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Informationen zum Dokument  BGE 147 II 375  Materielle Begründung
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Sachverhalt
Aus den Erwägungen:
Erwägung 3
4. Umstritten und im Folgenden näher zu prüfen ist, ...
Erwägung 5
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29. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung i.S. A. UK LTD gegen Dienststelle für Industrie, Handel und Arbeit (DIHA) und Staatsrat des Kantons Wallis (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
 
 
2C_51/2019 vom 12. März 2021
 
 
Art. 2 Abs. 3 und Art. 3 Satz 2 EntsG; Voraussetzungen für den Abzug von Unterkunfts- und Verpflegungskosten vom Lohn im ortsüblichen Mass.
 
 
Art. 2 FZA; Tragweite des Diskrimierungsverbots bei richtlinienkonformer Umsetzung.
 
 
Sachverhalt
 
BGE 147 II 375 (376)A. Die A. UK LTD (nachfolgend: A.) ist eine englische Tochtergesellschaft der A. Holding AG, mit Sitz in U., die in der Schweiz Chalets und Hotels bewirtschaftet. Für die Betreuung der dort verweilenden Feriengäste stellt sie in Grossbritannien junge Mitarbeiter/innen an und schliesst mit ihnen zeitlich begrenzte, dem englischen Recht unterstehende Arbeitsverträge ab.
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Am 24. Mai 2014 stellte A. mehrere Gesuche zur Erteilung von EG/ EFTA-Arbeitsbewilligungen für den Einsatz von Mitarbeitern in der Sommersaison in der Schweiz. Die Dienststelle für Industrie, Handel und Arbeit des Kantons Wallis (DIHA) informierte A., dass hierfür das Formular "Entsende-Bestätigung" zu verwenden sei, wonach die Kosten im Zusammenhang mit der Entsendung, insbesondere die Verpflegung und die Unterbringung, nicht vom Gehalt abgezogen werden dürften.
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B. Am 22. Oktober 2014 lehnte die DIHA das Gesuch um Erteilung einer Bewilligung für eine vorübergehende, grenzüberschreitende Dienstleistung von B. ab, weil A. die Auslagen für Verpflegung, Unterkunft, Skiabonnement und Krankenkasse vom Lohn des Arbeitnehmers in Abzug gebracht hatte, was sie für unzulässig erachtete. BGE 147 II 375 (376) BGE 147 II 375 (377) Gegen diesen Entscheid erhob A. am 21. November 2014 Einsprache. Am 22. Januar 2015 wies die DIHA die Einsprache ab. Dagegen legte A. am 10. März 2015 Beschwerde beim Staatsrat des Kantons Wallis (nachfolgend: Staatsrat) ein.
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In der Folge stellte A. im Jahr 2014 Gesuche der gleichen Art für weitere Mitarbeiter, die aus demselben Grund von der DIHA abgelehnt und anschliessend vor dem Staatsrat angefochten wurden. Am 18. April 2018 vereinigte der Staatsrat alle drei pendenten Verfahren und wies die jeweiligen Beschwerden ab.
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A. erhob am 25. Mai 2018 Verwaltungsgerichtsbeschwerde beim Kantonsgericht des Kantons Wallis gegen den Entscheid des Staatsrates vom 18. April 2018, mit dem Begehren, ihren Mitarbeitenden vorübergehende grenzüberschreitende Dienstleistungsbewilligungen zu erteilen. Am 23. November 2018 wies das Kantonsgericht des Kantons Wallis die Beschwerde ab.
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C. Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten vom 14. Januar 2019 an das Bundesgericht beantragt A., das Urteil des Kantonsgerichts des Kantons Wallis vom 23. November 2018 sei aufzuheben und die Gesuche um Erteilung von vorübergehenden grenzüberschreitenden Dienstleistungen ihrer Mitarbeitenden gutzuheissen; eventualiter sei die Angelegenheit an die Vorinstanz oder an die DIHA zur erneuten Beurteilung zurückzuweisen.
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Die Vorinstanz hat auf eine Vernehmlassung verzichtet. Die kantonale Volkswirtschaftsdirektion und das Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) beantragen die Abweisung der Beschwerde.
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Aus den Erwägungen:
 
