BGE 121 V 150 - Gehörschaden | |||
| |||
Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: Sabiha Akagündüz, A. Tschentscher | |||
24. Auszug aus dem Urteil vom 4. September 1995 i.S. M. gegen Schweizerische Unfallversicherungsanstalt und Versicherungsgericht des Kantons Zürich | |
Regeste |
Art. 96 UVG, Art. 12 lit. d VwVG, Art. 56 Abs. 3 BZP in Verbindung mit Art. 19 VwVG, Art. 4 Abs. 1 BV: rechtliches Gehör. | |
Sachverhalt | |
A.- Der 1927 geborene M. war ab 1986 bis zu seiner Pensionierung am 31. August 1992 als Hilfsarbeiter in der Abteilung Metallfensterbau der Firma X AG tätig. Am 7. Oktober 1992 meldete er auf der Kreisagentur Zürich der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (SUVA), bei welcher er zuletzt obligatorisch gegen die Folgen von Berufskrankheiten versichert war, einen Gehörschaden an.
| 1 |
Die SUVA klärte die gesundheitlichen Verhältnisse ab, befragte den Versicherten zu seiner Tätigkeit in der Firma X AG und führte durch die Sektion Akustik am 23. Juni 1993 Schallimmissionsmessungen am früheren Arbeitsplatz des Versicherten durch. Gestützt auf die ärztliche Beurteilung des Dr. med. A., Spezialarzt FMH für Otorhinolaryngologie, Hals- und Gesichtschirurgie, von der Abteilung Arbeitsmedizin (vom 2. August 1993) lehnte die SUVA mit Verfügung vom 23. August 1993 eine Leistungspflicht ab. An diesem Standpunkt hielt die Anstalt mit Einspracheentscheid vom 1. Oktober 1993 fest.
| 2 |
B.- M. liess beim Versicherungsgericht des Kantons Zürich Beschwerde erheben und beantragen, es seien ihm die gesetzlichen Versicherungsleistungen auszurichten. Er rügte unter anderem eine Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör, da die SUVA ihm keine Möglichkeit eingeräumt habe, bei der Lärmmessung anwesend zu sein.
| 3 |
In ihrer Beschwerdeantwort machte die Anstalt geltend, dem Gehörsanspruch könne nicht entnommen werden, dass der Versicherte ein Anrecht habe, bei Abklärungshandlungen der Verwaltung, insbesondere wenn es sich um rein technische Verfahren handle, zugegen zu sein. Im übrigen hätte ein allfälliger Verfahrensmangel als geheilt zu gelten, da das Versicherungsgericht sowohl den Sachverhalt als auch die Rechtslage frei überprüfen könne. Im Rahmen des zweiten Schriftenwechsels hielten die Parteien an ihren Standpunkten fest, wobei die SUVA mit ihrer Duplik "Erläuterungen zu den Schallmessungen" der Sektion Akustik einreichte.
| 4 |
Das Versicherungsgericht des Kantons Zürich wies die Beschwerde mit Entscheid vom 1. November 1994 ab. Namentlich verneinte es eine Gehörsverletzung mit der Begründung, wenn ein Entscheid durch Einsprache anfechtbar sei, bestehe kein Recht der Parteien, vor Erlass der Verfügung angehört zu werden; zudem spreche nichts gegen die Zuverlässigkeit der durchgeführten Lärmexpertise.
| 5 |
C.- Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt M. das im kantonalen Verfahren gestellte Rechtsbegehren erneuern.
| 6 |
Während die SUVA Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt, verzichtet das Bundesamt für Sozialversicherung auf eine Stellungnahme.
