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Informationen zum Dokument  BGE 109 V 224 - Verfahrenssprache kraft Staatsvertrags  Materielle Begründung
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BGE 106 Ia 299 - Brunner

Regeste
Sachverhalt
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1. (Vgl. BGE 105 V 94 Erw. 1.) ...
2. Die Vorinstanz beruft sich auf Art. 17 Abs. 1 der bernischen K ...
3. a) Die staatsvertraglichen Vereinbarungen mit Italien auf dem  ...
4. a) Die Vorinstanz begründet ihren Nichteintretensentschei ...
5. Zusammenfassend ergibt sich somit, dass kein stichhaltiger Gru ...
Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: DFR-Server, A. Tschentscher  
 
39. Urteil vom 18. Oktober 1983 i.S. Boggi gegen Ausgleichskasse des Schweizerischen Baumeisterverbandes und Versicherungsgericht des Kantons Bern
 
 
Regeste
 
Art. 20bis des schweizerisch-italienischen Abkommens über Soziale Sicherheit vom 14. Dezember 1962 (eingefügt mit Art. 5 der 2. Zusatzvereinbarung vom 2. April 1980).  
Die Bestimmung geht kantonalen Vorschriften vor, wonach Beschwerden in der (bzw. einer) Amtssprache des betreffenden Kantons abzufassen sind.  
 
Sachverhalt
 
BGE 109 V, 224 (224)A.- Mit Verfügung vom 22. April 1982 sprach die Ausgleichskasse des Schweizerischen Baumeisterverbandes dem seit 1954 in der Schweiz erwerbstätigen und hier niedergelassenen italienischen Staatsangehörigen Pietro Boggi eine halbe einfache Invalidenrente, BGE 109 V, 224 (225)nebst Zusatzrente für die Ehefrau, ab 1. Dezember 1981 zu.
1
B.- Mit einer in italienischer Sprache verfassten Eingabe vom 19. Mai 1982 beschwerte sich Pietro Boggi gegen diese Verfügung, worauf ihn das Versicherungsgericht des Kantons Bern am 14. Juni 1982 aufforderte, die Beschwerde innert gesetzlicher Frist in einer der kantonalen Amtssprachen (Deutsch oder Französisch) einzureichen. Nach unbenütztem Ablauf der Frist trat das Gericht androhungsgemäss auf die Beschwerde nicht ein (Präsidialverfügung vom 23. Juni 1982).
2
C.- Pietro Boggi erhebt Verwaltungsgerichtsbeschwerde sinngemäss mit dem Begehren um Zusprechung einer ganzen Invalidenrente.
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Das Versicherungsgericht des Kantons Bern beantragt, auf die Beschwerde sei nicht einzutreten, eventuell sei sie abzuweisen. Das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) schliesst auf Gutheissung der Beschwerde und Rückweisung der Sache an die Vorinstanz, damit sie materiell entscheide. In einem zweiten Schriftenwechsel halten Vorinstanz und Bundesamt für Sozialversicherung an ihren Anträgen fest.
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Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
 
