VerfassungsgeschichteVerfassungsvergleichVerfassungsrechtRechtsphilosophie
UebersichtWho-is-WhoBundesgerichtBundesverfassungsgerichtVolltextsuche...

Informationen zum Dokument  BGE 117 V 146  Materielle Begründung
Druckversion | Cache | Rtf-Version

Regeste
Sachverhalt
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1. (Kognition)  ...
2. Gemäss Art. 42 Abs. 1 IVG haben in der Schweiz wohnhafte  ...
3. Aufgrund der Akten steht fest, dass der Beschwerdeführer  ...
4. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass der Beschwerdeführ ...
5. (Ausführungen über die Verwaltungspraxis) ...
Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch)  
 
16. Urteil vom 8. April 1991 i.S. F. gegen Ausgleichskasse des Kantons St. Gallen und Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen
 
 
Regeste
 
Art. 42 Abs. 1 und Abs. 2 IVG, Art. 36 Abs. 3 lit. a IVV: Anspruch auf Entschädigung wegen leichter Hilflosigkeit bei kompletter Paraplegie.  
- Die Hilfsbedürftigkeit ist auch dann zu bejahen, wenn der Versicherte eine Teilfunktion zwar noch ausüben kann, von ihr aber keinen Nutzen mehr hat (Erw. 3b).  
 
Sachverhalt
 
BGE 117 V, 146 (147)A.- Der 1955 geborene Hans F. erlitt am 2. Februar 1979 bei einem Skiunfall eine BWK-8-Fraktur mit kompletter Paraplegie. Die Invalidenversicherung gewährte ihm Massnahmen medizinischer und beruflicher Art; u.a. übernahm sie auch die invaliditätsbedingten Mehrkosten für die Fortsetzung des juristischen Studiums an der Universität, das Hans F. im Mai 1983 abschloss. Ferner gab die Invalidenversicherung verschiedene Hilfsmittel, worunter eine Levo-Aufricht- und Stehhilfe im Rollstuhl ab und gewährte dem Versicherten seit August 1979 Amortisations- und Reparaturkostenbeiträge an das von ihm angeschaffte Automobil. Seit Frühjahr 1986 arbeitet Hans F. je halbtags im Rechtsdienst einer Staatskanzlei und als Rechtsanwalt in einem Advokaturbüro.
1
Am 4. Februar 1988 meldete sich Hans F. bei der Invalidenversicherung zum Bezug einer Hilflosenentschädigung wegen leichter Hilflosigkeit an, wobei er in einer Beilage die auf dem amtlichen Formular gemachten Angaben zur Hilflosigkeit eingehend erläuterte. Gestützt auf einen Beschluss der Invalidenversicherungs-Kommission, die keine weiteren Abklärungen vorgenommen hatte, lehnte die Ausgleichskasse des Kantons St. Gallen das Leistungsgesuch mit Verfügung vom 21. April 1988 ab, weil der Versicherte weder beim Aufstehen, Absitzen, Abliegen noch bei der Fortbewegung regelmässig in erheblicher Weise auf die Hilfe Dritter angewiesen sei.
2
B.- Die hiegegen eingereichte Beschwerde, mit welcher Hans F. die Zusprechung einer Entschädigung für leichte Hilflosigkeit hatte beantragen lassen, wies das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen mit Entscheid vom 21. März 1989 ab.
3
C.- Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt Hans F. das vorinstanzlich gestellte Rechtsbegehren erneuern.
4
Ausgleichskasse und Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) schliessen auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.
5
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
 