 
Erwägung 3
 
3.1 Zur Abfederung der Auswirkungen des Abkommens vom 21. Juni 1999 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedsstaaten andererseits über die Freizügigkeit (Freizügigkeitsabkommen, FZA; SR 0.142.112.681) auf den Arbeitsmarkt hat der schweizerische Gesetzgeber so genannte flankierende Massnahmen erlassen. Diese bezwecken namentlich den Schutz vor Sozial- und Lohndumping und sollen für die hiesigen Anbieter und diejenigen der EU/EFTA-Staaten, die von der beschränkten Dienstleistungsfreiheit des Freizügigkeitsrechts profitieren, gleiche Bedingungen ("gleich lange Spiesse") schaffen ( BGE 143 II 102 E. 2.1; Botschaft vom 23. Juni 1999 zur BGE 147 II 375 (377) BGE 147 II 375 (378) Genehmigung der sektoriellen Abkommen zwischen der Schweiz und der EG, BBl 1999 6392).
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3.2 Art. 22 Abs. 2 Anhang I FZA bestimmt, dass Art. 17 und Art. 19 Anhang I FZA sowie darauf abgestützte Massnahmen die Rechts- und Verwaltungsvorschriften über die Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen für die im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen entsandten Arbeitnehmer unberührt lässt, wobei gemäss Art. 16 FZA auf die Richtlinie 96/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 1996 über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen, ABl. L 018 vom 21. Januar 1997 S. 1-6, Bezug genommen wird. Dies bedeutet, dass im Anwendungsbereich dieser Richtlinie eine möglichst kongruente Rechtslage zwischen dem FZA und dem Unionsrecht angestrebt wird (Art. 16 Abs. 1 FZA; BGE 136 II 329 E. 2.3) und die Rechtsprechung des EuGH bis zum Zeitpunkt der Unterzeichnung des Abkommens am 21. Juni 1999 in Bezug auf gemeinschaftsrechtliche Begriffe für deren Auslegung verbindlich ist (Art. 16 Abs. 2 FZA). Was die Auslegung abkommensrelevanter unionsrechtlicher Bestimmungen nach dem Unterzeichnungsdatum des FZA anbelangt, weicht das Bundesgericht von der Rechtsprechung des EuGH nicht leichthin, sondern nur bei Vorliegen "triftiger" Gründe ab ( BGE 140 II 447 E. 4.3).
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3.3 Im Zusammenhang mit den flankierenden Massnahmen ist am 1. Juni 2004 das Bundesgesetz vom 8. Oktober 1999 über die flankierenden Massnahmen bei entsandten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und über die Kontrolle der in Normalarbeitsverträgen vorgesehenen Mindestlöhne (Entsendegesetz, EntsG; SR 823.20) in Kraft getreten. Dieses regelt gemäss Art. 1 Abs. 1 EntsG die minimalen Arbeits- und Lohnbedingungen für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die ein Arbeitgeber mit Wohnsitz oder Sitz im Ausland in die Schweiz entsendet. Die Bedingungen werden in Art. 2 Abs. 1 näher definiert. Gemäss dieser Bestimmung müssen die Arbeitgeber den entsandten Arbeitnehmenden mindestens die Arbeits- und Lohnbedingungen garantieren, die in Bundesgesetzen, Verordnungen des Bundesrates, allgemein verbindlich erklärten Gesamtarbeitsverträgen und Normalarbeitsverträgen im Sinne von Art. 360a OR vorgeschrieben sind (Urteil 2C_111/2010 vom 7. Dezember 2010 E. 2.4). Zu diesen Bedingungen gehören gemäss Art. 2 Abs. 1 lit. a EntsG die Bestimmungen zur minimalen Entlöhnung inklusive Zuschläge, die in Art. 1 der Verordnung vom 21. Mai 2003 über die BGE 147 II 375 (378) BGE 147 II 375 (379) in die Schweiz entsandten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer (EntsV; SR 823.201) näher konkretisiert worden sind.
