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Informationen zum Dokument  BGE 103 IV 294  Materielle Begründung
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Regeste
Sachverhalt
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1. Art. 15 der Verordnung über die Verkehrsregeln (VRV) ordn ...
2. Der Beschwerdeführer bestreitet mit Recht nicht, dass er  ...
3. Auch der Wartepflichtige kann sich auf das Vertrauensprinzip s ...
4. Jede Richtungsänderung, namentlich das Einspuren und der  ...
5. Der wartepflichtige Beschwerdeführer durfte über die ...
6. Die Fahrfehler des G. entlasten K. nicht. Es kam nicht zu eine ...
7. Der Beschwerdeführer wurde somit zu Recht wegen Verletzun ...
Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch)  
 
81. Urteil des Kassationshofes vom 30. September 1977 i.S. K. gegen Polizeirichteramt der Stadt Zürich
 
 
Regeste
 
Art. 36 SVG; Art. 14, 15 VRV.  
1. Einbiegen in den nächsten Fahrstreifen und sofortiges Weiterfahren sind zulässig, wenn kein auf diesem Streifen fahrender Verkehrsteilnehmer behindert wird und kein Anzeichen für einen Spurwechsel eines auf einem entfernteren Streifen nahenden Fahrzeuges spricht.  
2. Wie hat sich der Wartepflichtige zu verhalten, der nach dem Einbiegen in einen weiter links gelegenen Fahrstreifen gelangen will?  
 
Sachverhalt
 
BGE 103 IV, 294 (294)A.- Über den Bahnhofplatz Zürich führt der Strassenverkehr in westlicher Richtung auf zwei durch eine Leitlinie getrennten BGE 103 IV, 294 (295)Fahrstreifen. Bodenpfeile markieren die linke Spur für Linksabbieger Richtung Löwenstrasse, die rechte Spur für Geradeausfahrt Richtung Gessnerallee.
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Nördlich von diesen Fahrstreifen, teils durch eine unterbrochene Begrenzungslinie, teils durch eine Verkehrsinsel getrennt, befindet sich unmittelbar vor dem Bahnhofgebäude eine Verkehrsfläche, die einen Bus- und einen Taxihaltplatz und Taxistandplätze aufweist (vgl. nachstehende Skizze).
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B.- Am 19. August 1975 um 08.30 Uhr fuhr K. mit seinem Taxi vom Halteplatz beim Bahnhof weg. Er beabsichtigte, über die Begrenzungslinie in die Fahrbahn zu gelangen und dort in der Linksabbiegespur weiterzufahren. Die Geradeausspur war frei, auf Sichtdistanz nahte kein Fahrzeug. Auf der linken Spur fuhr eine lockere Autokolonne. K. fuhr schräg in die rechte Spur ein und hielt seinen Wagen an, um sich bei erster Gelegenheit in eine Lücke auf dem linken Fahrstreifen einzufügen. Das rechte Hinterrad seines Wagens befand sich noch auf der Begrenzungslinie, der grösste Teil des Taxis versperrte in Schrägstellung die rechte Fahrspur.
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Der auf dem linken Fahrstreifen nahende Automobilist G. wechselte unvermittelt und ohne Zeichengabe die Spur und stiess auf den stillstehenden Taxi.
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C.- Mit Urteil vom 14. Dezember 1976 verurteilte der Einzelrichter in Strafsachen des Bezirksgerichts Zürich K. im Sinne von Art. 90 Ziff. 1 SVG in Verbindung mit Art. 15 Abs. 3 Satz 1 VRV zu einer Busse von Fr. 40.--.
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Eine von K. dagegen eingereichte Nichtigkeitsbeschwerde hat die I. Strafkammer des Obergerichts des Kantons Zürich mit Beschluss vom 24. Mai abgewiesen.
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BGE 103 IV, 294 (296)D.- Mit eidgenössischer Nichtigkeitsbeschwerde beantragt K. durch seinen Verteidiger, der Beschluss des Obergerichts sei aufzuheben und die Sache sei zur Freisprechung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
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Das Polizeirichteramt beantragt Abweisung der Beschwerde.
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Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
 
