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Informationen zum Dokument  BGE 121 IV 286  Materielle Begründung
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Regeste
Sachverhalt
Aus den Erwägungen:
2. a) Dem zu beurteilenden Fall liegt folgender Sachverhalt zugru ...
3. Eine Verurteilung nach Art. 125 Abs. 2 StGB wegen fahrläs ...
4. a) Wie die Vorinstanz zu Recht erkannt hat, verletzte der Besc ...
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46. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 31. August 1995 i.S. A. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Thurgau und K. (Nichtigkeitsbeschwerde)
 
 
Regeste
 
Art. 18 Abs. 3, 125 Abs. 2 StGB, Art. 32 SVG, Art. 4a Abs. 1 VRV; fahrlässige schwere Körperverletzung, Geschwindigkeitsüberschreitung; Kausalität.  
Mit der allgemeinen Höchstgeschwindigkeit darf nur unter günstigen Strassen-, Verkehrs- und Sichtverhältnissen gefahren werden (E. 4b; Bestätigung der Rechtsprechung). Das überraschende Betreten des Fussgängerstreifens auf einer belebten Strasse zur Mittagszeit ist nicht derart aussergewöhnlich, dass damit schlechterdings nicht gerechnet werden müsste (E. 4b).  
Bei Kollisionen zwischen einem Personenwagen und einem Fussgänger ist der Erfolg der schweren Körperverletzung schon bei einer geringfügigen Herabsetzung der Fahrgeschwindigkeit mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vermeidbar. Fall eines Automobilisten, der mit 50 km/h eine Kollision verursacht hat, deren schwere Verletzungsfolgen bei einer Bremsausgangsgeschwindigkeit von 40 km/h vermeidbar gewesen wären (E. 4c).  
 
Sachverhalt
 
BGE 121 IV, 286 (287)A.- Am 6. Mai 1992 ereignete sich in Sirnach ein Unfall, bei dem A. als Lenker eines Personenwagens den Fussgänger K. anfuhr, welcher überraschend den Fussgängerstreifen betreten hatte. Dieser erlitt dabei schwere Verletzungen. Mit Urteil vom 18. November 1993 sprach das Bezirksgericht Münchwilen A. von der Anklage der fahrlässigen Körperverletzung und des pflichtwidrigen Verhaltens bei Unfall frei. Die Zivilforderung verwies es auf den Zivilweg. Auf Berufung des Geschädigten sowie der BGE 121 IV, 286 (288)Staatsanwaltschaft hin erklärte das Obergericht des Kantons Thurgau A. in zweiter Instanz mit Urteil vom 15. September 1994 der fahrlässigen schweren Körperverletzung schuldig und verurteilte ihn zu einer Busse von Fr. 1'500.--, bedingt löschbar nach Ablauf einer Probezeit von einem Jahr. Hinsichtlich des Freispruchs von der Anklage des pflichtwidrigen Verhaltens bei Unfall bestätigte es den erstinstanzlichen Entscheid. Ferner stellte es fest, dass dem Opfer dem Grundsatz nach unter Vorbehalt eines allfälligen Mitverschuldens ein zivilrechtlicher Entschädigungsanspruch zustehe.
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B.- Gegen diesen Entscheid führt A. eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde, mit der er beantragt, das angefochtene Urteil sei aufzuheben und er sei von Schuld und Strafe freizusprechen; eventualiter sei die Sache zur Freisprechung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
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Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit es darauf eintritt.
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Aus den Erwägungen:
 
2. a) Dem zu beurteilenden Fall liegt folgender Sachverhalt zugrunde: Der Beschwerdeführer fuhr am Mittwoch, den 6. Mai 1992, um 11.50 Uhr mit seinem Personenwagen auf der Wilerstrasse in Sirnach von Gloten her, mit einer Geschwindigkeit von ca. 50 km/h, in Richtung Dorfmitte. Etwa 40 m vor dem Fussgängerstreifen im Bereich der Einmündung der Obermattstrasse bemerkte er den Beschwerdegegner, der als Fussgänger mit raschen Schritten von rechts aus der Obermattstrasse herannahte, wobei die Sicht durch ein vor der Einmündung dieser Strasse wartendes Fahrzeug teilweise beeinträchtigt wurde. Auf dem gegenüberliegenden Trottoir auf der Höhe des Fussgängerstreifens befand sich zur gleichen Zeit eine Gruppe Kinder. In der Folge setzte der Beschwerdegegner zur Überquerung der Wilerstrasse an und betrat praktisch ohne Verzögerung den Fussgängerstreifen. Trotz einem Bremsmanöver, das der Beschwerdeführer einleitete, als er sich rund 18 m vor der Unfallstelle befand, gelang es ihm nicht mehr, eine Kollision zu verhindern. Der Zusammenprall ereignete sich auf dem Fussgängerstreifen, ca. 1,5 m vom rechten Trottoirrand entfernt. Der Beschwerdegegner schlug mit dem Kopf gegen die Windschutzscheibe und wurde an den Strassenrand geschleudert. Durch den Zusammenstoss erlitt er ein lebensgefährliches BGE 121 IV, 286 (289)Schädel-Hirn-Trauma, das zu einer bleibenden Hirnleistungsstörung führte.
