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Informationen zum Dokument  BGE 139 II 289  Materielle Begründung
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Regeste
Sachverhalt
Aus den Erwägungen:
2. Umstritten ist die Anordnung eines Rollstuhlbereichs in einem  ...
3. Ob bei den neuen Fernverkehrszügen eine solche Benachteil ...
4. Liegt im genehmigten Pflichtenheft und den Typenskizzen fü ...
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20. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. Schweizerische Bundesbahnen SBB gegen Integration Handicap und Stiftung zur Förderung einer behindertengerechten baulichen Umwelt (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
 
 
2C_380/2012 vom 22. Februar 2013
 
 
Regeste
 
Art. 8 Abs. 2 und 4 sowie Art. 190 BV, Art. 1 ff. BehiG, Art. 1 ff. VböV, Art. 1 ff. VAböV, Art. 17 EBG, Art. 6a, 46 ff. und 81 EBV; Pflichtenheft und Typenskizzen für die Fernverkehrs-Doppelstock-Triebzüge IR100, IR200 und IC200 der SBB.  
Die im Unterdeck des Speisewagens vorgesehene Zusammenlegung des Rollstuhlbereichs mit demjenigen des Verpflegungsbereichs (für Mobilitätsbehinderte) führt nicht zu einer verfassungs- und gesetzwidrigen Diskriminierung bzw. Benachteiligung Behinderter (E. 3), weshalb sich eine Verhältnismässigkeitsprüfung für die vom Bundesverwaltungsgericht angeordneten Massnahmen erübrigt (E. 4).  
 
Sachverhalt
 
BGE 139 II, 289 (290)A. Die Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) unterbreiteten dem Bundesamt für Verkehr (BAV) am 29. November 2010 das Pflichtenheft bzw. den Anforderungskatalog samt Typenskizzen für die neu zu bauenden Fernverkehrs-Doppelstock-Triebzüge (FV-Dosto) IR100, IR200 und IC200 zur Genehmigung. Darin sind u.a. Angaben über die behindertengerechte Gestaltung enthalten. Vorgesehen ist namentlich im achtteiligen Zugsmodul IC200 ein Wagen, der im Oberdeck ein Speisewagenabteil und im Unterdeck ein Abteil mit drei Rollstuhlplätzen und einer rollstuhlgängigen Universaltoilette enthält. Im Pflichtenheft wird ausgeführt, das Unterdeck sei so zu gestalten, dass sowohl Personen im Rollstuhl als auch anderweitig Gehbehinderte mitsamt ihren Begleitpersonen (insgesamt mindestens 8 Personen) sich an Tischen verpflegen können. In den übrigen Wagen des IC200 ist je ein Rollstuhlstellplatz vorgesehen.
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Das BAV genehmigte mit Verfügung vom 12. Januar 2011 das Pflichtenheft unter mehreren Auflagen, darunter die Auflage 2.6 mit folgendem Wortlaut:
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BGE 139 II, 289 (291)"Dem BAV ist für die Typenzulassung die Umsetzung der behindertengerechten Gestaltung schriftlich zu bestätigen und eine Differenzbetrachtung TSI-PRM zur EBV und zur VAböV vorzulegen".
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B.
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B.a Gegen diese Verfügung erhob der Verein Integration Handicap - Schweizerische Arbeitsgemeinschaft zur Eingliederung Behinderter (im Folgenden: Integration Handicap) am 16. Februar 2011 Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht mit zahlreichen Anträgen, unter anderem Antrag Nr. 1.1 mit dem Wortlaut:
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"Die Rollstuhlplätze müssen in normale Fahrgastbereiche integriert sein, d.h. es soll auch eine möglichst grosse Anzahl Sitzplätze für nichtbehinderte Fahrgäste verfügbar sein (keine Sonderzonen für Behinderte)";
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sowie Antrag Nr. 3.2:
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"In der IC-Variante ist der Rollstuhlbereich von der geplanten rollstuhlgängigen Verpflegungszone zu trennen und in einen dem Speisewagen benachbarten Wagen zu verlegen."
