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Informationen zum Dokument  BGE 133 IV 112  Materielle Begründung
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Regeste
Sachverhalt
Aus den Erwägungen:
Erwägung 9
Erwägung 9.3
Erwägung 9.4
Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch)  
 
13. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes i.S. X. AG gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Graubünden und Eidgenössische Zollverwaltung sowie Kantonsgericht von Graubünden (Staatsrechtliche Beschwerde und Nichtigkeitsbeschwerde)
 
 
6P.236/2006 / 6S.555/2006 vom 23. März 2007
 
 
Regeste
 
Verwaltungsstrafrecht; Verjährung; Einziehungsverfügung.  
 
Sachverhalt
 
BGE 133 IV, 112 (113)A. Am 29. Januar 2003 wurde gegen die Firma X. AG mit Sitz in St. Moritz eine zolldienstliche Untersuchung eröffnet. Diese ergab, dass die X. AG über 500 aus der Wolle der artgeschützten Tibet-Antilope hergestellte Schals illegal eingeführt und gewerbsmässig verkauft hatte.
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Der Alleininhaber sowie der Geschäftsführer der X. AG wurden (auf Einsprachen gegen Strafbescheide hin) mit Strafverfügungen der Eidgenössischen Zollverwaltung, Oberzolldirektion, vom 27. Oktober 2005 zur Zahlung von Bussen in der Höhe von Fr. 370'000.- bzw. von Fr. 75'000.- verurteilt. Diese Entscheide erwuchsen in Rechtskraft.
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Mit Einziehungsbescheid vom 27. Oktober 2005 verfügte die Oberzolldirektion gegenüber der X. AG die Einziehung der am 29. Januar 2003 beschlagnahmten 38 Schals und verpflichtete die X. AG gestützt auf Art. 59 Ziff. 2 Abs. 1 StGB für die nicht mehr in natura vorhandenen Schals zur Bezahlung einer Ersatzforderung von Fr. 1'025'739.70.
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Die Oberzolldirektion wies die von der X. AG gegen den Einziehungsbescheid betreffend die Ersatzforderung erhobene Einsprache mit Einziehungsverfügung vom 4. Januar 2006 grösstenteils ab und legte die Ersatzforderung neu auf Fr. 1'024'301.30 fest.
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B. Am 16. Januar 2006 verlangte die X. AG die Beurteilung durch das Strafgericht. Mit Urteil vom 12. Juli 2006 verpflichtete das Kantonsgericht des Kantons Graubünden, die X. AG zur Bezahlung einer Ersatzforderung im Betrag von Fr. 715'676.45. Das Kantonsgericht erwog, soweit weitergehend sei die Ersatzforderung verjährt.
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C. Gegen diesen Entscheid führt die X. AG sowohl staatsrechtliche Beschwerde als auch eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde, mit denen sie je die Aufhebung des angefochtenen Urteils und die Rückweisung der Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz beantragt.
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Das Kantonsgericht beantragt die Abweisung der staatsrechtlichen Beschwerde, soweit darauf einzutreten sei; bezüglich der Nichtigkeitsbeschwerde hat sich das Kantonsgericht eines Antrags enthalten.
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Die Oberzolldirektion beantragt die Abweisung beider Beschwerden.
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Das Bundesgericht weist die Nichtigkeitsbeschwerde ab.
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BGE 133 IV, 112 (114)Aus den Erwägungen:
 
II. Nichtigkeitsbeschwerde
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Erwägung 9
 
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Die Verjährung beginnt am Tag, an dem der Täter die Tat ausführt (Art. 71 StGB/aStGB in der Fassung vom 21. Dezember 1937). Art. 28 Ziff. 1 Abs. 1 des Tierschutzgesetzes vom 9. März 1978 (TSchG; SR 455) stellt insbesondere die Einfuhr und die Inbesitznahme von Erzeugnissen artgeschützter Tiere unter Strafe; nicht strafbar sind dagegen der Besitz, das Lagern, das Aufbewahren und der Verkauf. Für den Verjährungsbeginn ist demnach, wie die Vorinstanz zutreffend ausgeführt hat, auf den Zeitpunkt der Ankaufsdaten abzustellen. Diese liegen vor dem 1. Oktober 2002.
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Nach altem, bis zum 30. September 2002 geltenden Recht verjährt das Recht zur Einziehung grundsätzlich bereits nach fünf Jahren (Art. 59 Ziff. 1 Abs. 3 aStGB in der Fassung vom 18. März 1994), nach dem ab dem 1. Oktober 2002 geltenden Recht dagegen grundsätzlich erst nach sieben Jahren (Art. 59 Ziff. 1 Abs. 3 StGB). Ist jedoch die Verfolgung der strafbaren Handlung einer längeren Verjährungsfrist unterworfen, so findet diese Frist auch auf die Einziehung Anwendung; dies gilt sowohl für das alte wie auch für das neue Recht (Art. 59 Ziff. 1 Abs. 3 StGB/aStGB in der Fassung vom 18. März 1994). Die allgemeinen Regeln über die Verfolgungsverjährung sind insoweit analog anwendbar (STEFAN TRECHSEL, Schweizerisches Strafgesetzbuch, Kurzkommentar, 2. Aufl., Zürich 1997, Art. 59 aStGB N. 19).
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BGE 133 IV, 112 (115)Erwägung 9.3
 