6
BGE 117 V, 146 (148)2. Gemäss Art. 42 Abs. 1 IVG haben in der Schweiz wohnhafte invalide Versicherte, die hilflos sind, Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung, sofern ihnen keine Hilflosenentschädigung nach dem Bundesgesetz über die Unfallversicherung zusteht. Die Entschädigung wird frühestens vom ersten Tag des der Vollendung des 18. Altersjahres folgenden Monats an und spätestens bis Ende des Monats gewährt, in welchem Männer das 65. und Frauen das 62. Altersjahr zurückgelegt haben. Art. 43bis Abs. 4 AHVG bleibt vorbehalten.
7
Als hilflos gilt, wer wegen Invalidität für die alltäglichen Lebensverrichtungen dauernd der Hilfe Dritter oder der persönlichen Überwachung bedarf (Art. 42 Abs. 2 IVG). Dabei sind praxisgemäss (BGE 113 V 19 Erw. a mit Hinweisen) die folgenden sechs alltäglichen Lebensverrichtungen massgebend:
8
- Ankleiden, Auskleiden;
9
- Aufstehen, Absitzen, Abliegen;
10
- Essen;
11
- Körperpflege;
12
- Verrichtung der Notdurft;
13
- Fortbewegung (im oder ausser Haus), Kontaktaufnahme.
14
Bei Lebensverrichtungen, welche mehrere Teilfunktionen umfassen, ist nicht verlangt, dass der Versicherte bei der Mehrzahl dieser Teilfunktionen fremder Hilfe bedarf; vielmehr ist bloss erforderlich, dass er bei einer dieser Teilfunktionen regelmässig in erheblicher Weise auf direkte oder indirekte Dritthilfe angewiesen ist (BGE 107 V 141 Erw. 1d und 149 Erw. 1c).
15
Art. 36 IVV sieht drei Hilflosigkeitsgrade vor. Nach Abs. 3 dieser Bestimmung gilt die Hilflosigkeit als leicht, wenn der Versicherte trotz der Abgabe von Hilfsmitteln a) in mindestens zwei alltäglichen Lebensverrichtungen regelmässig in erheblicher Weise auf die Hilfe Dritter angewiesen ist oder b) einer dauernden persönlichen Überwachung bedarf oder c) einer durch das Gebrechen bedingten ständigen und besonders aufwendigen Pflege bedarf oder d) wegen einer schweren Sinnesschädigung oder eines schweren körperlichen Gebrechens nur dank regelmässiger und erheblicher Dienstleistungen Dritter gesellschaftliche Kontakte pflegen kann.
16
3. Aufgrund der Akten steht fest, dass der Beschwerdeführer beim Ankleiden, Auskleiden, beim Essen, bei der Körperpflege und bei der Verrichtung der Notdurft nicht regelmässig in BGE 117 V, 146 (149)erheblicher Weise auf die Hilfe Dritter angewiesen ist. Zu prüfen bleibt, wie es sich bei den übrigen alltäglichen Lebensverrichtungen (Fortbewegung im oder ausser Haus, Kontaktaufnahme; Aufstehen, Absitzen, Abliegen) verhält.
17
a) Mit Bezug auf die Teilfunktion Fortbewegung ist davon auszugehen, dass eine komplette Paraplegie eine vollständige Gehunfähigkeit zur Folge hat, die sich im häuslichen Bereich und ausser Haus auswirkt, indem der Betroffene sowohl im Nahverkehr (öffentliche Verkehrsmittel) wie auch auf Reisen (Eisenbahn, Flugzeug usw.) praktisch immer auf Begleitung angewiesen ist.
18
aa) Gemäss Art. 36 Abs. 3 IVV ist zu prüfen, ob der Versicherte bei den einzelnen Lebensverrichtungen (worunter auch die Fortbewegung fällt; Erw. 2) trotz Abgabe von Hilfsmitteln hilfsbedürftig ist. In der Tat kann die Gehunfähigkeit eines Paraplegikers dank dem Einsatz verschiedener Hilfsmittel in ihren Auswirkungen insofern erheblich gemildert werden, als er sich mittels eines gewöhnlichen Fahrstuhls, eines Elektrofahrstuhls oder eines Automobils fortbewegen kann. Dabei stellt sich die Frage, inwieweit die Abgabe eines Automobils durch die Invalidenversicherung oder - wie im vorliegenden Fall - die Gewährung von Amortisations- und Reparaturkostenbeiträgen (Ziffer 10.4* HVI-Anhang in Verbindung mit Art. 8 HVI) für die Beurteilung der Hilfsbedürftigkeit bei der Fortbewegung ausser Haus berücksichtigt werden darf.