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B.b Ebenfalls am 16. Februar 2011 erhob die Stiftung zur Förderung einer behindertengerechten baulichen Umwelt (im Folgenden: Stiftung) Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht mit zahlreichen Anträgen, u.a. Antrag Nr. 1:
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"Der spezielle Rollstuhlfahrbereich (gemäss AB-EBV zu Art. 48, AB 48.3, Blatt Nr. 7, Ziffer 13) samt Rollstuhltoilette sei auch in den IC-Zügen in einem benachbarten Wagen unterzubringen (und nicht im unteren Geschoss des Speisewagens)."
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sowie Antrag Nr. 4:
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"Der Speisewagen im Obergeschoss sei auch für Passagiere mit Mobilitätsbehinderung durch einen Aufzug zugänglich zu machen."
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B.c Das Bundesverwaltungsgericht vereinigte die beiden Verfahren. In der Folge teilten die Parteien dem Gericht mit, dass in einer Anzahl von Punkten eine Einigung gefunden worden sei und nur noch zwei Punkte streitig seien, nämlich die Verlegung des Rollstuhlbereichs im IC200 in einen dem Speisewagen benachbarten Wagen (Anträge 1.1 und 3.2 von Integration Handicap sowie Antrag 1 der Stiftung) sowie der Aufzug zum Oberdeck des Speisewagens (Antrag 4 der Stiftung).
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B.d Mit Urteil vom 5. März 2012 schrieb das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerden in Bezug auf die Punkte, hinsichtlich deren eine Einigung erzielt worden war (Ziff. 1), ab. Ebenso wies es den Antrag bezüglich Einbau eines Personenaufzugs zum Speisewagen im Oberdeck ab (Ziff. 2). Im Übrigen hiess es die Beschwerden im BGE 139 II, 289 (292)Sinne der Erwägungen gut und hob die Verfügung vom 12. Januar 2011 insoweit auf, als das BAV den gemäss Pflichtenheft und Typenskizze zum IC200 vorgesehenen Rollstuhlbereich genehmigt hatte (Ziff. 3). In den Erwägungen hielt es zusammengefasst fest, die SBB seien zu verpflichten, den Rollstuhlbereich (mit drei Stellplätzen gemäss Art. 48.3 Ziff. 13 AB-EBV und einer rollstuhlgängigen Universaltoilette) entsprechend der mit Stellungnahme vom 8. September 2011 eingereichten Typenskizze in einen dem Speisewagen benachbarten Wagen zu verlegen und gleichzeitig die Verpflegungszone im Unterdeck des Speisewagens mit zwei Rollstuhlplätzen und einer rollstuhlgängigen Universaltoilette beizubehalten.
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C. Mit Eingabe vom 27. April 2012 erheben die SBB beim Bundesgericht Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Rechtsbegehren, Ziff. 3 des angefochtenen Urteils sei aufzuheben und die Verfügung des BAV vom 12. Januar 2011 sei zu bestätigen.
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Das Bundesverwaltungsgericht, das Eidgenössische Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation und das BAV verzichten auf Vernehmlassung. Integration Handicap und die Stiftung beantragen, die Beschwerde abzuweisen; eventualiter sei die Beschwerde insoweit gutzuheissen, als die Vorinstanz verlange, dass zwei rollstuhlgängige Universaltoiletten pro IC200 (anstatt nur eine) einzubauen seien. (...)
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Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.