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Unbestritten ist, dass eine kantonale Behörde - gestützt auf das im schweizerischen Sprachenrecht geltende Territorialitätsprinzip - verlangen kann, dass Eingaben in der Amtssprache (bzw. in einer von mehreren Amtssprachen) des betreffenden Kantons verfasst werden. Das (ungeschriebene) Grundrecht der Sprachenfreiheit wird damit nicht verletzt, noch verstösst das Territorialitätsprinzip gegen die EMRK (BGE 108 V 208, BGE 106 Ia 302 Erw. 2, BGE 99 V 56 Erw. 2). Fraglich ist, ob im vorliegenden Fall das Staatsvertragsrecht zu einem andern Ergebnis führt.
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BGE 109 V, 224 (226)3. a) Die staatsvertraglichen Vereinbarungen mit Italien auf dem Gebiet der Sozialversicherung (Abkommen vom 14. Dezember 1962 einschliesslich der Zusatzvereinbarungen und Verwaltungsvereinbarungen) enthielten zunächst keine Vorschriften mit Bezug auf die vorliegende Streitfrage. Eine erste Regelung wurde mit der auf den 1. Juli 1973 in Kraft getretenen Verwaltungsvereinbarung vom 25. Februar 1974 getroffen, indem die Verwaltungsvereinbarung vom 18. Dezember 1963 durch einen Art. 51ter ergänzt wurde, dessen Absatz 3 wie folgt lautet:
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"Die Behörden, Gerichte und Versicherungsträger der einen Vertragspartei dürfen Gesuche und sonstige Schriftstücke nicht zurückweisen, weil sie in einer Amtssprache der anderen Vertragspartei abgefasst sind."
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Da sich in der praktischen Anwendung Schwierigkeiten ergaben (vgl. BBl 1980 III 1208), war das BSV bestrebt, eine entsprechende Bestimmung in die 2. Zusatzvereinbarung vom 2. April 1980 aufzunehmen, welche am 1. Februar 1982 in Kraft getreten ist. Dies geschah mit dem gemäss Art. 5 der Zusatzvereinbarung in das Abkommen eingefügten Art. 20bis, der folgenden Wortlaut hat:
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"Die Behörden, Gerichte und Versicherungsträger eines Vertragsstaates dürfen die Bearbeitung von Gesuchen und die Berücksichtigung von anderen Schriftstücken nicht deshalb verweigern, weil diese in einer Amtssprache des andern Vertragsstaates abgefasst sind."
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Zu prüfen ist, ob der angefochtene Nichteintretensentscheid vom 23. Juni 1982 vor dieser Bestimmung standhält.
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b) Bei der Beurteilung der rechtlichen Tragweite der fraglichen Bestimmung ist zu berücksichtigen, dass die Auslegung eines Staatsvertrages in erster Linie vom Vertragstext auszugehen hat. Erscheint dieser klar und ist seine Bedeutung, wie sie sich aus dem gewöhnlichen Sprachgebrauch sowie aus Gegenstand und Zweck des Übereinkommens ergibt, nicht offensichtlich sinnwidrig, so kommt eine über den Wortlaut hinausgehende ausdehnende bzw. einschränkende Auslegung nur in Frage, wenn aus dem Zusammenhang oder der Entstehungsgeschichte mit Sicherheit auf eine vom Wortlaut abweichende Willenseinigung der Vertragsstaaten zu schliessen ist (BGE 105 V 16 mit Hinweisen).
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Der Wortlaut von Art. 20bis des Sozialversicherungsabkommens mit Italien entbehrt - auch in dem gemäss Art. 27 Ziff. 2 des Abkommens verbindlichen französischen und italienischen Originaltext - nicht der Klarheit. Es geht daraus unmissverständlich hervor, dass die Verwaltungs- und Gerichtsbehörden beider BGE 109 V, 224 (227)Vertragsstaaten die Behandlung von Eingaben nicht deshalb verweigern dürfen, weil sie in einer Amtssprache des andern Vertragsstaates abgefasst sind. Einschränkungen zu diesem Grundsatz bestehen nicht, noch lässt die Entstehungsgeschichte der Bestimmung auf eine vom Wortlaut abweichende Willenseinigung der Vertragsparteien schliessen. Wie das BSV in seiner Vernehmlassung darlegt, sollte mit Art. 20bis des Abkommens vielmehr klargestellt werden, dass die Verwaltungs- und Gerichtsbehörden der Vertragsstaaten ungeachtet allfälliger anderslautender Regeln des innerstaatlichen Rechts auf sämtliche in den Amtssprachen des andern Vertragsstaates verfassten Gesuche und Beschwerden einzutreten und hierüber zu entscheiden haben. Gegenüber Art. 51ter Abs. 3 der Verwaltungsvereinbarung sollte insbesondere verdeutlicht werden, dass der Gesuchsteller oder Beschwerdeführer nicht zur Übersetzung seiner Eingabe in die Amtssprache (bzw. eine der Amtssprachen) der entscheidenden Instanz des andern Vertragsstaates verhalten werden kann. Im übrigen wurde lediglich bestätigt, was bereits bisher aufgrund von Art. 51ter der Verwaltungsvereinbarung Geltung hatte.