19
bb) Der Anspruch auf Amortisationsbeiträge der Invalidenversicherung an ein selbst angeschafftes Motorfahrzeug ist, ebenso wie der Anspruch auf Abgabe eines Automobils, davon abhängig, dass der Versicherte voraussichtlich dauernd eine existenzsichernde Erwerbstätigkeit ausübt und zur Überwindung des Arbeitsweges auf ein persönliches Motorfahrzeug angewiesen ist (Art. 2 Abs. 2 und Art. 8 Abs. 1 und 2 HVI; Ziffer 10.04* HVI-Anhang). Nach Art. 6 Abs. 1 Satz 3 HVI dürfen von der Invalidenversicherung abgegebene Motorfahrzeuge nur im Rahmen einer von der Versicherung festgelegten Kilometerquote für nicht berufsbedingte Fahrten verwendet werden, und die Reparaturkosten werden nur übernommen, wenn die erwähnte Kilometerquote nicht überschritten wurde (Art. 7 Abs. 2 Satz 2 HVI). Steht der Versicherte, welcher selbst ein Automobil angeschafft hat, im Genusse von Ersatzleistungen gemäss Art. 8 HVI, so sind nach der Verwaltungspraxis mit der Ausrichtung von Amortisations- und Reparaturkostenbeiträgen (derzeit Fr. 1'880.-- bis Fr. 2'650.-- und BGE 117 V, 146 (150)Fr. 450.-- im Jahr; vgl. Anhang 3 zur Wegleitung des BSV über die Abgabe von Hilfsmitteln durch die Invalidenversicherung, gültig ab 1. Januar 1989) sämtliche mit der Haltung eines Motorfahrzeuges zusammenhängenden Kosten abgegolten. Die tatsächlichen Aufwendungen für das Automobil, die der Versicherte zu tragen hat, übersteigen diese Ansätze jedoch bei weitem, zumal die Invalidenversicherung die Kosten für den Betrieb und Unterhalt von Motorfahrzeugen, Härtefälle ausgenommen, überhaupt nicht übernimmt (Art. 7 Abs. 3 HVI). Aus dieser Rechtslage folgt für die Auslegung von Art. 36 Abs. 3 IVV ("trotz der Abgabe von Hilfsmitteln"), dass bei der Prüfung der Frage, ob der Versicherte in der Fortbewegung hilfsbedürftig sei, die Autoabgabe oder die Zusprechung von Ersatzleistungen nur so weit berücksichtigt werden darf, als diese Hilfsmittelversorgung tatsächlich zu Lasten der Invalidenversicherung geht. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang, dass die von der Invalidenversicherung im Rahmen der Eingliederung nicht übernommene private Verwendung des Automobils in der Freizeit zwar wohl für den Anspruch auf Hilfsmittel, nicht aber für jenen auf Hilflosenentschädigung belanglos ist. Denn die Fortbewegung zu privaten Zwecken, wo der Paraplegiker auch in Situationen auf das Auto angewiesen ist, in denen ein Nichtbehinderter zu Fuss ginge oder ein öffentliches Verkehrsmittel benützen würde, zählt ebenfalls zur Teilfunktion Fortbewegung, bei der sich die Frage nach der Hilfsbedürftigkeit stellt. In diesem Bereich entstehen für den Betroffenen Kosten, welche nicht durch die auf erwerbliche Zwecke beschränkte Abgabe eines Automobils bzw. die Vergütung von Ersatzleistungen gedeckt sind. Somit ist der Versicherte bezüglich der fehlenden Mobilität im nichterwerblichen Bereich nicht im Sinne von Art. 36 Abs. 2 und 3 IVV mit einem Hilfsmittel versorgt. Daher darf ihm bei der Beurteilung der Frage, ob er insoweit dauernd und erheblich hilfsbedürftig sei, die Abgabe des Hilfsmittels Automobil oder die Zusprechung von Amortisationsbeiträgen nicht entgegengehalten werden.
20