9.3.1 Eine vorsätzlich begangene Verletzung von Art. 28 Ziff. 1 Abs. 1 TSchG ist ein Vergehen. Nach altem Verjährungsrecht verjähren Vergehen nach fünf Jahren (Art. 70 Abs. 4 aStGB in der Fassung vom 21. Dezember 1937). Die Verjährung kann ruhen und unterbrochen werden (Art. 72 Ziff. 1 und 2 aStGB in der Fassung vom 5. Oktober 1950). Die Strafverfolgung ist in jedem Fall absolut verjährt, wenn die ordentliche Verjährungsfrist um die Hälfte überschritten ist. Nach altem Recht beträgt die absolute Verjährungsfrist somit 71 /2 Jahre. Massgeblicher Zeitpunkt ist die Ausfällung des letztinstanzlichen kantonalen Entscheids (vgl. Art. 72 Ziff. 2 aStGB in der Fassung vom 5. Oktober 1950). Der angefochtene Entscheid erging am 12. Juli 2006. Demzufolge sind die Taten, die in diesem Zeitpunkt mehr als 71 /2 Jahre zurücklagen, also vor dem 12. Januar 1999 verübt wurden, altrechtlich absolut verjährt und ist deshalb auch das Recht zur Einziehung der durch diese Taten erlangten Vermögenswerte verjährt.
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Erwägung 9.4
 
9.4.1 Nach neuem Verjährungsrecht, das kein Ruhen und keine Unterbrechung mehr kennt, verjähren Vergehen nach sieben Jahren (Art. 70 Abs. 1 lit. c StGB). Die Verjährung tritt nicht mehr ein, wenn vor Ablauf der Verjährungsfrist ein erstinstanzliches Urteil BGE 133 IV, 112 (116)ergangen ist (Art. 70 Abs. 3 StGB). Die Vorinstanz hat insoweit die Einziehungsverfügung der Oberzolldirektion vom 4. Januar 2006 als massgeblich erachtet. Demgemäss wären alle vor dem 4. Januar 1999 begangenen Handlungen verjährt. Dies bedeutet, dass das alte Verjährungsrecht für die Beschwerdeführerin das geringfügig mildere wäre (12. Januar 1999 verglichen mit 4. Januar 1999).
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Die genaue Bedeutung von Art. 70 Abs. 3 StGB war jedoch nicht Gegenstand der parlamentarischen Beratungen, so dass die Ratsprotokolle keinen Aufschluss darüber geben, ob namentlich Strafverfügungen im Sinne von Art. 70 des Bundesgesetzes vom 22. März 1974 über das Verwaltungsstrafrecht (VStrR; SR 313.0) nach dem Willen des Gesetzgebers als erstinstanzliche Urteile anzusehen sind.
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Jeder Strafverfügung (Art. 70 VStrR) hat damit zwingend ein Strafbescheid (Art. 64 VStrR) voranzugehen, welcher wie ein Strafmandat (Strafbefehl) auf summarischer Grundlage getroffen werden kann. Die Strafverfügung dagegen muss - einem erstinstanzlichen Urteil ähnlich - auf einer umfassenden Grundlage beruhen und wird in einem kontradiktorischen Verfahren erlassen (vgl. hierzu MARKUS PETER, Das neue Bundesgesetz über das Verwaltungsstrafrecht, ZStrR 90/1974 S. 337 ff., 353; JEAN GAUTHIER, La loi fédérale sur le droit pénal administratif, in: Quatorzième Journée juridique, Genf 1975, S. 23 ff., 61).
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Während der Erlass eines Strafbescheids (Art. 64 VStrR) somit Parallelen zu einem Strafmandat (Strafbefehl) aufweist, ist die Strafverfügung (Art. 70 VStrR) nach dem Gesagten im Ergebnis einem gerichtlichen Entscheid gleichzustellen und demnach unter den Begriff des erstinstanzlichen Urteils im Sinne von Art. 70 Abs. 3 StGB zu subsumieren. Folgerichtig ist auch eine im Einziehungsverfahren erlassene Einziehungsverfügung der Verwaltung nach Art. 70 VStrR als erstinstanzliches Urteil gemäss Art. 70 Abs. 3 StGB zu qualifizieren.
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