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(Auszug)
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Aus den Erwägungen:
 
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Die Eisenbahnfahrzeuge sind nach den Anforderungen des Verkehrs, des Umweltschutzes und gemäss dem Stande der Technik zu erstellen, zu betreiben, zu unterhalten und zu erneuern. Die Bedürfnisse mobilitätsbehinderter Menschen sind angemessen zu berücksichtigen (Art. 17 Abs. 1 des Eisenbahngesetzes vom 20. Dezember 1957 [EBG; SR 742.101]). Der Bundesrat erlässt Vorschriften über Bau BGE 139 II, 289 (293)und Betrieb sowie über die technische Einheit und Zulassung im Eisenbahnwesen unter Berücksichtigung der Interoperabilität und eines streckenbezogenen Sicherheitsstandards. Er sorgt dafür, dass die technischen Vorschriften nicht zur Behinderung des Wettbewerbes missbraucht werden (Art. 17 Abs. 2 EBG). Gestützt darauf hat der Bundesrat in den Art. 46 ff. der Verordnung vom 23. November 1983 über Bau und Betrieb der Eisenbahnen (Eisenbahnenverordnung, EBV; SR 742.141.1) Anforderungen an die Fahrzeuge festgelegt. Gemäss Art. 81 EBV erlässt das Eidgenössische Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (UVEK) die Ausführungsbestimmungen. Es hat dies mit den "Ausführungsbestimmungen zur Eisenbahnverordnung" (AB-EBV; SR 742.141.11) getan. Darin ist u.a. die erforderliche Anzahl Rollstuhlplätze vorgeschrieben. AB-EBV zu Art. 48, AB 48.3, Blatt 7, Ziff. 13 lautet in der hier anwendbaren Version vom 1. Juli 2010:
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"Für Rollstühle zugängliche Vorräume müssen mindestens die nötige minimale Manövrierfläche aufweisen. In jedem Zug ist eine angemessene Zahl Rollstuhlplätze vorzusehen. Im Fernverkehr soll jeder Zug einen Rollstuhlbereich mit mindestens drei Stellplätzen (bei Meterspur mindestens zwei) und einer genügend grossen Rollstuhltoilette mit ausreichender Manöverierfläche aufweisen. Der Zugang zum Speisewagen soll möglichst gewährleistet sein."
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In der ab 1. Juli 2012 geltenden Fassung lautet die gleiche Ziffer:
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"Für Rollstühle zugängliche Vorräume müssen mindestens die nötige minimale Manövrierfläche aufweisen. In jedem Zug ist eine angemessene Zahl Rollstuhlplätze vorzusehen. Je nach Länge des Zuges, ohne Berücksichtigung der Lokomotive oder des Triebkopfs, muss in einem Zug jedoch mindestens die folgende Anzahl von Rollstuhlplätzen vorhanden sein: Zugslänge unter 205 m: 2 Rollstuhlplätze pro Zug; Zugslänge 200-300 m: 3 Rollstuhlplätze pro Zug; Zugslänge über 300 m: 4 Rollstuhlplätze pro Zug)."
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2.2.1 Das Behindertengleichstellungsrecht ist auf Verfassungsstufe angelegt: Die Verfassung verbietet einerseits in Art. 8 Abs. 2 BV eine Diskriminierung wegen einer körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderung. Diese Bestimmung gibt verfassungsunmittelbare Abwehransprüche dagegen, dass Behinderte wegen ihrer Behinderung rechtlich benachteiligt werden (BGE 135 I 49 E. 4.1). Für die Beseitigung faktischer Benachteiligungen der Behinderten ist demgegenüber Art. 8 Abs. 4 BV einschlägig, wonach das Gesetz Massnahmen vorsieht zur Beseitigung von Benachteiligungen BGE 139 II, 289 (294) Behinderter. Diese Bestimmung gibt keinen individualrechtlichen, gerichtlich durchsetzbaren Anspruch auf Herstellung faktischer Gleichheit, sondern enthält einen Gesetzgebungsauftrag, der verbindlich (Art. 190 BV) durch das Gesetz wahrgenommen wird (BGE 134 II 249 E. 3.1; BGE 134 I 105 E. 5; BGE 132 II 82 E. 2.3.2; BGE 126 II 377 E. 6a S. 392 mit Hinweis).
