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62. Urteil des Kassationshofes vom 21. Dezember 1973 i.S. X. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich | |
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Regeste |
| 1. Art. 220 StGB. Voraussetzungen, unter denen eine unmündige Person dem Inhaber der elterlichen oder vormundschaftlichen Gewalt "entzogen" wird (Erw. I 1-7). |
| a) Diese Bestimmung bezieht sich nicht nur auf die Strafverfolgung, sondern auch auf den Strafvollzug (Erw. II 2). |
| b) Begriff des Entziehens (Erw. II 3). | |
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Sachverhalt | |
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Es konnte nicht widerspruchsfrei abgeklärt werden, wie es zu dieser Entweichung gekommen war. Jedenfalls trafen die entwichenen Zöglinge am späten Abend, ca. um 22.00 Uhr, grüppchenweise an einem verabredeten Treffpunkt an der Wiesenstrasse in Zürich mit Leuten der "Heimkampagne" zusammen. Von dort aus wurden sie für die Nacht vom 26./27. September 1971 von diesen an verschiedenen Orten in Zürich und Umgebung untergebracht. Am Abend des 27. September 1971 wurden sie an ihren Aufenthaltsorten abgeholt und nach Ebnat-Kappel/SG in eine Kommune transportiert. Dort besprachen die Leute der "Heimkampagne" mit den Zöglingen das weitere Vorgehen. Es wurde gemeinsam beschlossen, die Entweichung zu benützen, die Öffentlichkeit über die Massenmedien auf angeblich unhaltbare Zustände in der Anstalt Uitikon aufmerksam zu machen und entsprechende Forderungen aufzustellen. Bis dies in geeigneter Form gelungen sei, sollten die Zöglinge versteckt gehalten werden und nicht in die Anstalt zurückkehren. Die Leute der "Heimkampagne" bemühten sich um Unterbringung, Verpflegung und Weitertransport der Zöglinge sowie um die Weiterleitung ihrer Anliegen an die Öffentlichkeit. Am 29. September 1971 wurden die Zöglinge nach Brione-TI gebracht, am 3. Oktober fuhren sie mit der Bahn nach Arth-Goldau. Von hier wurden vier Zöglinge nach Zürich gefahren, wo die Polizei sie festnahm. Die übrigen 13 Zöglinge wurden nach Brunnadern und von dort am 4. Oktober 1971 nach Basel verbracht. Nach einer Übernachtung im Jura wurden sie am 6. Oktober 1971 nach Tenniken transportiert, wo sie am 7. Oktober vom Fernsehen interviewt wurden. Am 9. Oktober 1971 kehrten sie in die Nähe der Anstalt zurück; sie wurden in einer Kiesgrube in der Nähe von Birmensdorf von der Polizei angehalten.
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2. X. erhielt an einem nicht sicher feststehenden Tag, | |
Auf Berufung hin bestätigte das Obergericht des Kantons Zürich am 29. Mai 1973 den erstinstanzlichen Schuldspruch, ermässigte aber die Gefängnisstrafe auf 7 Tage und die Probezeit auf zwei Jahre.
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Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
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I.1.- Erste Voraussetzung einer Verurteilung nach Art. 220 StGB ist, dass der Unmündige dem Inhaber der elterlichen oder vormundschaftlichen Gewalt entzogen wird.
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Zur Zeit der Flucht waren deren zehn der entwichenen Zöglinge unmündig. Davon scheiden jene aus, die schon vor dem Eingreifen des Beschwerdeführers verhaftet worden waren (M., Sch., S.) und deren gesetzliche Vertreter keinen Strafantrag gestellt haben (M., Sch.). Von den fünf andern waren zwei gemäss Art. 91 Abs. 1 StGB (B., L.) und zwei "administrativ" | 6 |
a) H. und K. sind bevormundet und gemäss Urteil des Obergerichtes "administrativ" eingewiesen.