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Es ist unbestritten, dass die Beschwerdeführerin als Gesellschaft mit Sitz in England, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer kurzfristig in die Schweiz entsendet, unter das Entsendegesetz fällt. Die Tatsache, dass der Arbeitsvertrag auf die Dauer der Beschäftigung in der Schweiz befristet und weder vor noch nach der Entsendung eine Beschäftigung im Herkunftsstaat bei der Beschwerdeführerin vorgesehen ist, steht dessen Anwendung nicht entgegen.
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4.1 Die Beschwerdeführerin macht geltend, dass die Einsätze ihrer Mitarbeiter als Entsendungen im Sinne von Art. 1 Abs. 1 lit. b EntsG zu qualifizieren seien, d.h. dass es sich um Arbeitsleistungen handle, die in ihren Betriebsstätten in der Schweiz erfolgen. Im Gegensatz zu Entsendungen im Rahmen einer grenzüberschreitenden Dienstleistungserbringung (Art. 1 Abs. 1 lit. a EntsG), für welche Entschädigungen für Unterkunft und Verpflegung nicht vom Lohn in Abzug gebracht werden dürften (Art. 2 Abs. 3 EntsG), seien Abzüge für solche Leistungen bei Arbeitseinsätzen gemäss Art. 1 Abs. 1 lit. b EntsG unter Einhaltung der Vorgaben von Art. 3 Satz 2 EntsG und entsprechend Art. 327a OR (e contrario) und Art. 13 des Landes-Gesamtarbeitsvertrags des Gastgewerbes (L-GAV) zulässig. Die unterschiedliche Behandlung der zwei Entsendearten rechtfertige sich BGE 147 II 375 (379) BGE 147 II 375 (380) dadurch, dass bei Entsendungen gemäss Art. 1 Abs. 1 lit. a EntsG der gewöhnliche Arbeitsort der Arbeitnehmer in der Regel bei der ausländischen Arbeitgeberin liege, während bei Entsendungen gemäss Art. 1 Abs. 1 lit. b EntsG die Arbeit am gewöhnlichen Arbeitsort der Arbeitnehmenden verrichtet werde.
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4.2 Art. 327a OR bestimmt, dass die Arbeitgeberin den Arbeitnehmern bei Arbeiten an auswärtigen Arbeitsorten die für den Unterhalt erforderlichen Aufwendungen zu ersetzen hat. Damit wird dem Umstand Rechnung getragen, dass die Unterhaltseinsparungen des Arbeitnehmers geringfügig sind und die Arbeitgeberin für die durch den auswärtigen Einsatz entstehenden Mehrkosten aufzukommen hat (Urteil 2C_316/2020 vom 20. Oktober 2020 E. 3; PORTMANN/ RUDOLPH, in: Basler Kommentar, Obligationenrecht, Honsell/Vogt/Wiegand [Hrsg.], Bd. I, 6. Aufl. 2015, N. 2 zu Art. 327a OR). Der gleiche Gedanke liegt auch Art. 2 Abs. 3 EntsG zugrunde, wonach die im Zusammenhang mit der Entsendung gewährten Entschädigungen nur als Lohnbestandteil gelten, sofern sie keinen Ersatz für tatsächlich getätigte Aufwendungen wie solche für Reise, Verpflegung und Unterkunft darstellen. Bei Entsendungen wird vermutet, dass der Arbeitnehmende seinen Wohnort bzw. seinen Lebensmittelpunkt im Ausland beibehält und dass ihm aufgrund dessen dort weiterhin Kosten entstehen. Aus diesem Grund bestimmt Art. 2 Abs. 3 EntsG, dass Unterkunfts- und Verpflegungskosten kein Lohnbestandteil sind und die Arbeitgeberin diese insofern nicht vom Lohn abziehen darf (vgl. KURT PÄRLI, in: Entsendegesetz [EntsG], 2018, N. 46 ff. zu Art. 2 EntsG).
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4.3 Entgegen den Ausführungen der Beschwerdeführerin bietet das Entsendegesetz keinen Anhaltspunkt, die Abzugsfähigkeit der Unterhalts- und Verpflegungskosten je nach Art der Entsendung unterschiedlich zu handhaben. Die Anwendung von Art. 2 Abs. 3 EntsG wird nicht dadurch ausgeschlossen, dass die entsandten Arbeitnehmenden ausschliesslich am Ort der schweizerischen Betriebsstätte der Beschwerdeführerin zum Einsatz kommen. In allen Konstellationen werden die Arbeitnehmenden nach den Bestimmungen des Staates entlöhnt und