| 7 |
Aus den Erwägungen: | |
8 | |
9 | |
10 | |
11 | |
b) Augenschein ist Beweiserhebung durch eigene Sinneswahrnehmung. Beweismittel ist das Objekt dieser Wahrnehmung. Ein Augenschein kann grundsätzlich alle äusseren Gegebenheiten (Sachen, Personen, Verhältnisse) betreffen, die durch den Seh-, Gehörs-, Geruchs-, Geschmacks- oder den Tastsinn wahrgenommen werden können (KUMMER, Grundriss des Zivilprozessrechts, 4. Aufl., S. 132; WALDER-BOHNER, Zivilprozessrecht, 3. Aufl., S. 362; GULDENER, Schweizerisches Zivilprozessrecht, 3. Aufl., S. 330; VOGEL, Grundriss des Zivilprozessrechts, 3. Aufl., S. 252; GYGI, Bundesverwaltungsrechtspflege, 2. Aufl., S. 276). Dabei ist allenfalls zusätzlich der Einsatz technischer Messgeräte erforderlich (vgl. BGE 104 Ia 71 Erw. 3b [Lärmimmissionen]).
| 12 |
Nach der Rechtsprechung darf ein Augenschein nur dann unter Ausschluss einer Partei erfolgen, wenn schützenswerte Interessen Dritter (vgl. Art. 56 Abs. 3 BZP in Verbindung mit Art. 19 VwVG) oder des Staates oder eine besondere zeitliche Dringlichkeit dies gebieten, oder wenn der Augenschein seinen Zweck überhaupt nur dann erfüllen kann, wenn er unangemeldet erfolgt (BGE 116 Ia 100 Erw. 3b oben, BGE 113 Ia 83 Erw. 3a, BGE 104 Ia 71 Erw. 3b, BGE 104 Ib 121 Erw. 2a; RHINOW/KRÄHENMANN, Schweizerische Verwaltungsrechtsprechung, Ergänzungsband, Nr. 82 B/III c S. 268; GRISEL, Traité de droit administratif, Bd. I, 1984, S. 385 unten).
| 13 |
c) Die aus Art. 4 BV abgeleiteten Verfahrensgarantien haben ihren positivrechtlichen Niederschlag im Verwaltungsverfahrensgesetz des Bundes (VwVG) gefunden (vgl. BGE 119 V 211 Erw. 3c mit Hinweisen auf Lehre und Rechtsprechung; ferner RHINOW/KRÄHENMANN, a.a.O., S. 266 oben). Sie sind daher, insbesondere was die Mitwirkungsrechte der Parteien bei der Beweiserhebung anbetrifft, auch im Verfahren der obligatorischen Unfallversicherung der SUVA anwendbar (Art. 96 UVG und Art. 1 Abs. 1 lit. c VwVG; BGE 120 V 360 Erw. 1b; vgl. RKUV 1992 Nr. U 152 S. 197 Erw. 2a). Dies gilt auch für das im VwVG nicht eigens geregelte Recht auf Teilnahme am Augenschein (Art. 12 lit. d VwVG; KÖLZ/HÄNER, Verwaltungsverfahren und Verwaltungsrechtspflege des Bundes, Zürich 1993, S. 93, Rz. 142).
| 14 |
5. Die Schallimmissionsmessungen am früheren Arbeitsplatz des Beschwerdeführers in der X AG dienten unbestrittenermassen der Abklärung eines für die Beurteilung des Leistungsbegehrens wesentlichen Sachverhalts, namentlich ob der Versicherte ausschliesslich oder vorwiegend durch Arbeiten im Lärm eine erhebliche Schädigung des Gehörs erlitten hat (vgl. Art. 9 Abs. 1 UVG). Die SUVA hätte daher den Beschwerdeführer zu diesen Messungen beiziehen sollen.
