK). Das Recht zu schweigen ist indes kein absolutes Recht. Es ist im Rahmen des Verhältnismässigen beschränkbar, solange sein Wesensgehalt intakt bleibt (FRANK MEYER, in: Konvention zum Schutz der Menschenrechte [...], Kommentar, Karpenstein/Mayer [Hrsg.], 2. Aufl. 2015, N. 130 zu Art. 6 EMRK).
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In der Sache O'Halloran und Francis gegen Grossbritannien (Urteil vom 29. Juni 2007 [Grosse Kammer], Nr. 15809 und Nr. 25624/02; Zusammenfassung der Rechtsprechung, insb. § 53; teilweise publ. in: forumpoenale 1/2008 S. 2 mit Bemerkungen von WOLFGANG WOHLERS) führte der EGMR aus, die unter Strafandrohung erfolgte Aufforderung an einen Fahrzeughalter, die Person zu nennen, die das Fahrzeug während der Geschwindigkeitsüberschreitung gelenkt hatte, verstosse nicht gegen das Recht, zu schweigen und sich nicht selbst zu belasten. Der Gerichtshof wies darauf hin, dass sich jeder Halter oder Lenker eines Motorfahrzeugs der Strassenverkehrsgesetzgebung unterwirft (Urteil 6B_439/2010 vom 29. Juni 2010 E. 5.3).
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In der Sache Falk gegen Niederlande (Urteil vom 19. Oktober 2004, Nr. 66273/01) hatte der EGMR über eine Art. 6 OBG sehr ähnliche BGE 144 I, 242 (246)Bestimmung und deren Vereinbarkeit mit Art. 6 EMRK zu befinden. Gemäss der niederländischen Gesetzgebung wird bei Strassenverkehrsdelikten, in welche ein registriertes Fahrzeug verwickelt ist, wenn der zeitaktuelle Lenker nicht identifiziert werden kann, die Busse gegen den Besitzer resp. Halter des Fahrzeugs ausgesprochen. Dieser wird quasi kausal für die mit seinem Fahrzeug begangenen Strassenverkehrsdelikte haftbar gemacht, soweit er nicht beweist, dass das Fahrzeug gegen seinen Willen von einer Drittperson benutzt wurde. Die Gesetzgebung sieht Bussen bis zu EUR 340.- vor und findet nur auf leichtere Widerhandlungen Anwendung, wobei keine Personen- oder Sachschäden verursacht worden sein dürfen. Der EGMR erwog, dass Tatsachen- und Rechtsvermutungen nicht von vornherein durch die EMRK ausgeschlossen würden, solange die Vertragsstaaten innerhalb vernünftiger Grenzen blieben. Hierbei hätten sie die Bedeutung des verfolgten Anliegens zu berücksichtigen und die Rechte der Verteidigung zu bewahren. Die Mittel müssten in einem vernünftigen Verhältnis zum Zweck stehen, das heisst der Grundsatz der Verhältnismässigkeit müsse gewahrt sein. Der Gerichtshof kam zum Schluss, dass die niederländische Bestimmung mit Art. 6 EMRK vereinbar sei und die Unschuldsvermutung nicht verletze.
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1.2.3 Gemäss der neueren bundesgerichtlichen und konventionsrechtlichen Rechtsprechung ergeben sich somit für Halter und Lenker von Motorfahrzeugen aus ihrer Akzeptanz der Strassenverkehrsgesetzgebung sowie der Fahrberechtigung gewisse Obliegenheiten. Darunter fallen neben Verhaltenspflichten vielfältige Auskunftspflichten gegenüber den Behörden. Weigert sich der Halter oder Lenker, kann er dazu nicht gezwungen werden. Er muss aber trotzdem die Konsequenzen tragen. Die Behörden haben den Sachverhalt abzuklären und gesetzmässig in einem fairen Verfahren zu entscheiden. Verzichtet der Betroffene auf jegliche Mitwirkung, begibt er sich der Möglichkeit, auf das Verfahren einzuwirken und seine Interessen aktiv wahrzunehmen. Dies kann aber die Behörden nicht an ihrer gesetzlichen Aufgabe hindern. Zu prüfen ist dann insoweit nur noch, ob sie wirksame Verteidigungsmöglichkeiten gewährt und das Beweismaterial gesetzmässig verwendet haben (zum Ganzen: Urteil 6B_439/2010 vom 29. Juni 2010 E. 5.3, 5.6 mit Hinweisen).