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2.2.2 Das Bundesgesetz vom 13. Dezember 2002 über die Beseitigung von Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen (Behindertengleichstellungsgesetz, BehiG; SR 151.3) hat zum Zweck, Benachteiligungen zu verhindern, zu verringern oder zu beseitigen, denen Menschen mit Behinderungen ausgesetzt sind (Art. 1 Abs. 1 BehiG). Es gilt u.a. auch für öffentlich zugängliche Fahrzeuge, die dem Eisenbahngesetz unterstehen (Art. 3 lit. b Ziff. 1 BehiG). Eine Benachteiligung liegt vor, wenn Behinderte rechtlich oder tatsächlich anders als nicht Behinderte behandelt und dabei ohne sachliche Rechtfertigung schlechter gestellt werden als diese, oder wenn eine unterschiedliche Behandlung fehlt, die zur tatsächlichen Gleichstellung Behinderter und nicht Behinderter notwendig ist (Art. 2 Abs. 2 BehiG). Eine Benachteiligung beim Zugang zu einem Fahrzeug des öffentlichen Verkehrs liegt vor, wenn der Zugang für Behinderte aus baulichen Gründen nicht oder nur unter erschwerenden Bedingungen möglich ist (Art. 2 Abs. 3 BehiG). Wer im Sinne von Artikel 2 Absatz 3 benachteiligt wird, kann im Falle einer Einrichtung oder eines Fahrzeuges des öffentlichen Verkehrs im Sinne von Artikel 3 Buchstabe b bei der zuständigen Behörde verlangen, dass die SBB oder ein anderes konzessioniertes Unternehmen die Benachteiligung beseitigt oder unterlässt (Art. 7 Abs. 2 BehiG). Eine Benachteiligung bei der Inanspruchnahme einer Dienstleistung liegt vor, wenn diese für Behinderte nicht oder nur unter erschwerenden Bedingungen möglich ist (Art. 2 Abs. 4 BehiG). Wer durch die SBB, andere konzessionierte Unternehmen oder das Gemeinwesen im Sinne von Artikel 2 Absatz 4 benachteiligt wird, kann beim Gericht oder bei der Verwaltungsbehörde verlangen, dass der Anbieter der Dienstleistung die Benachteiligung beseitigt oder unterlässt (Art. 8 Abs. 1 BehiG). Das Gericht oder die Verwaltungsbehörde ordnet die Beseitigung der Benachteiligung nicht an, wenn der für Behinderte zu erwartende Nutzen in einem Missverhältnis steht, insbesondere zum wirtschaftlichen Aufwand, zu Interessen des Umweltschutzes sowie des Natur- und Heimatschutzes oder zu Anliegen der Verkehrs- und Betriebssicherheit (Art. 11 Abs. 1 BehiG). Das Gericht BGE 139 II, 289 (295)oder die Verwaltungsbehörde verpflichtet die SBB, das vom Bund konzessionierte Unternehmen oder das Gemeinwesen, eine angemessene Ersatzlösung anzubieten, wenn es nach Artikel 11 Absatz 1 darauf verzichtet, die Beseitigung einer Benachteiligung anzuordnen (Art. 12 Abs. 3 BehiG). Um ein behindertengerechtes öffentliches Verkehrssystem sicherzustellen, erlässt der Bundesrat für die SBB sowie für weitere Unternehmen, die einer bundesrechtlichen Konzession bedürfen, Vorschriften über die Gestaltung u.a. der Fahrzeuge (Art. 15 Abs. 1 lit. c BehiG). Diese Vorschriften werden periodisch dem Stand der Technik angepasst. Der Bundesrat kann technische Normen oder andere Festlegungen privater Organisationen für verbindlich erklären (Art. 15 Abs. 3 BehiG). Das BehiG konkretisiert damit in seinem Geltungsbereich in verbindlicher Weise (Art. 190 BV) den verfassungsrechtlichen Gesetzgebungsauftrag zur Beseitigung von Benachteiligungen Behinderter (Art. 8 Abs. 4 BV; BGE 134 II 249 E. 2.3 und 3.1 S. 251 f.; BGE 132 II 82 E. 2.3.2 S. 84 f.). Ein darüber hinausgehender Anspruch auf Herstellung vollständiger faktischer Gleichheit ergibt sich dadurch nicht, auch nicht aus Art. 8 Abs. 2 BV (BGE 134 I 105 E. 5 S. 109). Nach Art. 17 Abs. 1 EBG sind die Bedürfnisse mobilitätsbehinderter Menschen jedoch "angemessen" zu berücksichtigen (vgl. auch vorne E. 2.1): Gemäss Botschaft zum BehiG ist ein öffentliches Verkehrsmittel dann behindertengerecht, wenn es wenigstens über eine Möglichkeit der Benützung eines Personenwagens verfügt; es muss also nicht jedes Fahrzeug einer Zugskomposition über einen behindertengerechten Zugang verfügen. Es genügt, wenn pro Zug wenigstens ein Personenwagen entsprechend ausgerüstet ist (Botschaft vom 11. Dezember 2000 zur Volksinitiative "gleiche Rechte für Behinderte" und zum Entwurf eines Bundesgesetzes über die Beseitigung von Benachteiligungen behinderter Menschen, BBl 2001 1715, 1777 zu Art. 2 Abs. 3). Diese Grundsätze des BehiG werden im Bereich der Eisenbahnen durch die vorne in E. 2.1 genannten eisenbahnrechtlichen Vorschriften konkretisiert (SCHEFER/HESS-KLEIN, Die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung im Baubereich und im öffentlichen Verkehr, ZSR 130/2011 I S. 403), namentlich auch im Bereich der Fahrzeuge.
