![]() ![]() | |||
| |||
Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch) | |||
![]() | ![]() |
38. Auszug aus dem Urteil der I. sozialrechtlichen Abteilung i.S. A. gegen Amt für Wirtschaft und Arbeit des Kantons Thurgau (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) |
8C_90/2016 vom 11. August 2016 | |
Regeste |
Art. 8 Abs. 1 und Art. 49 Abs. 1 BV; Art. 16c Abs. 2 EOG; § 20 Abs. 1 und § 22 der Verordnung des Grossen Rates des Kantons Thurgau vom 18. November 1998 über die Besoldung des Staatspersonals (Besoldungsverordnung). | |
Sachverhalt | |
![]() | 1 |
B. Das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau wies die dagegen erhobene Beschwerde am 25. November 2015 ab.
| 2 |
C. A. führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Antrag, es sei der vorinstanzliche Entscheid aufzuheben und ihr vom 1. September bis 31. Oktober 2014 Lohnfortzahlung zu gewähren; eventualiter sei die Sache an die Vorinstanz zur Festsetzung der Lohnfortzahlung zurückzuweisen.
| 3 |
Das AWA schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.
| 4 |
Aus den Erwägungen: | |
5 | |
![]() | 6 |
Streitig ist, ob die Beschwerdeführerin Anspruch auf Lohnersatz für die acht Wochen und fünf Tage zwischen ihrer Niederkunft und dem Beginn der Mutterschaftsentschädigung bei Entlassung ihres Kindes aus dem Spital hat. Nicht streitig ist hingegen, dass sie die Voraussetzungen für den Aufschub der Mutterschaftsentschädigung erfüllt.
| 7 |
Erwägung 4 | |
4.1 Der Grundsatz des Vorrangs von Bundesrecht nach Art. 49 Abs. 1 BV schliesst in Sachgebieten, welche die Bundesgesetzgebung abschliessend regelt, eine Rechtssetzung durch die Kantone aus. In Sachgebieten, die das Bundesrecht nicht abschliessend ordnet, dürfen die Kantone nur Vorschriften erlassen, die nicht gegen Sinn und Geist des Bundesrechts verstossen und dessen Zweck nicht beeinträchtigen oder vereiteln. Der Grundsatz der derogatorischen Kraft des Bundesrechts kann als verfassungsmässiges Individualrecht angerufen werden. Das Bundesgericht prüft mit freier Kognition, ob die kantonale Norm mit dem Bundesrecht im Einklang steht (BGE 138 I 468 E. 2.3.1 S. 470 f., BGE 138 I 356 E. 5.4.2 S. 360 f.; BGE 137 I 31 E. 4.1 S. 41).
| 8 |
4.2 Das Gebot der rechtsgleichen Behandlung (Art. 8 Abs. 1 BV) ist verletzt, wenn ein Erlass hinsichtlich einer entscheidwesentlichen Tatsache rechtliche Unterscheidungen trifft, für die ein vernünftiger Grund in den zu regelnden Verhältnissen nicht ersichtlich ist, oder wenn er Unterscheidungen unterlässt, die sich aufgrund der Verhältnisse aufdrängen. Gleiches muss nach Massgabe seiner Gleichheit gleich und Ungleiches nach Massgabe seiner Ungleichheit ungleich behandelt werden. Die Frage, ob für eine rechtliche Unterscheidung ein vernünftiger Grund in den zu regelnden Verhältnissen ersichtlich ist, kann zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich beantwortet werden, je nach den herrschenden Anschauungen und Verhältnissen. Dem Gesetzgeber bleibt im Rahmen dieser Grundsätze und des Willkürverbots ein weiter Gestaltungsspielraum (BGE 138 I 225 E. 3.6.1 S. 229; BGE 137 I 167 E. 3.5 S. 175; BGE 136 I 1 E. 4.1 S. 5).
| 9 |
![]() | 10 |
11 | |
12 | |
§ 22 Abs. 1 BesVO statuiert für Mitarbeiterinnen, welche die Voraussetzungen für die Mutterschaftsentschädigung gemäss EOG erfüllen, den Anspruch auf 16 Wochen Urlaub bei voller Besoldung gemäss dem Beschäftigungsgrad vor der Niederkunft. Der Urlaub beginnt in der Regel zwei Wochen vor dem ärztlich bestimmten Niederkunftstermin (Abs. 2). Der Regierungsrat regelt nach Abs. 3 Ziff. 2 den Beginn des Urlaubs in besonderen Fällen, etwa bei Niederkunft vor oder nach dem errechneten Termin.