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1.3 Die Beschwerdeführerin bestreitet weder die Vereinbarkeit der niederländischen Halterhaftung mit Art. 6 EMRK (vgl. oben E. 1.2.2) BGE 144 I, 242 (247)noch deren Ähnlichkeit mit der schweizerischen Regelung. Sie weist im Gegenteil darauf hin, "dass der Text von Art. 6 OBG praktisch wörtlich" mit den niederländischen Gesetzesbestimmungen übereinstimmt. Was sie dennoch gegen die EMRK-Konformität von Art. 6 OBG vorbringt, überzeugt nicht.
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1.3.1 Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin ist kein wesentlicher Unterschied zum niederländischen Recht darin zu erblicken, dass die Halterhaftung nach jenem Recht nur anwendbar sein soll, wenn die Polizei keine Möglichkeit hatte, selber vor Ort den Lenker zu eruieren. Solches ergibt sich aus dem von ihr ins Recht gelegten Entscheid des EGMR keineswegs. Darin ist vielmehr davon die Rede, dass die Halterhaftung - analog zur schweizerischen Gesetzgebung - zur Anwendung kommen soll, wenn die Identität des Fahrers nicht ermittelt werden kann. Die Möglichkeit der Bussenauflage an den Fahrzeughalter gemäss Art. 6 Abs. 1 OBG geht somit nicht weiter als diejenige gemäss der niederländischen Regelung, indem sie allgemein voraussetzt, dass der Lenker nicht bekannt ist. Es ist vielmehr offensichtlich, dass die Halterhaftung bei beiden Bestimmungen übereinstimmt und nach dem Willen des Gesetzgebers dann gelten soll, wenn der Täter nicht identifiziert werden kann, unbesehen des konkreten Grundes. Daran ändert auch nichts, dass die ursprüngliche Gesetzesfassung von Art. 6 OBG die Halterhaftung vorsah, wenn der Lenker nicht durch Anhalten vor Ort ermittelt werden konnte (vgl. Botschaft vom 20. Oktober 2010 zu Via sicura, Handlungsprogramm des Bundes für mehr Sicherheit im Strassenverkehr [nachfolgend: Botschaft], BBl 2010 8486 f. Ziff. 1.3.2.26). Es ist nicht ersichtlich, dass damit eine gegenüber der nun Gesetz gewordenen Regelung einschränkende Anwendung des Prinzips der Halterhaftung beabsichtigt gewesen wäre.
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Sodann ist unbestritten, dass sich der Fahrzeughalter gemäss Art. 6 Abs. 4 OBG - zusätzlich zu den Missbrauchsfällen nach Abs. 5 der Bestimmung - einer Bussenzahlung auch dadurch entziehen kann, dass er Namen und Adresse des Fahrzeugführers nennt. Die Beschwerdeführerin verkennt mit ihren Einwänden, dass der von Art. 6 OBG vorgesehene Schutz der Fahrzeughalterrechte gar über denjenigen der niederländischen Regelung hinausgeht. Entgegen ihrer Auffassung ist die Bekanntgabe des Fahrers für den Fahrzeughalter auch nicht mit unverhältnismässigem Aufwand verbunden. Ihm ist zuzumuten, die Identität dessen zu kennen, dem er sein Fahrzeug BGE 144 I, 242 (248)anvertraut. Dies gilt ebenso für juristische Personen. Es entspricht denn auch dem Willen des Gesetzgebers, die Verantwortung des Fahrzeughalters zu stärken und die Behörden von aufwändiger, unverhältnismässiger Ermittlungsarbeit im Bereich ausgesprochener Bagatelldelikte, wie sie im Ordnungsbussenverfahren beurteilt werden, zu entlasten (Botschaft, a.a.O., S. 8486 f.). Im Übrigen zeigt die Beschwerdeführerin nicht auf und ist nicht ersichtlich, weshalb die Nennung des Fahrers für sie konkret unzumutbar oder objektiv unmöglich gewesen sein soll.