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Die Vorinstanz setzt die administrative Einweisung in Gegensatz zur strafrechtlichen Einweisung gemäss Art. 43 und 91 Abs. 1 StGB. Sie zählt darunter auch die vormundschaftliche Einweisung gemäss Art. 405 und 421 Ziff. 13 ZGB, indem sie ausführt: "Noch klarer ist die Verletzung der vormundschaftlichen Gewalt bei den durch die Vormundschaftsbehörde eingewiesenen Zöglingen, da diese Einweisung regelmässig mit dem Willen, wenn nicht auf Antrag des Vormundes erfolgt und somit einer vom Inhaber der Gewalt ausgehenden Plazierung entspricht." Aus den Akten im Verfahren gegen T. ergibt sich, dass sowohl H. als auch K. durch Beschluss der Vormundschaftsbehörde eingewiesen worden sind. Die Anstalt Uitikon übte demnach die Gewalt über die beiden Zöglinge für die Vormundschaftsbehörde aus. Wer die Zöglinge der Anstalt entzieht, entzieht sie daher auch der vormundschaftlichen Gewalt (HAFTER, BT II S. 445 oben; LOGOZ, Art. 220 N. 4 a). Im vorliegenden Fall kann aber der Beschwerdeführer nicht dafür verantwortlich gemacht werden, dass die Zöglinge schon am 26. September 1971 die Anstalt verlassen hatten. Denn daran war er nicht beteiligt. Hingegen ist er strafbar, wenn er die Zöglinge später, d.h. in der Zeit zwischen dem 6. und 9. Oktober der Anstalt entzogen oder vorenthalten haben sollte.
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b) Die Vorinstanz hat ein Entziehen oder Vorenthalten aus elterlicher bzw. vormundschaftlicher Gewalt auch in jenen Fällen angenommen, in denen die Zöglinge sich gemäss Art. 91 Abs. 1 StGB, also gestützt auf eine jugendstrafrechtliche Verurteilung zu einer Erziehungsmassnahme, in der Anstalt befanden. Denn durch diese Verurteilung sei die elterliche bzw. vormundschaftliche Gewalt nicht allgemein, sondern nur in bezug auf die Bestimmung des Aufenthaltsortes eingeschränkt worden.
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Diese Begründung übersieht, dass Art. 220 StGB nicht jede Behinderung in der Ausübung der elterlichen oder vormundschaftlichen Gewalt unter Strafe stellt. So verstanden erhielte diese Vorschrift einen nur schwer begrenzbaren Anwendungsbereich. Darunter fällt nicht jedes Tun oder Unterlassen, das den Inhaber der Gewalt hindert, frei über die Erziehung und | 10 |
Soweit sich unmündige Zöglinge gemäss Art. 91 Abs. 1 StGB in der Anstalt befanden, leiteten die Anstaltsorgane ihre Gewalt von der Strafjustiz, nicht von der elterlichen bzw. vormundschaftlichen Gewalt ab. Während des Vollzugs der jugendstrafrechtlichen Massnahmen in der Anstalt ruht die elterliche und vormundschaftliche Gewalt weitgehend. Das gilt grundsätzlich auch dann, wenn der Zögling vorübergehend aus der Anstalt entflohen ist. Solange die Vollzugs- und Anstaltsorgane ihre Gewalt weiterhin zur Geltung bringen und z.B. versuchen, den Zögling wieder in die Anstalt zurück zu versetzen, sind sie allein berechtigt, über den Aufenthaltsort des Jugendlichen zu befinden. Eltern und Vormund können sich nur unterstützend, gemäss Anweisung der Vollzugsbehörden einschalten. Das ist aber keine elterliche oder vormundschaftliche Gewalt, wie sie | 11 |
c) Was für die gemäss Art. 91 Abs. 1 StGB eingewiesenen Zöglinge gilt, trifft sinngemäss auch für M. zu, der sich in Untersuchungshaft befand. Über seinen Aufenthaltsort verfügten die Strafverfolgungsbehörden und der Strafrichter gemäss Strafprozessordnung.
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d) Da immerhin noch zwei unmündige Zöglinge der vormundschaftlichen Gewalt unterstanden, ist eine Voraussetzung für die Anwendung des Art. 220 StGB erstellt.
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a) Der Beschwerdeführer bestreitet, die Zöglinge den Inhabern der elterlichen und vormundschaftlichen Gewalt entzogen zu haben. Denn die Zöglinge seien schon am 26. September 1971 der Anstalt entronnen, also bevor er am 6. Oktober 1971 eingegriffen habe.