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b) Die Vorinstanz stellt gestützt auf ein vom Beschwerdeführer vor erster Instanz eingereichtes verkehrstechnisches Gutachten fest, dass sich die Kollision hätte vermeiden lassen, wenn die Zufahrtsgeschwindigkeit des Beschwerdeführers nicht 50 km/h, sondern höchstens 42 km/h betragen hätte. Aufgrund der Umstände sei eine Geschwindigkeit von maximal 40 km/h den Verhältnissen angemessen gewesen. Denn der Beschwerdeführer habe unmittelbar vor der Mittagessenszeit generell mit einem erhöhten Verkehrsaufkommen und zusätzlichen Fussgängern rechnen müssen. Er habe denn auch den Beschwerdegegner, der sich auf den Fussgängerstreifen zubewegte, wahrgenommen und auf dem linken Trottoir auf der Höhe des Streifens spielende Kinder gesehen. Ausserdem habe an der Verzweigung Obermattstrasse ein nicht vortrittsberechtigter Personenwagen gewartet, der die Fahrbahn aus der Sicht des Beschwerdeführers etwas verengt haben dürfte.
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c) Der Beschwerdeführer macht eine Verletzung von Art. 32 und 33 SVG (SR 741.01) sowie Art. 6 VRV (SR 741.11) geltend. Der Lenker eines Motorfahrzeuges sei nicht generell verpflichtet, seine Geschwindigkeit im Bereich eines Fussgängerstreifens zu reduzieren. Es sei für ihn nicht erkennbar gewesen, dass der Beschwerdegegner die Wilerstrasse überqueren würde. Er habe keine Möglichkeit gehabt, zu bremsen und die Kollision zu vermeiden.
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3. Eine Verurteilung nach Art. 125 Abs. 2 StGB wegen fahrlässiger schwerer Körperverletzung setzt voraus, dass der Erfolg durch sorgfaltswidriges Verhalten des Täters verursacht wurde. Sorgfaltswidrig ist die Handlungsweise dann, wenn der Täter zum Zeitpunkt der Tat aufgrund der Umstände sowie seiner persönlichen Kenntnisse und Fähigkeiten die damit bewirkte Gefährdung der Rechtsgüter des Opfers hätte erkennen können und müssen (Art. 18 Abs. 3 Satz 2 StGB) und wenn er zugleich die Grenzen des erlaubten Risikos überschritt. Erkennbar bzw. voraussehbar ist die Gefahr des Erfolgseintritts für den Täter, wenn sein Verhalten geeignet ist, nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge und den Erfahrungen des Lebens einen Erfolg wie den eingetretenen herbeizuführen oder mindestens zu begünstigen. Es genügt dabei, wenn der Täter in groben Zügen den zum Erfolg führenden Kausalverlauf als Folge seines pflichtwidrigen Verhaltens voraussehen konnte (BGE 121 IV 10 E. 3; BGE 118 IV 130 E. 3, BGE 116 IV 306 E. 1a; REHBERG, Strafrecht I, 5. Aufl. 1993, S. 206; TRECHSEL/NOLL, Schweizerisches BGE 121 IV, 286 (290)Strafrecht, Allg. Teil I, 4. Aufl. 1994, S. 245; NAY, Der Lawinenunfall aus der Sicht des Strafrichters, ZGRG 13/94, S. 51). Die Vorhersehbarkeit ist zu verneinen, wenn ganz aussergewöhnliche Umstände, wie das Mitverschulden eines Dritten oder Material- oder Konstruktionsfehler, als Mitursachen hinzutreten, mit denen schlechthin nicht gerechnet werden musste und die derart schwer wiegen, dass sie als wahrscheinlichste und unmittelbarste Ursache des Erfolges erscheinen und so alle anderen mitverursachenden Faktoren - namentlich das Verhalten des Angeschuldigten - in den Hintergrund drängen (BGE 120 IV 300 E. 3e, BGE 115 IV 100 E. 2b und 199 E. 5c). Wo besondere Normen ein bestimmtes Verhalten gebieten, bestimmt sich das Mass der dabei zu beachtenden Sorgfalt in erster Linie nach diesen Vorschriften. Das schliesst nicht aus, dass der Vorwurf der Fahrlässigkeit auch auf allgemeine Rechtsgrundsätze wie den allgemeinen Gefahrensatz gestützt werden kann (BGE 121 IV 10 E. 3). Im zu beurteilenden Fall richtet sich der Umfang der Sorgfalt nach den Bestimmungen des Strassenverkehrsgesetzes.