sozialversichert, in dem sie gewöhnlich ihre Arbeitsleistung erbringen (vgl. dazu auch Botschaft zum Entsendegesetz, BBl 1999 6394). Dies ist auch vorliegend der Fall. Die Arbeitnehmer der Beschwerdeführerin behalten ihren rechtlichen Wohnsitz in England und sind dem dortigen Sozialversicherungsrecht unterstellt. Auszugehen ist insofern auch vorliegend davon, dass die BGE 147 II 375 (380) BGE 147 II 375 (381) Arbeitnehmenden der Beschwerdeführerin ihren Lebensmittelpunkt im Ausland beibehalten und ihnen aufgrund der Entsendung höhere Lebenshaltungskosten entstehen, welche von der Beschwerdeführerin zu entschädigen sind. Offenbleiben kann mithin, ob der Ort der schweizerischen Betriebsstätte, an dem die Mitarbeiter der Beschwerdeführerin ihre Arbeit verrichten, als gewöhnlicher Arbeitsort im Sinne von Art. 327a OR zu qualifizieren ist. Als spezialgesetzliche Regelung geht Art. 2 Abs. 3 EntsG dieser Norm vor, insofern diese etwas anderes bestimmt. Nur so kann gewährleistet werden, dass die Entsendung von Arbeitnehmenden zu keinem unerwünschten Lohn- und Sozialdumping in der Schweiz führt.
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4.5 Das durch Art. 2 Abs. 3 EntsG statuierte Abzugsverbot der Unterkunfts- und Verpflegungskosten von entsandten Arbeitnehmern gilt jedoch nicht absolut. Es kommt nur insoweit zum Tragen, als dadurch der durch Art. 2 Abs. 1 EntsG garantierte Mindestlohn gefährdet wird. Abzüge für Verpflegung und Unterkunft, welche diesen nicht tangieren, sind grundsätzlich erlaubt. Sie dürfen jedoch gemäss Art. 3 Satz 2 EntsG nicht das ortsübliche Mass überschreiten. Diese auf einen parlamentarischen Antrag zurückgehende Bestimmung wurde eingeführt, weil die Praxis aufgezeigt hatte, dass Minimallöhne durch hohe Abzüge für Unterkunft und Verpflegung auf einfache Weise missbräuchlich umgangen werden können (Antrag Ständerat Jenny, AB 1999 S 667). Die Entstehungsgeschichte dieser Norm bringt insofern klar zum Ausdruck, dass mit ihr keine Schwächung des Lohnschutzes, sondern dessen Verbesserung erreicht werden sollte. Zudem widerlegt sie die Auffassung der Beschwerdeführerin, dass mit Art. 3 Satz 2 EntsG der Grundsatz der Abzugsfähigkeit der Kosten für Kost und Logis verankert wird bzw. bei Arbeitseinsätzen gemäss Art. 1 Abs. 1 lit. b EntsG zur Anwendung kommt. BGE 147 II 375 (381)
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BGE 147 II 375 (382)4.6 Zusammenfassend kann insofern festgehalten werden, dass das Abzugsverbot von Unterkunfts- und Verpflegungskosten gemäss Art. 2 Abs. 3 EntsG für alle Entsendekonstellationen gilt. Als Spezialnorm geht diese Norm sowohl Art. 327a OR als auch Art. 13 L-GAV vor, insofern diese davon abweichende Vorgaben enthalten. Das Abzugsverbot ist jedoch nicht absolut: Abzüge für Verpflegung und Unterkunft, welche den Mindestlohn nicht verletzen, sind grundsätzlich erlaubt, dürfen jedoch gemäss Art. 3 Satz 2 EntsG das ortsübliche Mass nicht überschreiten.
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5.4 Eine nationale Bestimmung verstösst jedoch in aller Regel nicht gegen das Diskriminierungsverbot, wenn sie sekundärrechtlichen BGE 147 II 375 (382) BGE 147 II 375 (383) unionsrechtlichen Bestimmungen entspricht (vgl. Urteil des EuGH vom 5. Oktober 2004 C-475/01 Kommission gegen Griechenland, Slg. 2004 I-08923 Randnrn. 18 und 24). Dies ist vorliegend der Fall. Art. 2 Abs. 3 EntsG ist sinngemäss Art. 3 Abs. 7 Unterabs. 2 der Richtlinie 96/71/EG nachgebildet, auf welche Art. 22 Anhang I FZA gemäss Art. 16 FZA Bezug nimmt.
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