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2.2.3 Gestützt u.a. auf Art. 15 BehiG hat der Bundesrat sodann die Verordnung vom 12. November 2003 über die behindertengerechte Gestaltung des öffentlichen Verkehrs (VböV; SR 151.34) erlassen, die u.a. für die Fahrzeuge der SBB gilt (Art. 2 Abs. 1 lit. a und BGE 139 II, 289 (296)Abs. 2 VböV). Behinderte, die in der Lage sind, den öffentlichen Raum autonom zu benützen, sollen auch Dienstleistungen des öffentlichen Verkehrs autonom beanspruchen können (Art. 3 Abs. 1 VböV). Die den Fahrgästen dienenden Einrichtungen und Fahrzeuge, die mit dem öffentlichen Verkehr in einem unmittelbaren funktionalen Zusammenhang stehen, müssen für Behinderte sicher auffindbar, erreichbar und benützbar sein (Art. 4 Abs. 1 VböV). Für behinderte Fahrgäste muss ein genügend grosser Teil der Fahrgastbereiche zugänglich sein (Art. 4 Abs. 2 VböV). Der Zugang zu Einrichtungen und Fahrzeugen des öffentlichen Verkehrs muss für Hand- und Elektro-Rollstühle mit einer Länge von bis zu 120 cm, einer Breite von bis zu 70 cm und einem Gesamtgewicht von bis zu 300 kg sowie für Rollatoren gewährleistet sein (Art. 5 Abs. 1 VböV). Die Benützung der öffentlichen Verkehrsmittel soll in der Regel auch für Rollstühle mit kuppelbaren elektrischen Antriebsgeräten, für Behinderten-Elektroscooter und für ähnliche Fahrzeuge ermöglicht werden (Art. 5 Abs. 2 VböV). Toiletten müssen in ausreichender Anzahl rollstuhlgängig sein (Art. 7 Abs. 2 VböV). Das UVEK erlässt Bestimmungen über die technischen Anforderungen an die Gestaltung u.a. der Fahrzeuge (Art. 8 VböV). Gestützt darauf hat das UVEK die Verordnung vom 22. Mai 2006 über die technischen Anforderungen an die behindertengerechte Gestaltung des öffentlichen Verkehrs (VAböV; SR 151.342) erlassen. Für die allgemeinen Anforderungen an die behindertengerechte Gestaltung von Bauten, Anlagen und Fahrzeugen ist gemäss Art. 2 Abs. 1 VAböV die Norm SN 521 500/SIA 500 "Hindernisfreie Bauten", Ausgabe 2009, massgebend. Für abweichende und weiterführende Anforderungen an den Eisenbahnverkehr wird wiederum auf die AB-EBV verwiesen (Art. 2 Abs. 2 VAböV).
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2.3 Aus den soeben zitierten Normen ergibt sich - im Sinne eines Zwischenergebnisses - , dass das in Verfassung und Gesetz enthaltene Diskriminierungs- und Benachteiligungsverbot für Behinderte auch im Bereich des öffentlichen Verkehrs gilt. Verstiesse BGE 139 II, 289 (297)untergeordnetes Verordnungsrecht hiegegen, wäre ihm die Anwendung zu versagen. Indessen nimmt die Rechtsordnung in Kauf, dass Behinderte nicht jeden Teil eines Eisenbahnfahrzeugs in absolut gleicher Weise wie nicht Behinderte benützen können. So etwa sind Rollstuhlfahrer darauf angewiesen, einen der Rollstuhlplätze zu benützen. Beabsichtigen sie, während der Fahrt die Toilette zu benützen, so müssen sie in demjenigen Wagen Platz nehmen, in dem sich die rollstuhlgängige Toilette befindet. Ihre Platzwahl ist damit stärker eingeschränkt als diejenige nicht Behinderter. Darin allein kann nicht ein unzulässig erschwerter Zugang im Sinne von Art. 2 Abs. 3 oder 4 BehiG und damit auch keine Benachteiligung im Sinne des Gesetzes erblickt werden.