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4. a) Die Vorinstanz begründet ihren Nichteintretensentscheid in der Vernehmlassung zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde vorab damit, dass auf Ausländer, die - wie der Beschwerdeführer - ihren Wohnsitz in der Schweiz haben, Art. 20bis des Abkommens nicht Anwendung finde, weil sie aufgrund ihres Wohnsitzes oder ihrer Erwerbstätigkeit in der Schweiz "unmittelbar versichert, also grundsätzlich als Inländer anzusehen" seien, daher die schweizerische Sozialversicherung "direkt nach Massgabe des inländischen Rechts" beanspruchen könnten und somit die Berufung auf den Staatsvertrag nicht benötigten. Zumindest seien die das Verfahren regelnden Bestimmungen des Abkommens nur für Personen im Ausland gedacht und anwendbar, denn nur für diese müssten besondere Verwaltungsorgane und Verwaltungswege vorgesehen werden.
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Dieser Auffassung ist entgegenzuhalten, dass das Abkommen sämtliche Angehörigen beider Staaten umfasst und sie in ihren Rechten und Pflichten grundsätzlich gleichstellt (Art. 2). Zahlreiche Einzelbestimmungen bestätigen, dass das Abkommen sowohl auf italienische Staatsangehörige mit Wohnsitz in der Schweiz als auch auf solche ohne schweizerischen Wohnsitz Anwendung findet (vgl. z.B. Art. 8 lit. a). Das BSV weist des weitern zu Recht darauf hin, dass italienische Staatsangehörige mit Wohnsitz in der BGE 109 V, 224 (228)Schweiz in zahlreichen Fällen auf das Abkommen angewiesen sind, wenn sie Leistungen der schweizerischen Sozialversicherung beanspruchen wollen (vgl. z.B. Art. 6 Abs. 2 IVG). Es lässt sich unter diesem Gesichtspunkt daher nicht rechtfertigen, den Geltungsbereich von Art. 20bis des Abkommens auf die im Gebiet des anderen Vertragsstaates wohnhaften Angehörigen dieses Staates zu beschränken. Hieran vermag auch der Umstand nichts zu ändern, dass die verfahrensrechtlichen Regeln des Staatsvertrages in erster Linie auf diese Personen zugeschnitten sind. Eine eingeschränkte Anwendbarkeit der Bestimmung in dem von der Vorinstanz genannten Sinne müsste sich aus dieser selbst ergeben; hiefür fehlen aber jegliche Anhaltspunkte.
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b) Die Vorinstanz macht ferner geltend, eine "Exemtion der inländischen Ausländer" würde zu nur schwer begreiflichen Rechtsungleichheiten führen. So werde von einem im Kanton Bern ansässigen Tessiner ohne weiteres verlangt, dass er "mit den hiesigen Behörden in einer der bernischen Amtssprachen verkehre".
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Dass die Staatsvertragsbestimmung eine Ungleichbehandlung der genannten Art zur Folge hat, lässt sich nicht bestreiten, und es ist dem kantonalen Richter darin beizupflichten, dass ein solches Ergebnis aus innerstaatlicher Sicht nicht befriedigt. Dies vermag indessen nicht dazu zu führen, die Bedeutung von Art. 20bis des Abkommens entgegen dem (allgemein gehaltenen) Wortlaut der Bestimmung und dem Willen der Vertragsparteien in dem Sinne einzuschränken, dass er für eine wesentliche Gruppe der vom Abkommen erfassten Personen nicht Anwendung findet. Art. 2 des Abkommens behält Ausnahmen vom Gleichbehandlungsprinzip vor, und diese können im Rahmen eines ausgewogenen Vertragswerkes einmal die Angehörigen des einen und ein andermal diejenigen des andern Vertragsstaates bevorteilen bzw. benachteiligen. Im übrigen gewährleistet das Abkommen die Gleichstellung der Angehörigen beider Vertragsstaaten dadurch, dass die in Italien ansässigen Schweizerbürger ihre Eingaben an die dortigen Behörden nicht nur in italienischer, sondern auch in deutscher und französischer Sprache einreichen können.
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c) Für den Fall, dass Art. 20bis des Abkommens (und auch analoge Bestimmungen in andern Sozialversicherungsabkommen) Anwendung findet, wirft der kantonale Richter die Frage auf, wer für die Kosten allenfalls vom Gericht zu veranlassender Übersetzungen aufzukommen habe. Auch diese Frage, über die im vorliegenden Verfahren nicht zu entscheiden ist, vermag die BGE 109 V, 224 (229)Auslegung der streitigen Abkommensbestimmung indessen nicht zu beeinflussen.
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Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
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Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird, soweit darauf einzutreten ist, in dem Sinne gutgeheissen, dass der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Bern vom 23. Juni 1982 aufgehoben und die Sache im Sinne der Erwägungen an die Vorinstanz zurückgewiesen wird.
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