Allein schon unter dem Gesichtswinkel der Autoabgabe ergibt sich somit, dass ein Paraplegiker, wie jeder Gehunfähige, selbst dann, wenn er über ein von der Invalidenversicherung gewährtes oder mittels Amortisationsbeiträgen finanziertes Automobil verfügt, bei der Fortbewegung ausser Haus, soweit sie nicht erwerblichen Zwecken dient, und damit in einer relevanten Teilfunktion der sechsten Lebensverrichtung regelmässig in erheblicher Weise BGE 117 V, 146 (151)auf Dritthilfe angewiesen ist. Damit gilt er in dieser Lebensverrichtung als hilflos (vgl. Erw. 2), ohne dass geprüft werden müsste, ob Hilfsbedürftigkeit auch in anderen Teilfunktionen vorliegt, wo die Abgabe eines Fahrstuhles als Hilfsmittel zum Tragen kommt.
21
b) Zu prüfen ist im weiteren die Hilfsbedürftigkeit in der Lebensverrichtung "Aufstehen, Absitzen, Abliegen".
22
Dass ein Paraplegiker in der Regel absitzen und abliegen kann, steht fest und wird auch vom Beschwerdeführer nicht in Abrede gestellt. Mit Bezug auf die Teilfunktion Aufstehen ist vorab festzuhalten, dass darunter nicht nur das Sicherheben verstanden werden kann. Denn das Aufstehen ist in den seltensten Fällen Selbstzweck; vielmehr steht man in der Regel auf, um anschliessend etwas in stehender Position zu tun: mit jemandem sprechen, einen Gegenstand zu sich nehmen, eine Tür oder ein Fenster öffnen usw. Es ist nun nicht zu übersehen, dass die Bewältigung dieser Funktion für einen Paraplegiker, auch wenn er an sich noch aufstehen könnte, wesentlich ihren Sinn verloren hat, weil er damit nichts erreichen kann: Da die Muskeln im Bereich der gelähmten Körperpartie völlig fehlen, ist der Paraplegiker, einmal aufgestanden, nicht in der Lage, sich Dritten oder Gegenständen zuzuwenden, sondern er ist damit beschäftigt, sich mit den Händen im Gleichgewicht zu halten. Er kann zwar vielleicht noch aufstehen, aber sicher nicht mehr aufrecht stehen. Die Teilfunktion Aufstehen ist für ihn daher nutzlos. Nach der Rechtsprechung ist die Hilfsbedürftigkeit auch dann zu bejahen, wenn ein Versicherter eine Lebensverrichtung nur noch auf eine nicht übliche Art und Weise ausführen kann (BGE 106 V 158 Erw. 2b). Es besteht kein Anlass, in rechtlicher Hinsicht danach zu unterscheiden, ob ein Versicherter eine Teilfunktion als solche nicht mehr bzw. nur noch auf unübliche Weise wahrnehmen oder ob er sie zwar noch ausüben kann, von ihr jedoch keinen Nutzen mehr hat. Vielmehr ist die Hilfsbedürftigkeit auch dann zu bejahen, wenn eine Teilfunktion zwar noch möglich, für den Versicherten jedoch ihres Sinnes entleert ist. Im vorliegenden Fall ist daher eine erhebliche Hilfsbedürftigkeit in der Teilfunktion Aufstehen und damit bei der Lebensverrichtung Aufstehen, Absitzen, Abliegen gegeben. Daran ändert nichts, dass dem Beschwerdeführer als Hilfsmittel eine Levo-Aufricht- und Stehhilfe im Rollstuhl zugesprochen wurde. Dieses Hilfsmittel, das dem Versicherten das Aufrechtstehen bis zu einem gewissen Grad ermöglichen dürfte, ist nur an einem bestimmten Ort und nicht überall dort verfügbar, wo er sich hinbegibt und BGE 117 V, 146 (152)aufrecht stehen sollte. Auch wenn die Levo-Aufricht- und Stehhilfe auf einem Fahrstuhl montiert ist, verbleiben viele Situationen, in welchen der Versicherte von diesem Behelf keinen Gebrauch machen kann, weil er aufgrund der Schwierigkeiten beim Transport lediglich den leichteren gewöhnlichen Fahrstuhl mit sich führen kann.
23
24
25
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR).