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Informationen zum Dokument  BGE 80 IV 214  Materielle Begründung
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Regeste
Sachverhalt
Der Kassationshof zieht in Erwägung:
1. Ob Schneeberger am 19. Februar 1954 mit Recht des Grenzüb ...
2. Schneeberger hat die neue Straftat, wie die Vorinstanz fü ...
3. Das angefochtene Urteil beruht auf der Annahme, in diesem Fall ...
4. Wie dargelegt, ist die Tat, die Schneeberger vorsätzlich  ...
5. Man kann sich fragen, ob nicht schon Art. 6 StGB verbieten w&u ...
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45. Urteil des Kassationshofes vom 12. November 1954 i.S. Schneeberger gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern.
 
 
Regeste
 
Art. 41 Ziff. 3 Abs. 1 StGB. Welche im Auslande begangenen Handlungen sind Verbrechen oder Vergehen im Sinne dieser Bestimmung? (Erw. 1-3).  
 
Sachverhalt
 
BGE 80 IV, 214 (215)A.- René Schneeberger wurde am 29. Juni 1953 vom Statthalteramt Luzern-Land wegen Betruges (Art. 148 StGB), Zechprellerei (Art. 150 StGB), Fälschung von Ausweisen (Art. 252 StGB) und Falscheintragung in die Gästekontrolle (§ 16 luzern. EG zum StGB) zu zwei Monaten Gefängnis und Fr. 50.- Busse verurteilt. Der Vollzug der Freiheitsstrafe wurde bedingt aufgeschoben und die Probezeit auf drei Jahre bestimmt.
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B.- Am 19. Februar 1954 bestrafte das Amtsgericht Rotenburg (Deutschland) Schneeberger wegen Grenzübertritts ohne gültigen Reisepass, begangen anfangs Februar 1954, mit zehn Tagen Gefängnis.
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Mit Verfügung vom 25. August 1954 ordnete deshalb das Statthalteramt Luzern-Land den Vollzug der am 29. Juni 1953 verhängten Gefängnisstrafe an. Zur Begründung wird ausgeführt, Schneeberger sei für die während der Probezeit begangene Tat mit Gefängnis bestraft worden. Damit seien die Voraussetzungen des Art. 41 Ziff. 3 StGB für den Widerruf des bedingten Strafvollzuges erfüllt. Von einem besonders leichten Fall im Sinne des Art. 41 Ziff. 3 Abs. 2 StGB könne nach der Rechtsprechung des Kassationshofes bei der neuen Tat schon wegen der dafür verhängten Gefängnisstrafe nicht die Rede sein.
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C.- Gegen diese Verfügung hat Schneeberger die Nichtigkeitsbeschwerde ergriffen, mit dem Antrage, es sei vom Widerruf des bedingten Strafvollzuges abzusehen.
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D.- Die Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern beantragt, die Nichtigkeitsbeschwerde sei abzuweisen.
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Der Kassationshof zieht in Erwägung:
 
