BGE 135 II 105 - Durchsetzungshaft | |||
| |||
Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: Philippe Dietschi | |||
11. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. Bundesamt für Migration gegen X. und Amt für Migration Basel-Landschaft (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) |
2C_643/2008 vom 29. Januar 2009 | |
Regeste |
Art. 5 Ziff. 1 lit. b und f EMRK, Art. 78 und 79 AuG; Verhältnismässigkeit einer ausländerrechtlichen Festhaltung über zwanzig Monate hinaus. | |
Sachverhalt | |
X. (geb. 1966) stammt aus Marokko. Er heiratete am 12. September 2002 eine Schweizer Bürgerin. Am 29. April 2004 wurde den Eheleuten das Getrenntleben gestattet, nachdem sie bereits zuvor den gemeinsamen Haushalt aufgehoben hatten. Am 30. Juni 2004 kam der gemeinsame Sohn Y. zur Welt, der unter der Obhut der Mutter steht. Das Amt für Migration des Kantons Basel-Landschaft lehnte es am 24. Februar 2005 ab, die Aufenthaltsbewilligung von X. zu verlängern, was das Bundesgericht auf Beschwerde hin am 20. Juli 2006 bestätigte.
| 1 |
Zur Sicherstellung des Wegweisungsvollzugs befand sich X. ab dem 8. November 2006 in Ausschaffungshaft. Diese Festhaltung wurde zweimal um je drei Monate verlängert. Ab dem 7. August 2007 versetzte das Amt für Migration Basel-Landschaft X. in Durchsetzungshaft. Am 2. Juli 2008 lehnte der Einzelrichter für Zwangsmassnahmen im Ausländerrecht am Kantonsgericht Basel-Landschaft eine weitere Verlängerung der Haft ab und liess X. frei.
| 2 |
Das Bundesamt für Migration ist am 9. September 2008 mit dem Antrag an das Bundesgericht gelangt, diesen Entscheid aufzuheben. Das Bundesgericht weist seine Beschwerde ab.
| 3 |
Aus den Erwägungen: | |
Erwägung 2 | |
2.1 Sowohl das Bundesamt für Migration als auch das Amt für Migration Basel-Landschaft und der Einzelrichter für Zwangsmassnahmen gehen davon aus, dass der Beschwerdegegner an sich die Voraussetzungen für eine weitere Verlängerung der Durchsetzungshaft erfüllt (vgl. Art. 78 Abs. 1 und 2 AuG [SR 142.20]): Er ist rechtskräftig aus der Schweiz weggewiesen worden, weigert sich jedoch nach wie vor, das Land zu verlassen, und kann zurzeit nur in seine Heimat verbracht werden, falls er bereit ist, freiwillig dorthin zurückzukehren, da (im Moment) keine Sonderflüge nach Marokko durchgeführt werden können. Umstritten ist, ob der Einzelrichter für Zwangsmassnahmen davon ausgehen durfte, dass eine weitere Verlängerung der Festhaltung mit Blick auf die Umstände unverhältnismässig gewesen wäre. Die Frage ist entgegen den Ausführungen des Bundesamts zu bejahen, auch wenn in der Regel die Weigerung zu kooperieren für sich allein die Durchsetzungshaft bzw. deren allfällige Verlängerung nicht bereits als unverhältnismässig erscheinen lässt, da es sich dabei um eine Haftvoraussetzung handelt (vgl. BGE 134 I 92 E. 2.3; BGE 134 II 201 E. 2.2.4 S. 205).
| 4 |
Erwägung 2.2 | |
5 | |
2.2.2 Bei dieser Beurteilung ist dem Verhalten des Betroffenen, den die Papierbeschaffung allenfalls erschwerenden objektiven Umständen (ehemalige Bürgerkriegsregion usw.) sowie dem Umfang der von den Behörden bereits getroffenen Abklärungen Rechnung zu tragen und zu berücksichtigen, wieweit der Ausländer es tatsächlich in der Hand hat, die Festhaltung zu beenden, indem er seiner Mitwirkungs- bzw. Ausreisepflicht nachkommt (BGE 134 I 92 E. 2.3.2 S. 97). Von Bedeutung können zudem seine familiären Verhältnisse sein sowie der Umstand, dass er allenfalls wegen seines Alters, Geschlechts oder Gesundheitszustands als "besonders schutzbedürftig" gelten muss (vgl. BGE 134 II 201 E. 2.2.3 S. 205). Das mutmassliche künftige Verhalten des Betroffenen ist jeweils aufgrund sämtlicher Umstände abzuschätzen; dabei kommt dem Haftrichter wegen der Unmittelbarkeit seiner Kontakte mit dem Betroffenen ein gewisser Beurteilungsspielraum zu. Ein erklärtes konsequent unkooperatives Verhalten bildet in diesem Rahmen nur einen - allenfalls aber gewichtigen - Gesichtspunkt unter mehreren (BGE 134 II 201 E. 2.2.4; BGE 134 I 92 E. 2.3.2 S. 97). Je länger die ausländerrechtlich motivierte Festhaltung dauert und je weniger die Ausschaffung absehbar erscheint, desto strengere Anforderungen sind an die fortbestehende Hängigkeit des Ausweisungsverfahrens im Sinne von Art. 5 Ziff. 1 lit. f EMRK zu stellen und desto kritischer ist die jeweilige Haftverlängerung zu hinterfragen (BGE 134 II 201 E. 2.2.5 S. 206).