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Der Einwand der Beschwerdeführerin, wonach Art. 6 OBG deshalb gegen Konventionsrecht verstossen soll, weil er im Unterschied zum niederländischen Recht die Möglichkeit vorsehe, das ordentliche Verfahren zu wählen, ist nicht nachvollziehbar. Wäre dem so, ginge die schweizerische Regelung (Art. 6 Abs. 3 OBG) mit Blick auf die Wahrung elementarer Verfahrensrechte der beschuldigten Person ebenfalls über die niederländische Regelung hinaus. Sie würde damit erst recht nicht gegen Art. 6 EMRK verstossen (vgl. oben E. 1.2.3).
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1.3.2 Aus dem Urteil des EGMR in Sachen Krumpholz gegen Österreich (Nr. 13201/05) vom 18. März 2010 kann die Beschwerdeführerin nichts zu ihren Gunsten ableiten. Die diesem Entscheid zugrunde liegende Konstellation ist mit der vorliegenden nicht vergleichbar. Zunächst sah das österreichische Recht eine Halterhaftung gar nicht vor. Sodann hat sich der EGMR in jenem Entscheid zur Haftung des Halters für Verfehlungen eines unbekannten Fahrers nicht geäussert. Entgegen der Behauptung der Beschwerdeführerin erblickte der Gerichtshof einen Verstoss gegen die Unschuldsvermutung ferner nicht darin, dass ein Schuldspruch ergangen wäre, weil der als Fahrzeughalter registrierte Beschuldigte den tatsächlichen Fahrzeuglenker nicht nennen konnte oder wollte. Der EGMR erwog vielmehr, es verletze die Unschuldsvermutung, wenn das Gericht allein aus der Haltereigenschaft des Beschuldigten auf dessen Fahrereigenschaft in einem bestimmten Zeitpunkt schliesse, obwohl dieser behauptet hatte, er sei zur fraglichen Zeit ausser Landes gewesen und das Auto werde regelmässig von mehreren Personen benutzt. Unter diesen Umständen sei es, so der EGMR, nicht die einzig logische Erklärung, dass der Beschuldigte als eingetragener Halter des Fahrzeugs dieses auch gefahren haben müsse. Daher sei die Unschuldsvermutung verletzt, wenn das Gericht solches annehme.
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1.3.3 Soweit die Beschwerdeführerin schliesslich einwendet, die schweizerische Regelung widerspreche anders als die vom EGMR BGE 144 I, 242 (249)bisher beurteilten Fälle übergeordnetem innerstaatlichem Recht und verstosse deshalb gegen die EMRK, so verkennt sie in grundsätzlicher Weise, dass der Schutz gemäss Art. 32 Abs. 1 BV nicht über denjenigen nach Art. 6 EMRK hinausgeht (vgl. MÜLLER/SCHEFER, Grundrechte in der Schweiz, 4. Aufl. 2008, S. 980 ff.). Sie legt zudem nicht dar, worin die geltend gemachte Verletzung der Bundesverfassung konkret bestehen resp. inwieweit der Schutzgehalt von Art. 32 BV über den von Art. 6 EMRK garantierten Schutz hinausgehen soll. Die Beschwerdeführerin kommt insofern ihrer qualifizierten Begründungspflicht nicht nach, sodass auf ihre Rüge nicht einzutreten ist (Art. 106 Abs. 2 BGG).