1. Ob Schneeberger am 19. Februar 1954 mit Recht des Grenzübertritts ohne gültigen Reisepass schuldig erklärt worden ist, ist im Verfahren nach Art. 41 Ziff. 3 BGE 80 IV, 214 (216)StGB auf Widerruf des bedingten Strafvollzuges nicht zu prüfen. Der Widerrufsrichter muss sich an das darüber ergangene rechtskräftige Urteil des Amtsgerichts Rotenburg (Deutschland) vom 19. Februar 1954 halten (BGE 74 IV 17Erw. 3).
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Für die neue Tat, die er in Deutschland begangen hat, ist Schneeberger vom Amtsgericht Rotenburg in Anwendung deutschen Rechts zu zehn Tagen Gefängnis verurteilt worden. Nach dem Recht des ausländischen Begehungsortes ist der ihm zur Last gelegte Grenzübertritt ohne gültigen Reisepass also ein Vergehen (§ 1 Abs. 2 des Strafgesetzbuches für das Deutsche Reich vom 15. Mai 1871). Nach schweizerischem Recht ist diese Tat bloss eine Übertretung (Art. 1 und 13 des BRB vom 10. April 1946 über Einreise und Anmeldung der Ausländer; Art. 23 letzter Absatz des BG vom 26. März 1931 über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer; Art. 101 und 333 StGB).
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3. Das angefochtene Urteil beruht auf der Annahme, in diesem Falle sei unter dem Gesichtspunkte des Art. 41 Ziff. 3 Abs. 1 i. i. StGB massgebend, dass die neue Straftat nach dem Recht des ausländischen Begehungsortes ein Verbrechen oder Vergehen bzw. dort mit Zuchthaus oder Gefängnis bedroht ist. Diese Auslegung geht fehl. Sie würde in vielen Fällen überhaupt zu keiner Lösung führen, nämlich dann, wenn das Recht des ausländischen Begehungsortes die strafbaren Handlungen nicht in Verbrechen oder BGE 80 IV, 214 (217)Vergehen einerseits und Übertretungen andererseits einteilt und auch nicht eine dem Strafensystem des StGB entsprechende dreifache Abstufung der Freiheitsstrafen, sondern beispielsweise die Einheitsstrafe kennt. In anderen Fällen hätte sie zur Folge, dass eine bestimmte Tat eines unter Bewährungsprobe stehenden Verurteilten nur dann zum Widerruf des bedingten Strafvollzuges führen müsste, wenn sie nicht in der Schweiz, sondern in einem bestimmten ausländischen Staate begangen worden ist, weil sie nur in diesem ein Verbrechen oder Vergehen ist, in anderen Staaten, vor allem in der Schweiz dagegen überhaupt nicht oder nur als Übertretung bestraft wird.
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Sinngemäss können unter den "Verbrechen oder Vergehen" des Art. 41 Ziff. 3 Abs. 1 StGB nur solche strafbare Handlungen verstanden werden, die nach schweizerischem Strafrecht Verbrechen oder Vergehen sind (THORMANN-OVERBECK, Kommentar, Art. 41 N. 16). Nur bei dieser Auslegung hängt, wie es der kriminalpolitischen Bedeutung dieser Vorschrift entspricht, der Widerruf des bedingten Strafvollzuges wegen vorsätzlicher Begehung eines Verbrechens oder Vergehens nicht davon ab, ob die neue Tat im In- oder Auslande begangen wurde.
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5. Man kann sich fragen, ob nicht schon Art. 6 StGB verbieten würde, wegen der neuen Verurteilung den bedingten Strafvollzug ohne weiteres zu widerrufen. Widerhandlungen gegen fremdenpolizeiliche Vorschriften gehören nicht zu den Auslieferungsdelikten. Gemäss Art. 6 Ziff. 1 BGE 80 IV, 214 (218)StGB ist Schneeberger daher wegen der in Deutschland begangenen Tat (Grenzübertritt ohne gültigen Reisepass) dem schweizerischen Strafgesetzbuch nicht unterworfen. Ist aber die Tat in der Schweiz überhaupt nicht als strafbare Handlung verfolgbar, so scheint sie auch nicht als Verbrechen oder Vergehen im Sinn des Art. 41 Ziff. 3 Abs. 1 StGB in Betracht zu kommen und nur dann zum Widerruf des bedingten Strafvollzuges führen zu können, wenn der Täter durch sie das auf ihn gesetzte Vertrauen getäuscht hat. Diese Frage braucht hier nicht entschieden zu werden, da die angefochtene Entscheidung aus den in Erw. 2-4 angeführten Gründen ohnehin aufgehoben werden muss.
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Demnach erkennt der Kassationshof:
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Die Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen, die Verfügung des Statthalteramtes Luzern-Land vom 25. August 1954 aufgehoben und die Sache zu neuer Entscheidung im Sinne der Erwägungen an die Vorinstanz zurückgewiesen.
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