| 13 |
![]() | 14 |
Erwägung 5 | |
15 | |
5.2 Nach kantonalem Personalrecht haben Angestellte des Kantons Thurgau während eines Jahres Anspruch auf vollen Lohnersatz bei ärztlich attestierter gesundheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit, sei dies infolge Unfalls oder infolge einer Krankheit (vgl. E. 4.5). Gestützt auf die kantonalrechtlichen Bestimmungen haben hingegen Mütter, welche nach der Niederkunft infolge Hospitalisation des Neugeborenen den Bezug der Mutterschaftsentschädigung aufgeschoben haben, keinen Anspruch auf Lohnersatz, sondern sind für die Zeit zwischen Niederkunft und Entlassung des Neugeborenen aus dem Spital gezwungen, unbezahlten Urlaub zu beziehen (E. 4.5). Im hier strittigen Fall soll dies auch gelten, obwohl die Beschwerdeführerin im Rahmen der mehr als zwei Monate vor dem errechneten Termin erfolgten Geburt für insgesamt 14 Tage hospitalisiert und danach gemäss ärztlichem Attest während mehrerer Wochen arbeitsunfähig war. Dadurch wird die gesundheitlich bedingte Arbeitsunfähigkeit mit Lohnfortzahlungspflicht nicht anerkannt. Dies kommt einer Ungleichbehandlung mit jenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Kantons gleich, welche aus gesundheitlichen Gründen infolge Unfalls oder Krankheit an der Arbeitsleistung verhindert sind und vollen ![]() | 16 |
17 | |
5.4 Daran ändert auch die Absicht des Bundesgesetzgebers, die Arbeitgeber durch die Mutterschaftsentschädigung zu entlasten, nichts. Der eigentliche Zweck der Mutterschaftsentschädigung, den Müttern die Zeit für die Erholung von der Geburt und die intensive Betreuung des Neugeborenen in den ersten Monaten finanziell abzusichern, geht vor. Überdies ist die Anzahl Fälle, bei welchen ein Aufschub und demnach ein Lohnersatz zu Lasten des Arbeitgebers überhaupt in Frage kommt, angesichts der restriktiven Voraussetzungen von Art. 16c Abs. 2 EOG gering (mindestens dreiwöchiger Spitalaufenthalt des Kindes; vgl. Bericht des Bundesrates vom 28. April 2016 als Antwort auf die Postulate 10.3523 Maury Pasquier vom 17. Juni 2010 und 10.4125 Teuscher vom 17. Dezember 2010, S. 15 f., www.parlament.ch). Weiter ist nicht ausser Acht zu lassen, dass auf Bundesebene Bestrebungen im Gange sind, die Lohnfortzahlung in Fällen des Aufschubs nach Art. 16c Abs. 2 EOG explizit in jedem Fall sicherzustellen (vgl. Bericht des Bundesrates vom 28. April 2016, a.a.O.). Zudem hat die Rechtsprechung in Fällen des Aufschubs nach Art. 16c Abs. 2 EOG bei dem Arbeitsrecht des OR unterstellten Frauen eine Lohnfortzahlungspflicht des Arbeitgebers (insbesondere gestützt auf die gesetzliche Pflicht der Eltern zur Betreuung ihres Kindes) bejaht (einlässlich ROGER RUDOLPH, Lohnfortzahlungspflicht des Arbeitgebers bei Aufschub der ![]() | 18 |
19 | |
Erwägung 6 | |
6.1 Die freie Wahl der Mütter, vom bundesrechtlich vorgesehenen Aufschub der Mutterschaftsentschädigung nach Art. 16c Abs. 2 EOG Gebrauch zu machen, wird durch die thurgauische Regelung wesentlich beeinträchtigt. Sie könnten aus finanziellen Gründen gezwungen sein, sich trotz Erfüllung der restriktiven Voraussetzungen von Art. 16c Abs. 2 EOG gegen einen Aufschub zu entscheiden. Damit aber wird die Erreichung des von Art. 16c Abs. 2 EOG verfolgten Zwecks, der Mutter die Möglichkeit zu geben, sich in den ersten Monaten zu Hause selbst intensiv um das Kind kümmern zu können ![]() | 20 |
21 | |
Erwägung 7 | |
22 | |
7.2 Da sich die Lohnfortzahlungspflicht bereits aus den genannten Gründen ergibt, erübrigt sich eine Prüfung des Falles unter dem Aspekt der Geschlechtergleichbehandlung wie es die Beschwerdeführerin geltend macht. Ebenfalls braucht nicht geprüft zu werden, ob bei Aufschub der Mutterschaftsentschädigung auch ohne persönliche Arbeitsunfähigkeit der Mutter gestützt auf die elterliche Betreuungspflicht Anspruch auf Lohnfortzahlung besteht (vgl. E. 5.4). (...)
| 23 |
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR). |