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Damit der Eintritt des Erfolgs auf das pflichtwidrige Verhalten des Täters zurückzuführen ist, genügt nicht, dass er vorhersehbar war. Vielmehr stellt sich die weitere Frage, ob der Erfolg auch vermeidbar war. Dabei wird ein hypothetischer Kausalverlauf untersucht und geprüft, ob der Erfolg bei pflichtgemässem Verhalten des Täters ausgeblieben wäre. Ein solcher hypothetischer Kausalzusammenhang lässt sich nicht mit Gewissheit beweisen. Deshalb genügt es für die Zurechnung des Erfolgs, wenn das Verhalten des Täters mindestens mit einem hohen Grad der Wahrscheinlichkeit oder mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die Ursache des Erfolges bildete (BGE 118 IV 130 E. 6a mit Hinweisen; REHBERG, a.a.O., S. 207; NAY, a.a.O., S. 52).
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4. a) Wie die Vorinstanz zu Recht erkannt hat, verletzte der Beschwerdeführer das Vortrittsrecht des Beschwerdegegners als Fussgänger nicht, da dieser nach dem verkehrstechnischen Gutachten den Streifen überraschend und zu einem Zeitpunkt betrat, als es dem Beschwerdeführer bei der von ihm gefahrenen Geschwindigkeit nicht mehr möglich war, sein Fahrzeug rechtzeitig anzuhalten (18 m vor Kollisionsstelle, 50 km/h). Es lagen zu dem Zeitpunkt, als der Beschwerdeführer den Fussgänger zum ersten Mal erblickte (40 m vor der Kollisionsstelle), auch keine konkreten Anzeichen oder zuverlässigen Anhaltspunkte für ein überraschendes Betreten des Streifens, mithin für ein Fehlverhalten des Beschwerdegegners vor (vgl. BGE 121 IV, 286 (291)BGE 118 IV 277 E. 4a; 115 II 283 E. 1b, 95 II 184 E. 4b); denn der Umstand, dass der Beschwerdegegner mit raschen Schritten von rechts aus der Obermattstrasse Richtung Wilerstrasse herannahte, wies nicht auf seine Absicht hin, die Wilerstrasse auf dem noch einige Meter entfernten Fussgängerstreifen zu überqueren. Der Beschwerdeführer war daher nicht verpflichtet, bereits 40 m vor der Kollisionsstelle eine Vollbremsung einzuleiten.
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Zu prüfen ist indes, ob der Beschwerdeführer mit unangemessener Geschwindigkeit fuhr und ob er gegebenenfalls bei angemessener Geschwindigkeit die Verletzung des Fussgängers hätte vermeiden können.
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b) Nach den tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz fuhr der Beschwerdeführer mit einer Geschwindigkeit von rund 50 km/h auf den Fussgängerstreifen zu. Diese Geschwindigkeit hält sich zwar im Rahmen der in Ortschaften zulässigen allgemeinen Höchstgeschwindigkeit (Art. 4a Abs. 1 lit. a VRV). Indes darf diese Höchstgeschwindigkeit nicht unter allen Umständen ausgefahren werden, sondern gilt nur bei günstigen Verhältnissen. Denn gemäss Art. 32 Abs. 1 SVG ist die Geschwindigkeit stets den Umständen anzupassen, namentlich den Besonderheiten von Fahrzeug und Ladung, sowie den Strassen-, Verkehrs- und Sichtverhältnissen. Deshalb richtet in der Regel seine Geschwindigkeit nicht nach den Umständen, wer innerorts mit 50 km/h an einem nahe der Strasse gelegenen Kindergarten zu einer Zeit, wo sich dort Kinder befinden, vorbeifährt (BGE 121 II 127 E. 4a). Eine schwere Verkehrsgefährdung nach Art. 16 Abs. 3 lit. a SVG begeht auch ein Fahrzeuglenker, der trotz starkem Regen auf der Autobahn mit einer Geschwindigkeit von ca. 120 km/h fährt und infolge Aquaplanings ins Schleudern gerät (BGE 120 Ib 312 E. 4c).