| 6 |
Erwägung 2.3 | |
7 | |
2.3.2 Der vorliegende Fall kann nicht mit dem in BGE 134 II 201 ff. beurteilten Sachverhalt verglichen werden: Dort befand sich der Betroffene "erst" seit dreizehn Monaten ausländerrechtlich in Haft; zudem hatte er keinerlei Beziehungen zur Schweiz und war er hier straffällig geworden. Unmittelbar vor seiner Festhaltung musste er an dem ihm zugewiesenen Aufenthaltsort wegen einer Tätlichkeit angehalten werden. Gestützt hierauf konnte nicht mit einer hinreichenden Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden, dass er sich während der verbleibenden möglichen Maximalzeit doch noch eines Bessern besinnen und sich bereit erklären würde, das Land zu verlassen. Der Beschwerdegegner hat in der Schweiz einen Bruder, bei dem er wohnen und der ihn unterstützen kann; offenbar ist er inzwischen auch am 21. Januar 2008 vom Vorwurf der versuchten Nötigung und Beschimpfung freigesprochen worden. Seit der Haftentlassung nimmt er das ihm eingeräumte Besuchsrecht zu seinem Sohn regelmässig wahr. Sollte das gestützt hierauf von ihm eingeleitete bewilligungsrechtliche Wiedererwägungsverfahren ohne Erfolg bleiben, wird er für die restlichen vier Monate ausländerrechtlicher Haft erneut festgehalten werden können, falls sich die Verhältnisse derart verändern sollten, dass seine Ausschaffung nach Marokko vernünftigerweise wieder absehbar erscheint. In der Zwischenzeit wäre seine Anwesenheit illegal und könnte zu strafrechtlichen Sanktionen führen (vgl. Art. 115 AuG; BGE 135 IV 6); ausländerrechtlich bleibt gegebenenfalls seine Aus- oder Eingrenzung zulässig (vgl. Art. 74 Abs. 1 lit. b AuG).
| 8 |
2.3.3 Zwar mag es stossend erscheinen, dass der Beschwerdegegner letztlich wegen seines renitenten Verhaltens vor Ablauf der in Art. 79 AuG vorgesehenen Festhaltungsdauer wieder auf freien Fuss gesetzt werden muss; bei den dort genannten 24 Monaten handelt es sich jedoch um eine Maximalfrist, die nur im Rahmen des konventions- und verfassungsmässig Zulässigen ausgeschöpft werden darf. Dies setzt unter anderem voraus, dass die Festhaltung im konkreten Fall mit einer minimalen Wahrscheinlichkeit nach wie vor geeignet erscheint, ihren Zweck zu erfüllen, und nicht gegen das Übermassverbot verstösst. Dessen war sich der Gesetzgeber bewusst, wurde doch in den Beratungen - auch von den Befürwortern der Verschärfung der Zwangsmassnahmen - zugestanden, "dass nicht in jedem Fall eine Haft über die ganze Dauer ausgesprochen werden kann und wird". Wer "sich weigert, ein Formular auszufüllen", könne nicht monatelang in Haft genommen werden; das sei "klar". Die Haftdauer müsse nach der "Schwere der Mitwirkungsverweigerung" bei der Prüfung der Verhältnismässigkeit durch den Richter berücksichtigt werden (vgl. AB 2005 N 1209 f. [Votum Kommissionssprecher Müller]). Ergänzend kann darauf hingewiesen werden, dass die EU-Rückführungsrichtlinie, welche Teil des Schengen-Besitzstands bildet und von der Schweiz innert einer Übergangsfrist von 24 Monaten umzusetzen sein wird, eine Abschiebehaft von bloss sechs Monaten vorsieht, die maximal bis zu 18 Monaten verlängert werden kann, falls der Betroffene nicht kooperiert oder es zu Verzögerungen bei der Übermittlung der erforderlichen Unterlagen durch Drittstaaten kommt (vgl. Art. 15 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger, ABl. L 348 vom 24. Dezember 2008 S. 98 ff.).
| 9 |
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR). |