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Diese Begründung übersieht, dass auch eine unmündige Person, welche sich nicht oder nicht mehr in der Gewalt der Eltern oder des Vormundes befindet, dem Inhaber der Gewalt entzogen werden kann. Dies geschieht dann, wenn der Täter verhindert, dass der Unmündige (wieder) in die Gewalt des Berechtigten gelangt. Das aber hat der Beschwerdeführer gewollt, indem er den Zöglingen einen Unterschlupf im Hause von G. und im | 15 |
b) Zu Unrecht macht der Beschwerdeführer geltend, blosses Beherbergen und Ernähren könne nicht strafbar sein. Wie die Vorinstanz mit Recht feststellt, beschränkte er sich nicht darauf, dringende Hilfe an einen notleidenden Flüchtigen zu leisten. Was er anstrebte, war vielmehr, den Berechtigten die Zöglinge solange zu entziehen, bis diese ihre Anliegen durch Presse oder Fernsehen der Öffentlichkeit vorgetragen hätten.
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c) Zum Tatbestand des Art. 220 StGB gehört im übrigen nicht, dass der Täter den Unmündigen dauernd der Gewalt entziehe. Es genügt, dass er es vorübergehend tue. Die Zeit vom 6.-9. Oktober 1971, während welcher die Zöglinge von Rechts wegen in der Anstalt hätten sein sollen und behördlich aktiv gesucht wurden, würde den Anforderungen des Art. 220 StGB auch dann genügen, wenn man mit dem deutschen (Leipziger Kommentar, 9. Aufl., 12. Lieferung, § 235 N. 3) und dem französischen Recht (Encyclopédie Dalloz, Droit pénal, Enlèvement de mineurs, Art. 356 CP, N. 46) im Entziehen ein Vergehen sehen würde, das eine gewisse Zeit dauern muss.
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d) Wie bereits dargetan, genügt es nicht, dass der Täter die Zöglinge irgendeiner Gewalt, z.B. den Behörden der Strafverfolgung oder des Strafvollzugs entzogen hat; er muss sie vielmehr der elterlichen oder vormundschaftlichen Gewalt entzogen haben. Besteht die Tat darin, dass ein Unmündiger, der sich zur Zeit der Tat nicht mehr in der Gewalt der Eltern oder des Vormundes befindet, entzogen oder vorenthalten wird, muss daher zusätzlich verlangt werden, dass der Inhaber dieser Gewalt sich um die Wiedererlangung der Gewalt bemüht oder es erwartungsgemäss in naher Zeit tun wird. Soweit im vorliegenden Falle die Zöglinge durch die Vormundschaftsbehörde eingewiesen wurden, die Anstalt ihre Befugnisse also von der vormundschaftlichen Gewalt ableitete, waren die von den Anstaltsorganen veranlassten Bemühungen um Rückschaffung der entwichenen Unmündigen durch die vormundschaftliche Gewalt mitgetragen. Insoweit ist also der Tatbestand des Art. 220 StGB erfüllt.
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e) Unter Hinweis auf den sog. Muntbruch gemäss § 235 Abs. 1 des deutschen Strafgesetzbuches wendet der Beschwerdeführer ferner ein, der Unmündige selber, der sich der Gewalt | 19 |
II.1.- Begünstigung im Sinne von Art. 305 StGB setzt voraus, dass der Täter jemanden der Strafverfolgung, dem Strafvollzug oder dem Vollzug einer der in den Artikeln 42-44 und 100bis StGB vorgesehenen Massnahmen entzieht.
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b) Andere Zöglinge waren "administrativ" oder durch die Vormundschaftsbehörde eingewiesen. Da es sich hier nicht um eine strafrechtliche Einweisung handelt, scheidet Art. 305 StGB aus (BGE 96 IV 76). Der Beschwerdeführer wurde deswegen auch nicht verurteilt.
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c) Die Massnahmen des Jugendstrafrechts werden in Art. 305 StGB absichtlich nicht erwähnt. Der Entwurf 1918 (Art. 269) erwähnte die "strafrechtlichen Massnahmen" schlechthin. Die Bundesversammlung hat Art. 305 StGB demgegenüber auf die in Art. 42-45 StGB (alte Fassung) vorgesehenen Massnahmen eingeschränkt. Der Einbezug anderer als der in Art. 305 StGB erwähnten Massnahmen würde daher gegen den Grundsatz "keine Strafe ohne Gesetz" verstossen, welches auch immer die Gründe für diese Einschränkung gewesen sein mochten. Das hat die Vorinstanz nicht verkannt.