| 15 |
a) Entgegen der Auffassung des kantonalen Gerichts bestand kein Grund im Sinne der in Erw. 4b dargelegten Praxis, den Augenschein ohne den Beschwerdeführer durchzuführen. Zwar ist es im Bereich des Immissionsschutzes in der Regel unumgänglich, einen Augenschein und allfällige Lärmmessungen unangemeldet vorzunehmen, weil sie andernfalls ihren Zweck nicht erfüllen können (BGE 104 Ia 69 [Vergnügungslokal], unveröffentlichtes Urteil des Bundesgerichts vom 1. Dezember 1994, 1A.282/1993 [Hundezucht]). Im vorliegenden Fall jedoch mussten die Messungen in einem (laufenden) Betrieb, somit nach vorheriger Anmeldung, vorgenommen werden. Um so wichtiger war daher der Beizug des Versicherten, um sicherzustellen, dass die Messungen unter Immissionsbedingungen durchgeführt werden, die den seinerzeitigen betrieblichen Zuständen bestmöglich entsprechen, also repräsentativ sind (vgl. GULDENER, a.a.O., S. 178). Der Beschwerdeführer macht denn auch unter anderem geltend, bei der Schallmessung sei die "infolge Personalabbaus erhebliche Lärmreduktion nicht berücksichtigt" worden. Im übrigen ist nicht ersichtlich, inwiefern der SUVA ein unzumutbarer Mehraufwand entstanden wäre, wenn sie den Versicherten zu den Lärmmessungen beigezogen hätte, zumal sich bei einem solchen Vorgehen mindestens eine der zwei ausserhalb des Betriebes durchgeführten Befragungen erübrigt hätte. Soweit schliesslich die SUVA sinngemäss geltend macht, der gerügte Mangel sei zum vornherein nicht geeignet, den Entscheid in der Sache selbst zu beeinflussen, so dass er auf jeden Fall nicht zur Aufhebung von Einsprache- und kantonalem Gerichtsentscheid führen könne, verkennt die Anstalt, dass es hier um die Durchsetzung eines in formeller Hinsicht korrekten Beweisverfahrens geht (vgl. BGE 119 V 218 Erw. 6 unten, BGE 113 Ia 84 Erw. 3b). Davon zu unterscheiden ist die Frage, ob im Rahmen der antizipierten Beweiswürdigung auf eine Beweisvorkehr überhaupt verzichtet werden kann (vgl. BGE 117 Ia 268 Erw. 4b, BGE 104 V 210 Erw. a).
| 16 |
b) Im weitern ist gemäss Vorinstanz die Tatsache, dass der Beschwerdeführer nicht zur Schallmessung des Experten beigezogen wurde und deshalb auch nicht zur Durchführung Stellung nehmen konnte, nicht zu beanstanden, "denn ein Anspruch auf Anhörung steht ihm vor Erlass der Verfügung nicht zu". Im übrigen fehlten konkrete Hinweise, die gegen die Zuverlässigkeit der durchgeführten Lärmexpertise sprechen, weshalb praxisgemäss auf deren Ergebnisse abgestellt werden könne. Dieser Argumentation schliesst sich die SUVA vollumfänglich an, wobei sie sinngemäss beifügt, der Beschwerdeführer habe im Einspracheverfahren keinen Verfahrensmangel gerügt bzw. nicht eine neuerliche Lärmmessung verlangt. Zudem habe er im Rahmen der Befragung zu seiner Tätigkeit in der Firma X AG, die unter anderem die Grundlage für die Durchführung der Messungen bildete, "sehr wohl" Gelegenheit gehabt, sich zu äussern. Schliesslich sei in Anbetracht der Technizität der Schallmessung sowie aufgrund der Messergebnisse, welche eindeutig den Schluss zuliessen, dass eine gehörgefährdende Belastung nicht vorlag, die Anwesenheit des Beschwerdeführers nicht erforderlich gewesen. Dieser Argumentation kann nicht beigepflichtet werden.
