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Informationen zum Dokument  BGE 110 II 1  Materielle Begründung
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Regeste
Sachverhalt
Aus den Erwägungen:
3. Die Beklagte wirft dem Kantonsgericht die Verletzung von Bunde ...
Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch)  
 
1. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 31. Januar 1984 i.S. Guyan und Christ AG gegen TIMON Vertriebsgesellschaft GmbH (Berufung)
 
 
Regeste
 
Art. 8 und Art. 9 Abs. 1 ZGB; erhöhte Beweiskraft öffentlicher Urkunden, tatsächlich Vermutung für die Richtigkeit des verurkundeten Inhalts.  
 
Sachverhalt
 
BGE 110 II, 1 (1)Die TIMON Vertriebsgesellschaft GmbH macht gegen die Guyan und Christ AG Forderungen aus Mäklervertrag geltend für die Vermittlung von Stockwerkeigentum an deutsche Käufer. Die Guyan und Christ AG beruft sich darauf, dass die Kaufverträge BGE 110 II, 1 (2)im Rahmen von öffentlich beurkundeten Rückabwicklungsverträgen nachträglich aufgehoben wurden. In diesen wird festgehalten, die rückwirkende Aufhebung erfolge, "weil die Käuferschaft gestützt auf Art. 20 ff. des Schweizerischen Obligationenrechts die Nichtigkeit wegen Verstosses gegen die guten Sitten sowie die Unverbindlichkeit wegen Übervorteilung, Täuschung und wesentlichen Irrtums" geltend mache; alles Vorwürfe, welche der TIMON anzulasten seien.
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Aus den Erwägungen:
 