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Demgegenüber beruft sich K. auf Art. 44 Abs. 1 SVG, der einen Wechsel des Fahrstreifens nur gestattet, wenn dadurch der übrige Verkehr nicht gefährdet wird. Überdies beruft er sich auf das Vertrauensprinzip. Mangels objektiver Anzeichen habe er nicht damit rechnen müssen, dass G. ohne Zeichengabe unvermittelt die Spur wechsle.
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BGE 103 IV, 294 (297)4. Jede Richtungsänderung, namentlich das Einspuren und der Wechsel des Fahrstreifens, muss rechtzeitig mit dem Richtungsanzeiger oder durch deutliches Handzeichen angekündet werden (Art. 39 Abs. 1 lit. a SVG). Ein markierter Fahrstreifen darf zudem nur verlassen werden, wenn der übrige Verkehr nicht gefährdet wird (Art. 44 Abs. 1 SVG). Diesen Vorschriften kommt gerade im Stadtverkehr, wo immer häufiger in Kolonnen auf nebeneinander liegenden Fahrstreifen gefahren wird, zunehmende Bedeutung zu, auch wenn das geltende Recht noch nicht wie in den USA das Hauptgewicht auf die Regel legt, die Fahrspur beizubehalten. Richtig ist allerdings, dass häufig gegen die Pflicht verstossen wird, den Spurwechsel anzuzeigen. Daraus kann jedoch nicht abgeleitet werden, es müsse allgemein mit einem solchen Fahrfehler gerechnet und darauf Rücksicht genommen werden. Dies würde zu einer Aushöhlung des Vertrauensprinzips und neuen Unklarheiten führen.
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a) Die entferntere linke Spur war von mehreren Autos belegt. K. hatte deren Vorbeifahrt und eine ausreichende Lücke abzuwarten, wenn er in jene Spur fahren wollte.
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b) Die nähere Geradeausspur war frei. Von links her nahte auf grössere Distanz kein in dieser Spur fahrender Verkehrsteilnehmer. Keines der in der linken Spur fahrenden Autos hatte den rechten Blinker eingeschaltet oder zeigte andere Anzeichen für einen bevorstehenden Spurwechsel, z.B. ein beginnendes Abbiegen nach rechts. Bei dieser Situation durfte der Beschwerdeführer in die Geradeausspur einbiegen und darauf weiterfahren. Wäre es dabei zur Kollision mit dem Wagen G. gekommen, weil dieser ohne Rücksicht auf den übrigen Verkehr und ohne Zeichen nach rechts ausbog, so könnte K. kein Vorwurf gemacht werden.
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c) Die Auffassung der Vorinstanz, K. hätte die Begrenzungslinie nur überfahren dürfen, wenn beide Fahrstreifen auf genügende Distanz frei waren, geht fehl. Sie stützt sich auf die in Ziffer 4 erörterte und abgelehnte These, es müsse jederzeit mit einem regelwidrigen Spurwechsel ohne Anzeige gerechnet werden.
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BGE 103 IV, 294 (298)Eine solche Auslegung ist zudem verkehrsfremd. Im städtischen Stossverkehr könnte kaum mehr auf Hauptstrassen mit mehreren Fahrstreifen eingemündet werden, da praktisch immer mindestens auf einem Streifen Fahrzeuge nahen.
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Auch die Einfahrt auf Autobahnen würde erheblich erschwert. Nähert sich der verkehrsgewohnte Fahrer auf der Autobahn einer Einfahrt und fährt dort ein Wagen auf der Beschleunigungsspur, so gibt er womöglich die rechte Fahrspur frei, damit der andere unbehindert mit steigender Geschwindigkeit einbiegen kann. Müsste dieser aber abwarten, bis beide Spuren frei sind, so käme es zu gefährlichen Stockungen in der Beschleunigungsspur, mit langsamer Einfahrt auf kurze Distanz.
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d) K. bog ein, um Richtung Löwenstrasse zu fahren. Hiefür hatte er drei Möglichkeiten: Er konnte eine genügend grosse Lücke auf beiden Fahrstreifen abwarten und direkt von seinem Standort hinter der Begrenzungslinie in die Abbiegespur hinüberfahren. Statt dessen konnte er in die freie Geradeausspur einbiegen und dort weiterfahrend versuchen, unter Rücksichtnahme auf den übrigen Verkehr in die linke Spur zu wechseln. Gelang dies nicht rechtzeitig vor der Verzweigung, so musste er in der Geradeausspur bleiben und sein Ziel auf einem Umweg erreichen. Bei starkem Verkehr blieb ihm von Anfang an keine andere Wahl.
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K. wählte keine dieser Möglichkeiten. Er fuhr in die Geradeausspur ein und hielt dort an, wobei er diese Spur blockierte. Nach der Verkehrslage konnte er nicht annehmen, dies ohne Behinderung Vortrittsberechtigter tun zu können. War auch die rechte Spur beim Passieren der Begrenzungslinie frei, sodass er bei sofortiger Weiterfahrt niemanden behinderte, so musste er doch darauf gefasst sein, dass in kürzester Zeit ein Fahrzeug von hinten auftauchen oder dass ein Fahrer aus der linken nach korrekter Anzeige in die rechte Spur fahren werde. Diesen Vortrittsberechtigten verlegte er mit seinem stillstehenden Taxi den Weg und behinderte sie damit in der Weiterfahrt. Er hätte hinter der Begrenzungslinie anhalten oder sofort in der rechten Spur weiterfahren müssen.
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6. Die Fahrfehler des G. entlasten K. nicht. Es kam nicht zu einem Zusammenstoss der beiden fahrenden Wagen, weil K. mangels Richtungsanzeige von G. dessen Spurwechsel nicht voraussehen konnte und musste. K. war bereits in die rechte Spur eingefahren und hatte seinen Wagen angehalten, als G. BGE 103 IV, 294 (299)die Spur wechselnd in ihn hineinfuhr. Es war daher für den Zusammenstoss bedeutungslos, ob der Blinker eingeschaltet war oder nicht. Wäre G. genügend aufmerksam gewesen, so hätte er wohl den Aufprall vermeiden können. Er hätte aber jedenfalls stark abbremsen oder den Spurwechsel aufgeben müssen. Damit war er vom wartepflichtigen K. in seiner Fahrt behindert worden.
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Im übrigen ist das Verhalten des G. in diesem Verfahren nicht zu beurteilen. Im Strafrecht gibt es keine Schuldkompensation.
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Demnach erkennt das Bundesgericht:
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Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.
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