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Den Einwänden der Beschwerdeführerin kann nicht gefolgt werden. Es ist unbestritten, dass sie zum Tatzeitpunkt als Halterin des Personenwagens, womit die Geschwindigkeitsübertretung begangen wurde, eingetragen war. Damit sind die Haftungsvoraussetzungen gemäss Art. 6 OBG grundsätzlich erfüllt. Wie die Vorinstanz zutreffend erwägt, kommt es hierfür allein auf die formelle Haltereigenschaft, nicht den materiellen Halterbegriff an (vgl. Botschaft, a.a.O., S. 8517 zu Art. 6 Abs. 2, sowie Urteil 6B_432/2017 vom 22. November 2017 E. 2.2 mit Hinweis). Davon geht auch die Lehre aus (YVAN JEANNERET, Via sicura: le nouvel arsenal pénal, Strassenverkehr 2/2013 S. 31 ff., 51 Fn. 202 mit Hinweis; STEFAN MAEDER, Sicherheit durch Gebühren?, Zur neuen Halterhaftung für Ordnungsbussen nach Art. 6 OBG, AJP 2014 5/2014 S. 679 ff., 683 f.; FLORENCE M. ROBERT, Werkstattgespräche - Die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Motorfahrzeughalters, Strassenverkehr 2/2014 S. 33 ff., 35 mit Hinweis; WOLFGANG WOHLERS, Die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Fahrzeughalters, Strassenverkehr 1/2015 S. 5 ff., 12; PHILIPPE WEISSENBERGER, Kommentar Strassenverkehrsgesetz und Ordnungsbussengesetz, 2. Aufl. 2015, N. 2 f., 6 und 8 f. zu Art. 6 OBG; wohl gl. M. JÜRG BOLL, Verkehrsstrafrecht nach der Via Sicura, Strassenverkehr 4/2014 S. 5 ff., 13 f.). Es ist daherBGE 144 I, 242 (250)unerheblich, ob die Beschwerdeführerin oder ihr Geschäftsführer materiell Halter des gefahrenen Fahrzeugs waren. Entgegen ihrer Auffassung kommen zudem auch juristische Personen als Halter eines Motorfahrzeuges im Sinne von Art. 6 OBG in Frage (vgl. THOMAS PROBST, in: Basler Kommentar, Strassenverkehrsgesetz, 2014, N. 228 zu Art. 58 SVG mit Hinweisen; SCHAFFHAUSER/ZELLWEGER, Grundriss des schweizerischen Strassenverkehrsrechts, Bd. II, 1988, N. 868; RENÉ SCHAFFHAUSER, Grundriss des schweizerischen Strassenverkehrsrechts, Bd. I, 2. Aufl. 2002, N. 247; zum Ganzen: Urteil 6B_1007/2016 vom 10. Mai 2017 E. 1.4). Das OBG sieht mithin die Möglichkeit der Haltereigenschaft juristischer Personen zweifelsfrei vor. Zu keinem anderen Ergebnis führt, dass die Beschwerdeführerin als juristische Person persönlich kein Fahrzeug führen kann.
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Erwägung 3.1
 
3.1.1 Wird in einem Unternehmen in Ausübung geschäftlicher Verrichtung im Rahmen des Unternehmenszwecks ein Verbrechen oder Vergehen begangen und kann diese Tat wegen mangelhafter Organisation des Unternehmens keiner bestimmten natürlichen Person zugerechnet werden, so wird das Verbrechen oder Vergehen dem Unternehmen zugerechnet (Art. 102 Abs. 1 erster Satz StGB). Gemäss Art. 105 StGB sind die Bestimmungen über die Verantwortlichkeit des Unternehmens (Art. 102) bei Übertretungen nicht anwendbar. Da juristische Personen nach gefestigter bundesgerichtlicher Rechtsprechung nicht deliktsfähig sind, sofern nicht ein Bundesgesetz oder kantonales Recht dies ausdrücklich vorsehen (BGE 105 IV 173 E. 3 S. 175; BGE 97 IV 203), haften juristische Personen im Bereich von Übertretungen somit nur gestützt auf eine ausdrückliche gesetzliche Grundlage. Solche sehen etwa Art. 7 des Bundesgesetzes vom 22. März 1974 über das Verwaltungsstrafrecht (VStrR; SR 313.0), der auf dieses Gesetz verweisende Art. 26 des Bundesgesetzes vom 19. Dezember 1986 gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG; SR 241) und Art. 181 des Bundesgesetzes vom 14. Dezember 1990 über die direkte Bundessteuer (DBG; SR 642.11) vor.BGE 144 I, 242 (251)Derartige Regelungen gehen als Spezialnormen den allgemeinen Bestimmungen des StGB zur Verantwortlichkeit von Unternehmen vor (vgl. BGE 135 II 86 E. 4.1).