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Die Vorinstanz hat jedoch erwogen, die Zusammenlegung des eigentlichen Rollstuhlbereichs und der Verpflegungszone für Mobilitätsbehinderte hätte zur Folge, dass Rollstuhlfahrer grundsätzlich im Speisebereich reisen müssten, unabhängig davon, ob sie sich verpflegen möchten oder nicht. Dadurch würden sie im Vergleich zu den anderen Fahrgästen mit uneingeschränkter Auswahlmöglichkeit schlechter gestellt und die Benutzung des allgemeinen Fahrgastbereichs würde ihnen erschwert oder sogar verunmöglicht. Dies sei eine Benachteiligung im Sinne von Art. 2 BehiG. Die BGE 139 II, 289 (298)Benachteiligung werde zusätzlich akzentuiert dadurch, dass in diesem vorgesehenen Rollstuhlbereich neben den drei Rollstuhlplätzen lediglich noch 11 Sitzplätze für andere Fahrgäste bestünden, was im Hinblick auf die angestrebte Integration der Rollstuhlfahrer nicht optimal wäre. Diese hätten deshalb einen Rechtsanspruch auf Beseitigung dieser Benachteiligungen, sofern dies verhältnismässig sei. Die beantragte Verlegung des Rollstuhlbereichs in einen benachbarten Wagen sei verhältnismässig. Die Vorinstanz hat deshalb angeordnet, dass die SBB den Rollstuhlbereich mit 3 Stellplätzen und einer rollstuhlgängigen Toilette in einen andern Wagen verlegen und gleichzeitig die Verpflegungszone im Unterdeck des Speisewagens mit 2 Rollstuhlplätzen und 1 rollstuhlgängigen Toilette beibehalten muss (vgl. vorne B.d).
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3.2. In den geplanten Fernverkehrszügen befindet sich der Speisewagenbereich im Obergeschoss, zu welchem Rollstuhlfahrer nicht gelangen können. Deshalb sieht das Projekt der Beschwerdeführerin vor, dass gehbehinderten Personen und ihren Begleitpersonen das Angebot des Speisewagens - als Ersatzlösung im Sinne von Art. 12 Abs. 3 BehiG - auch im Untergeschoss des Speisewagens serviert wird. Es besteht aber kein Verpflegungszwang; Rollstuhlfahrer, die nicht speisen möchten, sind dazu nicht verpflichtet. Nicht gehbehinderte Personen können das Verpflegungsangebot des Speisewagens ebenfalls nicht in Anspruch nehmen. Damit haben Mobilitätsbehinderte die gleichen Möglichkeiten wie die übrigen Reisenden: Sie können das Speisewagenangebot nutzen, aber sie können auch reisen ohne zu speisen.
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Es trifft zu, dass damit die Rollstuhlfahrer - im Unterschied zu anderen Fahrgästen - faktisch nicht die Möglichkeit haben, jeden beliebigen Platz im Zug zu benützen. Wie dargelegt, kann darin aber keine Erschwerung des Zugangs bzw. Benachteiligung im Sinne des Gesetzes erblickt werden (vorne E. 2.3). Art. 2 Abs. 3 und 4 i.V.m. Art. 7 und 8 BehiG sind insoweit nicht verletzt.
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3.3 Aus dem massgebenden Sachverhalt (vorne A.) ergibt sich, dass Rollstuhlfahrer, die einen üblichen Rollstuhl benützen, auch in den Multifunktionsabteilen der anderen Wagen reisen können, zumindest solange sie während der Fahrt nicht die Toilette aufsuchen wollen. Faktisch gezwungen, im streitigen Unterdeck - welches sich gemäss Angaben der SBB "am Restaurant-Design" orientieren wird - zu reisen, sind hingegen die Rollstuhlfahrer mit einem grösseren BGE 139 II, 289 (299)Rollstuhl, der im Multifunktionsabteil nicht Platz hat, sowie diejenigen, welche während der Fahrt die Toilette aufsuchen wollen. Es ist nun die Konstellation denkbar, dass solche Rollstuhlfahrer nicht speisen möchten, während zugleich andere Rollstuhlfahrer oder gehbehinderte Personen, gegebenenfalls mit Begleitpersonen, im gleichen Raum speisen. Die Frage ist, ob diese Konstellation gesetzwidrig ist.