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d) Drei Zöglinge (K., S. und W.) waren gemäss der alten Fassung von Art. 43 StGB in die Arbeitserziehungsanstalt eingewiesen worden. Mit Recht hat der Beschwerdeführer die Verurteilung wegen Begünstigung insoweit nicht angefochten. Da Art. 305 StGB in der Fassung des BG vom 18. März 1971 neben den Art. 42-44 den Art. 100bis StGB, der die neue Form der Arbeitserziehung enthält, ausdrücklich erwähnt, ist klar, dass die Begünstigung sich nach wie vor auch auf die Massnahme der Arbeitserziehung bezieht, mag diese nun gestützt auf den alten Art. 43 StGB oder den neuen Art. 100bis StGB angeordnet worden sein. Nach verbindlicher Feststellung der Vorinstanz hat der Beschwerdeführer auch damit gerechnet, dass unter den entwichenen Zöglingen sich solche befanden, die aus diesem Grunde eingewiesen waren. Nur hinsichtlich dieser Zöglinge kann sich der Beschwerdeführer also der Begünstigung schuldig gemacht haben.
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Die Strafverfolgung wie der Strafvollzug, insbesondere der Vollzug von Freiheitsstrafen und sichernden Massnahmen, besteht indessen regelmässig in einer Vielzahl von Amtshandlungen der Strafverfolgungs- bzw. der Vollzugsbehörden. Eine sinngemässe Auslegung des Gesetzes muss klären, ob unter Strafverfolgung (poursuite pénale; atti di procedimento penale) und dem Strafvollzug bzw. dem Vollzug von Massnahmen (Exécution d'une peine ou d'une des mesures...; esecuzione di una pena o di una delle misure...) die Gesamtheit der Strafverfolgungshandlungen von der Eröffnung des Verfahrens bis zur rechtskräftigen Einstellung oder bis zum rechtskräftigen Urteil bzw. alle Vollstreckungshandlungen von der Aufforderung zur Zahlung der Busse oder vom Strafantritt bis zur letzten Vollzugshandlung zu verstehen ist, oder ob darunter schon der einzelne Akt der Strafverfolgung oder des Strafvollzugs fällt. Diese Frage ist nicht nur für die Vollendung, sondern auch für die Begriffe des Entziehens und des Entziehungsvorsatzes von | 25 |
Hinsichtlich der Strafverfolgung wurde in BGE 69 IV 119 /20 ausgeführt, der Tatbestand der Begünstigung sei bereits gegeben, wenn der Verfolgte irgend einer Amtshandlung der Strafverfolgungsbehörden, z.B. schon der Eröffnung eines Strafverfahrens, nicht erst, wenn er dem Ausspruch der Strafe entzogen werde. Diese Auslegung findet im italienischen Text eine klare Stütze ("sottrae una persona ad atti di procedimento penali"), aber auch im französischen Marginale zu Art. 305 StGB "entrave à l'action pénale", welches keine völlige Vereitelung des Strafverfahrens schlechthin voraussetzt. Diese gesetzlichen Äusserungen beziehen sich allerdings nur auf die Strafverfolgung. Es ist aber nicht anzunehmen, der Gesetzgeber habe den Begriff des Entziehens im Falle der Begünstigung im Vollzug enger fassen wollen. Dazu besteht kein Grund. Mochte in der ersten Expertenkommission vielleicht die Ansicht vorgeherrscht haben, die Begünstigung sei erst vollendet, wenn der Begünstigte der Verfolgung oder dem Vollzug gänzlich entzogen sei (Verhandlungen der I. ExpK, Bd. 2, S. 272), so blieben in der zweiten Expertenkommission die Äusserungen von ZÜRCHER unwidersprochen; nach diesen vermag der Umstand, dass es der Polizei nachträglich gelingt, den Begünstigten zu fassen, die vollendete Begünstigung nicht in das Stadium des Versuchs zurückzuversetzen (Erläuterungen zum Vorentwurf 1908 S. 388 f); denn auch eine vorübergehende Entziehung vollendet das Delikt (Prot. V. S. 246; vgl. ZBJV 82, S. 84 f; SJZ 43, S. 311, 58 S. 28). Andernfalls wäre die Vollzugsbegünstigung praktisch erst vollendet, wenn aus besonderen Gründen wie Vollstreckungsverjährung oder Tod des Begünstigten der Vollzug nicht mehr möglich ist. Auch das vom Beschwerdeführer angezogene deutsche Recht betrachtet die Tat als vollendet, wenn der Begünstigte bloss vorübergehend der Strafverfolgung oder dem Vollzug entzogen wurde. Die Begünstigung im Sinne des § 257 d. StGB erfordert als Unternehmensdelikt überhaupt keinen Erfolg; es genügt, dass der Täter "nach Begehung eines | 26 |
Demnach erkennt das Bundesgericht:
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