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Das Kantonsgericht hat diese Argumentation mit der Begründung abgelehnt, Beweis erbringe eine öffentliche Urkunde nur insoweit, als sie eine Amtshandlung verkörpere oder Feststellungen wiedergebe, die bei Vornahme einer Amtshandlung gemacht worden seien. Gemäss Art. 37 der kantonalen Notariatsverordnung erkläre der Notar nur, die Urkunde enthalte den ihm mitgeteilten Parteiwillen. Ob dieser Parteiwille auch der tatsächliche sei oder bloss ein simulierter, müsse und könne der Notar nicht bezeugen, da es eben nur darauf ankomme, dass ihm ein Parteiwille mitgeteilt werde. Ebenso verhalte es sich mit Tatsachenbehauptungen, welche in die Urkunde aufgenommen würden. Die Rückabwicklungsverträge bezeugten nicht, dass die in ihnen enthaltenen Vorwürfe an die TIMON tatsächlich zuträfen. Die fraglichen Urkunden bestätigten nur, dass die Vertragsparteien diese Vorwürfe vor dem Notar erhoben hätten.
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a) Die Auslegung des Kantonsgerichts ist nicht zu beanstanden. Die verstärkte Beweiskraft im Sinne von Art. 9 Abs. 1 ZGB BGE 110 II, 1 (3)beschränkt sich in der Regel auf das von der Urkundsperson als richtig Bescheinigte. Ob die Behauptungen der Käufer bezüglich der Aufhebungsgründe inhaltlich richtig waren, konnte der Notar im vorliegenden Fall jedoch weder wissen noch bescheinigen. Er war einzig in der Lage festzustellen, dass die Käufer bzw. ihre Rechtsvertreter die entsprechenden Behauptungen geäussert hatten. Die Frage, ob sich die Käufer die erhöhte Beweiskraft in einem Verfahren mit den an den Rückabwicklungsverträgen beteiligten Parteien entgegenhalten lassen müssten, braucht nicht entschieden zu werden. Der Klägerin gegenüber, die an jenen Rechtsgeschäften nicht beteiligt war, kann sich die Beklagte jedenfalls nicht auf Art. 9 Abs. 1 ZGB berufen. Andernfalls wäre es möglich, die Regeln über die Führung des Beweises und die Verteilung der Beweislast durch die Art der Abfassung öffentlich beurkundeter Erklärungen zu Lasten einer Partei, die auf die Verurkundung keinen Einfluss nehmen konnte, beliebig zu verändern.
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Im übrigen wird entgegen der Behauptung der Beklagten in der Literatur mehrheitlich die Auffassung vertreten, verstärkte Beweiskraft im Sinne von Art. 9 Abs. 1 ZGB geniesse der Urkundeninhalt nur unter der Voraussetzung, dass die betreffende Tatsache von der Urkundsperson zu prüfen und sie in der Lage gewesen sei, Feststellungen dieser Art aufgrund eigener Wahrnehmung zuverlässig zu treffen (GULDENER, Grundzüge der freiwilligen Gerichtsbarkeit der Schweiz, S. 10 und 11; derselbe, Schweiz. Zivilprozessrecht, 3. Aufl., S. 333 Fussnote 5; KUMMER, N. 42 und 43 zu Art. 9 ZGB; R. BÜHLER, in ZBGR 63 (1982) S. 356). Auch im Kommentar GMÜR/HAFTER, auf den sich die Beklagte insbesondere beruft, wird darauf hingewiesen, dass nicht alles, was in der Urkunde steht, als verurkundet anzusehen sei, sondern nur der Inhalt, den zu bezeugen die Urkunde ihrer Natur nach bezwecke (N. 21b zu Art. 9 ZGB). Der Hinweis auf DESCHENAUX hilft der Beklagten ebenfalls nichts; denn auch dieser Autor teilt ihre Auffassung nicht, sondern stellt lediglich fest, die Frage sei umstritten (Schweiz. Privatrecht, Bd. II, S. 277/8). Schliesslich ist der Beklagten zwar zuzustimmen, dass eine kantonale Verfahrensvorschrift wie Art. 37 der Bündner Notariatsverordnung den Anwendungsbereich des Art. 9 Abs. 1 ZGB nicht zu beschränken vermag; dem kommt jedoch keine Bedeutung zu, weil die Anwendung dieser Bestimmung zu keinem andern Ergebnis führt als die richtige Auslegung von Art. 9 Abs. 1 ZGB.
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BGE 110 II, 1 (4)Die Rüge der Verletzung dieser Bundesrechtsnorm ist somit unbegründet.
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b) Für diesen Fall macht die Beklagte geltend, das Kantonsgericht habe nicht berücksichtigt, dass durch die öffentliche Beurkundung eine tatsächliche Vermutung für die Richtigkeit des verurkundeten Inhalts geschaffen werde; denn die notarielle Beurkundung halte - im Gegensatz zur einfachen Schriftlichkeit - von unrichtigen oder nicht ernst gemeinten Parteierklärungen ab.
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Die Beklagte, welche sich zur Stützung ihrer Vorbringen auf KUMMER (N. 44 zu Art. 9 ZGB) beruft, übersieht indessen, dass KUMMER für die Umschreibung des Begriffs der tatsächlichen Vermutung auf seine Kommentierung von Art. 8 ZGB verweist. Dort (N. 363 zu Art. 8 ZGB) legt er dar, die tatsächliche Vermutung sei immer nur eine Wahrscheinlichkeitsfolgerung, aus Erfahrung und Wissen gewonnen, die der Richter aufgrund der individuellen Gegebenheiten des konkreten Einzelfalles glaube ziehen zu können. Sie wirke sich nur in der Beweiswürdigung aus, weil eine bloss beweiswürdigende Tätigkeit das Abwägen sei, ob eine Sachbehauptung durch bewiesene umliegende Sachumstände so wahrscheinlich gemacht sei, dass sie sich zur richterlichen Überzeugung verdichte, weswegen denn auch die tatsächliche Vermutung schon blossem Gegenbeweis weiche und nicht durch den Beweis des Gegenteils widerlegt werden müsse wie die gesetzliche Vermutung. Es handelt sich demnach um eine Frage der Beweiswürdigung. Da diese aber mit der Berufung nicht angefochten werden kann (BGE 102 II 84 mit Hinweisen), ist auf die Rüge der Beklagten nicht einzutreten.
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