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3.3.3 Nach allgemeiner Lebenserfahrung ist es schon selten, dass mehrere Mobilitätsbehinderte gleichzeitig denselben Zug benützen. Dass davon einer speisen will und ein anderer sich dadurch gestört fühlt, ist noch bedeutend seltener, zumal normalerweise wohl nur um die üblichen Essenszeiten im streitigen Abteil gespeist wird und - wie bei den übrigen Fahrgästen - auch bei den Mobilitätsbehinderten wohl nur ein sehr kleiner Prozentsatz überhaupt vom Speisewagenangebot Gebrauch machen wird. Sodann ist schwer nachvollziehbar, inwiefern es eine rechtlich relevante Benachteiligung darstellen soll, wenn jemand in einem Raum reisen muss, in welchem zugleich andere Personen essen. Auch in anderen Verkehrsmitteln wie Schiffen oder Flugzeugen gibt es oft oder meist nur einen einzigen Aufenthaltsraum, in dem sich sowohl speisende als auch nicht speisende Fahrgäste aufhalten müssen. Es entspricht nicht allgemeiner Lebenserfahrung, dass dies von irgend jemandem als Belästigung empfunden würde. Zudem ist in einem Eisenbahnwagen ohnehin damit zu rechnen, dass Reisende Aktivitäten ausüben, BGE 139 II, 289 (300)welche andere Mitreisende als störend betrachten könnten, wie zum Beispiel sprechen, telefonieren, lachen, schminken, spielen (und vieles andere mehr). Solche "Störungen" sind in einem gewissen Mass von allen Bahnreisenden hinzunehmen. Es ist sodann nicht verboten und kommt gerichtsnotorisch nicht selten vor, dass auch im allgemeinen Fahrgastraum Reisende essen, seien es Esswaren, die sie selber mitführen, seien es solche, die durch Minibars in den Zügen angeboten werden. Es gibt auch (ausländische) Bahngesellschaften, welche (anstelle von oder zusätzlich zu einem Speisewagen) im allgemeinen Fahrgastbereich den Passagieren Menus anbieten, die mit denjenigen in einem Speisewagen vergleichbar sind.
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Diese Argumentation vermag nicht zu überzeugen: Jedenfalls liegt die SBB nicht schon allein deshalb falsch, wenn sie die Transport- und die Verpflegungsleistung für Mobilitätsbehinderte am selben Ort anbietet. Jeder Reisende nimmt die Aktivitäten seiner Mitreisenden sehr individuell wahr; der eine fühlt sich durch eine bestimmte Aktivität gestört, der andere nicht. Angesichts der Belegungsdichte in den Fahrgasträumen der Fernverkehrszüge hat sodann kaum jemand die freie Wahl, aus subjektiver eigener Sicht "ungestört" von den Mitreisenden ans Ziel zu gelangen. Neben all den anderen "Belästigungen", die jeder Bahnreisende seitens der Mitreisenden in Kauf nehmen muss, ist es daher einem mobilitätsbehinderten Bahnreisenden, der nicht speisen will, zuzumuten, im gleichen Raum zu sitzen, in dem vielleicht gelegentlich ein anderer Mobilitätsbehinderter ein Menu aus dem Speisewagen isst. Die Wahrscheinlichkeit dieser Konstellation ist nicht signifikant grösser als die Wahrscheinlichkeit, dass sich nicht behinderte, nicht essende Fahrgäste durch essende andere Fahrgäste im gleichen Abteil gestört fühlen und infolge Vollbesetzung des Zugs auch nicht auf andere Wagen ausweichen können. Die streitige Anordnung des Rollstuhlbereichs gemäss Pflichtenheft bedeutet daher nicht, dass Behinderte im Sinne BGE 139 II, 289 (301)von Art. 2 Abs. 2 BehiG "schlechter gestellt" werden als nicht Behinderte.