| 17 |
Im Bereich der obligatorischen Unfallversicherung haben zwar die Versicherten grundsätzlich keinen Anspruch auf Anhörung vor Verfügungserlass (Art. 30 Abs. 2 lit. b VwVG). Spätestens im Einspracheverfahren (Art. 105 Abs. 1 UVG) hat der Unfallversicherer jedoch die allgemeinen Grundsätze des rechtlichen Gehörs zu wahren (vgl. RKUV 1992 Nr. U 152 S. 199 Erw. 3b). Wird bereits vor Verfügungserlass beispielsweise ein Augenschein durchgeführt, ist dem Versicherten spätestens im Einspracheverfahren in rechtsgenüglicher Form Gelegenheit zu geben, sich dazu - inhaltlich wie auch zum Verfahren - zu äussern, wobei er auf die Möglichkeit hingewiesen werden muss, einen weiteren Augenschein zu beantragen (unveröffentlichtes Urteil des Bundesgerichts vom 21. September 1989 [1A.36/1989], zitiert in BGE 116 Ia 100 Erw. 3b). Macht er davon keinen Gebrauch, darf die Verwaltung davon ausgehen, dass er auf dieses Teilnahmerecht rechtsgültig verzichtet hat (vgl. GRISEL, a.a.O., S. 383); es verstiesse mithin gegen Treu und Glauben, wenn der Versicherte im Beschwerdeverfahren eine diesbezügliche Gehörsverletzung - mit Erfolg - rügen könnte (BGE 111 Ia 163 Erw. 1a oben; vgl. BGE 118 Ia 284 Erw. 3a, BGE 115 V 262 Erw. 4b).
| 18 |
Ein solcher Verzichtstatbestand ist vorliegend nicht gegeben. Die SUVA hat in ihrer Verfügung vom 23. August 1993 die zwei Monate vorher durchgeführten Schallimmissionsmessungen nicht erwähnt; davon war erstmals im Einspracheentscheid vom 1. Oktober 1993 die Rede. Unter diesen Umständen hat der Beschwerdeführer rechtzeitig mit der Beschwerde an das kantonale Gericht eine Lärmmessung in seiner Anwesenheit verlangt.
| 19 |
6. Zusammenfassend ergibt sich, dass SUVA und kantonales Gericht den Anspruch des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör verletzt haben, indem sie die Durchführung der Schallimmissionsmessungen am früheren Arbeitsplatz des Versicherten ohne dessen Beisein als zulässig erachtet und auf die dabei gewonnenen Ergebnisse abgestellt haben. Zwar hat der Beschwerdeführer nachträglich im kantonalen Gerichtsverfahren zum Ergebnis des Augenscheins Stellung nehmen können; dies genügt jedoch nicht, liegen doch, wie in Erw. 5a gezeigt, keine triftigen Gründe vor, von einer Teilnahme des Betroffenen abzusehen. Mit Blick auf die Bedeutung dieses Beweismittels im vorliegenden Fall vermag im übrigen die nachträgliche Äusserungsmöglichkeit (BGE 116 Ia 100 Erw. 3b, BGE 105 Ia 51 Erw. 2c) wie auch die vorgängige Befragung des Beschwerdeführers zur Arbeitsplatzsituation die unmittelbare Teilnahme an der Beweiserhebung nicht in der Weise aufzuwiegen, dass eine ausnahmsweise Heilung des Verfahrensmangels bejaht werden könnte (BGE 119 V 218 Erw. 6 mit Hinweisen; vgl. ZIMMERLI, Zum rechtlichen Gehör im sozialversicherungsrechtlichen Verfahren, in: Festschrift 75 Jahre EVG, Bern 1992, S. 321 oben, S. 332 ff.). Dies muss um so mehr gelten, als der Versicherte zu den von der SUVA im kantonalen Verfahren eingereichten und von der Vorinstanz verwerteten "Erläuterungen zu den Schallmessungen" (vom 8. April 1994) nicht Stellung nehmen konnte. Die Gehörsverletzung muss daher ungeachtet der Erfolgsaussichten der Beschwerde in der Sache selbst zur Aufhebung des angefochtenen Entscheides führen (BGE 120 V 362 Erw. 2a, BGE 118 Ia 18 Erw. 1a, BGE 104 Ib 123 Erw. 2d, je mit Hinweisen).
| 20 |
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR). |