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Das Gesetz ist in erster Linie aus sich selbst heraus auszulegen, das heisst, nach dem Wortlaut, Sinn und Zweck und den ihm zugrunde liegenden Wertungen auf der Basis einer teleologischen Verständnismethode. Die Gesetzesauslegung hat sich vom Gedanken leiten zu lassen, dass nicht schon der Wortlaut die Norm darstellt, sondern erst das an Sachverhalten verstandene und konkretisierte Gesetz. Gefordert ist die sachlich richtige Entscheidung im normativen Gefüge, ausgerichtet auf ein befriedigendes Ergebnis der ratio legis. Dabei befolgt das Bundesgericht einen pragmatischen Methodenpluralismus und lehnt es namentlich ab, die einzelnen Auslegungselemente einer hierarchischen Prioritätsordnung zu unterstellen. Die Gesetzesmaterialien sind zwar nicht unmittelbar entscheidend, BGE 144 I, 242 (252)dienen aber als Hilfsmittel, um den Sinn der Norm zu erkennen. Bei der Auslegung neuerer Bestimmungen kommt den Materialien eine besondere Stellung zu, weil veränderte Umstände oder ein gewandeltes Rechtsverständnis eine andere Lösung weniger nahelegen (BGE 142 IV 401 E. 3.3, BGE 142 IV 1 E. 2.4.1; BGE 141 III 195 E. 2.4; je mit Hinweisen; Urteil 6B_1007/2016 vom 10. Mai 2017 E. 1.3.2 f. mit Hinweisen).
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Gemäss Ausführungen in der Botschaft zu Via sicura bezweckte der Bundesrat explizit, auch juristische Personen als Fahrzeughalter für geringfügige Verstösse gegen die Strassenverkehrsordnung in die Pflicht zu nehmen. Dadurch sollte unter anderem die Problematik gemildert werden, dass "viele Unternehmen oft nicht in der Lage oder nicht willens sind, der Polizei jene Person anzugeben, die das Fahrzeug zur fraglichen Zeit benutzte". Der für die Feststellung des tatsächlichen Fahrzeugführers in diesen Fällen erforderliche, im Verhältnis zu den Bussen unverhältnismässige Ermittlungsaufwand der Polizei soll nicht zulasten der Allgemeinheit gehen, sondern die Verantwortung der Fahrzeughalter gestärkt werden. Der Bundesrat war sich der mit der Neuerung einhergehenden Schmälerung der Fahrzeughalterrechte bewusst. Er nahm dies aber im Interesse einer ökonomischen Verwaltungs- und Prozessführung in Kauf, zumal die Einschränkung einen ausgesprochenen Bagatellbereich mit Ordnungsbussen bis maximal Fr. 300.- betrifft und die Auferlegung der Busse keinen Strafregistereintrag oder eine Administrativmassnahme zur Folge hat (Botschaft, a.a.O., S. 8486 f. Ziff. 1.3.2.26).
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3.2 Wie aus dem in Erwägung 2 vorstehend Gesagten erhellt, wollte der Bundesrat mit der Neuregelung von Art. 6 OBG im Rahmen der Via sicura auch juristische Personen als Fahrzeughalter für geringfügige Verstösse gegen die Strassenverkehrsordnung in die Pflicht nehmen. Dies entspricht auch der Auffassung der herrschenden Lehre (vgl. MAEDER/NIGGLI, in: Basler Kommentar, Strassenverkehrsgesetz, 2014, N. 36 zu Art. 102 SVG; MAEDER, a.a.O., S. 683 f.; BOLL, a.a.O., S. 13 f.; WOHLERS, a.a.O., S. 11 f.; verneinend dagegen BUSSY/RUSCONI/JEANNERET/KUHN/MIZEL/MÜLLER, in: Code suisse de la circulation routière, 4. Aufl. 2015, N. 1 zu Art. 6 OBG). Der Wortlaut von Art. 6 OBG (oben E. 1.1) sieht eine Verantwortlichkeit von Unternehmen für Übertretungsbussen hingegen nicht ausdrücklich vor. Aufgrund der Anwendbarkeit der allgemeinen Bestimmungen des Strafgesetzbuches, insbesondere von Art. 102 und Art. 105 StGB, im Strassenverkehrsrecht einschliesslich des OBG BGE 144 I, 242 (253)(dazu Art. 333 Abs. 1 StGB; Urteil 6B_366/2012 vom 17. Oktober 2012 E. 1.2) sowie mangels einer ausdrücklichen, davon abweichenden gesetzlichen Regelung kommt eine Verurteilung juristischer Personen für Übertretungen im Bereich des OBG nicht in Frage. Der auf Art. 6 OBG gestützte Schuldspruch zum Nachteil der Beschwerdeführerin verletzt das Legalitätsprinzip. Er ist aufzuheben.
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