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Dies gilt umso mehr, als dem unteren Teil des Speisewagens gemäss der durch das Pflichtenheft genehmigten Konzeption eine doppelte Funktion zukommt (Erbringung der Transportleistung und Zugang zum Speisewagen für Mobilitätsbehinderte). Es sind aber die Mobilitätsbehinderten selber, die bestimmen, ob und wann die Restaurationsmöglichkeiten in Anspruch genommen werden - andere Personen werden wie erwähnt nicht bedient -, bzw. wann der betreffende Fahrgastraum zum Restaurantbereich wird. Somit besteht die durchaus wahrscheinliche Möglichkeit, dass der betreffende Fahrgastbereich rein zur Erbringung der Transportleistung dient. Will ein Mobilitätsbehinderter dennoch speisen und in diesem Sinne die andere Funktion des Unterdecks (Verpflegung aus dem Speisewagen) beanspruchen, ist aber wie ausgeführt ein anderer Mobilitätsbehinderter, der dies nicht tun will, nicht stärker benachteiligt als jeder andere Bahnreisende, der sich ihm nicht genehme Aktivitäten seiner Mitreisenden gefallen lassen muss. Wesentlich erscheint, dass durch das genehmigte Pflichtenheft der Zugang zur Transportleistung und zur Verpflegungsmöglichkeit im Speisewagen für alle Reisenden gleichermassen gewährleistet ist; eine Benachteiligung im Sinne des Behindertengleichstellungsgesetzes liegt damit insoweit nicht vor.
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3.4.1 Daran ist richtig, dass eine Isolierung von Rollstuhlfahrern eine ausgrenzende und stigmatisierende Behandlung darstellen kann, die mit dem Prinzip der Behindertengleichstellung nicht vereinbar wäre; denn das BehiG will Menschen mit Behinderung erleichtern, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen und soziale Kontakte zu pflegen (Art. 1 Abs. 2 BehiG; vgl. BGE 138 I 162 E. 4.2; BGE 135 I 161 E. 6; BGE 131 V 9 E. 3.5.3; BGE 130 I 352 E. 6.1.2). Von einer ausgrenzenden Isolierung kann hier aber nicht gesprochen werden: Da sich immerhin 11 andere Sitze im streitigen Abteil befinden, ist eine genügende Durchmischung möglich. Zudem sind in den allermeisten Fällen nicht alle drei Rollstuhlplätze mit Rollstuhlfahrern besetzt; dadurch BGE 139 II, 289 (302)erhöht sich die Zahl der übrigen Sitze entsprechend. Wohl ist bei schwacher Belegung denkbar, dass sich nebst Behinderten nur wenige andere Fahrgäste im Raum befinden, aber das ist in jedem anderen Abteil nicht anders. Auch das Argument, es handle sich um eine Sackgasse für Behinderte, weil der Speisewagen nur einen Eingang habe, so dass sich kaum nicht Behinderte dorthin begeben würden, leuchtet nicht ein: Gerichtsnotorisch gibt es auch bei heute verwendeten Zügen Wagen mit nur einem für die Fahrgäste zugänglichen Eingang (Endwagen), ohne dass diese Wagen als ausgrenzend für irgendwelche Reisende betrachtet würden.
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3.4.2 Weiter hat die Vorinstanz die SBB angewiesen, den Rollstuhlbereich im benachbarten Wagen anzuordnen. Auch dort muss das Rollstuhlabteil aus naheliegenden Gründen im Untergeschoss liegen, in welchem sich neben den technisch beanspruchten Bereichen zwangsläufig weniger Sitzplätze befinden als im Obergeschoss. Gemäss der am 8. September 2011 eingereichten Typenskizze, auf welche die Vorinstanz Bezug nimmt, hat das Untergeschoss im benachbarten Wagen 17 Sitzplätze. Ist er jedoch mit drei grossen Rollstühlen belegt, verbleiben daneben bloss noch 5 oder 6 weitere Sitze. Die von der Vorinstanz angeordnete Lösung ist somit unter dem Aspekt der Isolierung der Rollstuhlfahrer schlechter als die von der Beschwerdeführerin vorgesehene. Auch unter diesem Aspekt ist die von der Beschwerdeführerin vorgesehene Lösung nicht gesetzwidrig.
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