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Die von der Vorinstanz festgestellten Tatsachen belegen, dass im zu beurteilenden Fall die für die gesetzliche Höchstgeschwindigkeit vorausgesetzten günstigen Verhältnisse nicht bestanden. Denn auf der Wilerstrasse herrschte zur Mittagszeit Verkehr, auf beiden Trottoirs zirkulierten Fussgänger und auf dem linken befand sich auf der Höhe des Fussgängerstreifens eine Gruppe spielender Kinder, die die Aufmerksamkeit des Beschwerdeführers in Anspruch nahmen. Wie die Vorinstanz zu Recht erkannt hat, hätte der Beschwerdeführer seine Fahrt verlangsamen müssen und war eine Geschwindigkeit von 50 km/h unter diesen Umständen übersetzt. Bei dieser Sachlage war für ihn voraussehbar, dass er bei einem überraschenden Fehlverhalten des Fussgängers oder der Kinder nicht mehr rechtzeitig BGE 121 IV, 286 (292)bremsen und eine Körperverletzung verursachen könnte. Jedenfalls lässt sich nicht sagen, das Betreten des Fussgängerstreifens sei ganz aussergewöhnlich gewesen, so dass damit schlechterdings nicht hätte gerechnet werden müssen. Der Beschwerdeführer hätte daher seine Geschwindigkeit schon zu dem Zeitpunkt mässigen müssen, als er den Fussgänger zum ersten Mal erblickte. Die Vorinstanz verletzt daher kein Bundesrecht, wenn sie annimmt, unter den gegebenen Umständen sei nur eine Geschwindigkeit von 40 km/h angemessen gewesen.
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c) Zu bejahen ist auch die Vermeidbarkeit des Erfolgs. Nach den verbindlichen Feststellungen der Vorinstanz hätte die Kollision mit dem Fussgänger vermieden werden können, wenn der Beschwerdeführer bei Einleitung seines Bremsmanövers mit einer Geschwindigkeit von nur 40 km/h gefahren wäre. Selbst bei einer ganz leicht höheren Geschwindigkeit oder einer um weniges verzögerten Reaktionszeit (vgl. dazu BGE 115 II 283 E. 1b mit Hinweisen) wäre die Kollision zumindest viel weniger heftig ausgefallen und hätte der Beschwerdegegner mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit weniger schwere Verletzungen davongetragen als bei der mit 50 km/h unangemessenen Geschwindigkeit, die der Beschwerdeführer innehielt. Eine Mässigung der Fahrgeschwindigkeit hätte der Beschwerdeführer bereits zu Beginn der Einmündung der Obermattstrasse durch Weggehen vom Gaspedal und allenfalls leichtes Bremsen ohne weiteres erreichen können und müssen, bis er sich 18 m vor der Kollisionsstelle befand. Welche schwerwiegenden Folgen selbst vermeintlich geringfügige Geschwindigkeitsüberschreitungen bei Fahrzeug-Fussgänger-Kollisionen haben können, zeigen die physikalischen Gesetze: Ein Fahrzeug, das mit einer Bremsausgangsgeschwindigkeit von 50 km/h statt einer solchen von 40 km/h fährt, weist an jenem Punkt, wo es bei einer Ausgangsgeschwindigkeit von 40 km/h stillstehen würde, immer noch eine Geschwindigkeit von 37,9 km/h auf. Bei einer Differenz der Bremsausgangsgeschwindigkeiten um 5 km/h beträgt die Kollisionsgeschwindigkeit des mit 50 km/h fahrenden Autos dort, wo es bei 45 km/h stillstehen würde, noch 27,3 km/h (Bericht von Prof. Dr. Felix Walz, Institut für Rechtsmedizin, Universität Zürich, zu Handen des Kassationshofes; vgl. dazu BGE 121 II 127 E. 4b und 230, E. 2c).
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Der Schuldspruch wegen fahrlässiger schwerer Körperverletzung verstösst daher nicht gegen Bundesrecht und die Beschwerde erweist sich insoweit als unbegründet.
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