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Informationen zum Dokument  BGE 125 V 245  Materielle Begründung
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Regeste
Sachverhalt
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1. Nach Art. 29quater AHVG wird die Rente nach Massgabe des durch ...
2. a) Das Gesetz macht den Anspruch auf Anrechnung von Erziehungs ...
3. Der Vorinstanz ist demzufolge im Ergebnis darin beizupflichten ...
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37. Urteil vom 28. Mai 1999 i.S. C. gegen Sozialversicherungsanstalt des Kantons Graubünden, AHV-Ausgleichskasse, und Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden
 
 
Regeste
 
Art. 29sexies Abs. 1 AHVG; Art. 52e AHVV.  
 
Sachverhalt
 
BGE 125 V, 245 (245)A.- Die am 30. April 1936 geborene C. meldete sich am 10. Januar 1998 zum Bezug einer Altersrente der AHV an, wobei sie die Zusprechung von Erziehungsgutschriften für ihr am 14. Dezember 1969 geborenes Pflegekind D. beantragte.
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Mit Verfügung vom 17. April 1998 sprach ihr die Ausgleichskasse des Kantons Graubünden ab 1. Mai 1998 eine ordentliche einfache Altersrente von Fr. 1'202.-- im Monat auf Grund eines massgebenden durchschnittlichen Jahreseinkommens von Fr. 21'492.-- und einer anrechenbaren Beitragsdauer von 41 Jahren gemäss Rentenskala 44 zu. Dabei unterblieb eine Anrechnung von Erziehungsgutschriften.
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B.- Die hiegegen erhobene Beschwerde, mit welcher C. die Neufestsetzung der Rente unter Anrechnung einer halben Erziehungsgutschrift für das Pflegekind D. beantragte, wies das Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden mit der Begründung ab, dass die gesetzliche Regelung den Anspruch auf Anrechnung von Erziehungsgutschriften von der Ausübung der elterlichen Gewalt abhängig mache und kein Ausnahmetatbestand im Sinne der Verordnung vorliege (Entscheid vom 18. August 1998).
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C.- Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde erneuert C. das erstinstanzliche Rechtsbegehren. Sie macht geltend, die Erwerbstätigkeit als Krankenschwester wegen der Erziehungsaufgaben reduziert zu haben, was sich nun negativ auf den Anspruch auf Altersrente auswirke.
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Die Ausgleichskasse des Kantons Graubünden und das Bundesamt für Sozialversicherung schliessen auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.
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Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
 
1. Nach Art. 29quater AHVG wird die Rente nach Massgabe des durchschnittlichen Jahreseinkommens berechnet, welches sich aus dem Erwerbseinkommen, den Erziehungsgutschriften und BGE 125 V, 245 (246)den Betreuungsgutschriften zusammensetzt. Gemäss Art. 29sexies Abs. 1 AHVG wird Versicherten für die Jahre, in welchen sie die elterliche Gewalt über eines oder mehrere Kinder ausüben, die das 16. Altersjahr noch nicht erreicht haben, eine Erziehungsgutschrift angerechnet. Dabei werden Ehepaaren jedoch nicht zwei Gutschriften kumulativ gewährt. Der Bundesrat regelt die Einzelheiten, insbesondere die Anrechnung der Erziehungsgutschrift, wenn (a) Eltern Kinder unter ihrer Obhut haben, ohne die elterliche Gewalt über sie auszuüben, (b) lediglich ein Elternteil in der schweizerischen Alters- und Hinterlassenenversicherung versichert ist, (c) die Voraussetzungen für die Anrechnung einer Erziehungsgutschrift nicht während des ganzen Kalenderjahres erfüllt werden. Gestützt auf die Delegationsnorm von Art. 29sexies Abs. 1 lit. a AHVG hat der Bundesrat in Art. 52e AHVV bestimmt, dass ein Anspruch auf Anrechnung von Erziehungsgutschriften auch für Jahre besteht, in denen die Eltern Kinder unter ihrer Obhut hatten, ohne dass ihnen die elterliche Gewalt zustand.
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Eine Ausnahme von der Voraussetzung der elterlichen Gewalt sieht das AHV-Gesetz lediglich insofern vor, als der Bundesrat Vorschriften über die Anrechnung von Erziehungsgutschriften u.a. für den Fall erlassen kann, dass Eltern Kinder unter ihrer Obhut haben, ohne die elterliche Gewalt über sie auszuüben (Art. 29sexies Abs. 1 lit. a AHVG). Die vom Bundesrat gestützt hierauf erlassene Bestimmung von Art. 52e AHVV beschränkt sich darauf, einen Anspruch auf Anrechnung von Erziehungsgutschriften auch für Jahre vorzusehen, in denen Eltern Kinder in ihrer Obhut hatten, ohne dass ihnen die elterliche Gewalt zustand. Geregelt wird damit der Fall, dass den leiblichen Eltern, Stief- oder Adoptiveltern die elterliche Gewalt entzogen wurde (Art. 311 ff. ZGB). Nicht unter die Bestimmung fallen die Pflegeeltern, weil ihnen von vorneherein keine elterliche Gewalt zukommt.
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BGE 125 V, 245 (247)b) Dass Pflegekindverhältnisse zu keiner Anrechnung von Erziehungsgutschriften Anlass geben, ergibt sich auch aus der Entstehungsgeschichte von Art. 29sexies AHVG und den Materialien zur 10. AHV-Revision.
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aa) Die Erziehungsgutschriften wurden zunächst mit dem auf den 1. Januar 1994 in Kraft getretenen Bundesbeschluss über Leistungsverbesserungen in der AHV und IV sowie ihre Finanzierung vom 19. Juni 1992 (SR 831.100.1) zur Verbesserung der Stellung der geschiedenen Frau eingeführt. Nach dessen Art. 2 Abs. 1 konnten geschiedene Altersrentnerinnen verlangen, dass ihnen bei der Rentenberechnung eine jährliche Erziehungsgutschrift in der Höhe der dreifachen minimalen einfachen Altersrente für jene Jahre angerechnet wurde, in denen sie die elterliche Gewalt über Kinder ausgeübt hatten, welche das 16. Altersjahr noch nicht vollendet hatten. Mit Absatz 2 der Bestimmung wurde der Bundesrat beauftragt, die Einzelheiten zu regeln, insbesondere die Anrechnung der Erziehungsgutschrift für Mütter, welche Kinder unter ihrer Obhut hatten, ohne die elterliche Gewalt über sie auszuüben, sowie bei Pflegekindverhältnissen. Der Bundesrat kam diesem Auftrag u.a. mit dem Erlass von Art. 53ter Abs. 1 AHVV nach, welcher bestimmte, dass eine Anrechnung von Erziehungsgutschriften auch dann erfolgen kann, wenn die geschiedene Altersrentnerin ein Kind lediglich zur Pflege aufgenommen hatte.
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bb) Im Rahmen der 10. AHV-Revision (AS 1996 2466 ff; in Kraft seit 1. Januar 1997) und der im Zusammenhang mit dem Rentensplitting vorgesehenen Einführung der Erziehungsgutschriften für verheiratete Rentenbezüger bildete die Frage der Anrechnung von Erziehungsgutschriften bei Pflegekindverhältnissen erneut Gegenstand der Beratungen. Gemäss einem Beschluss des Nationalrates vom 10. März 1993 (Amtl.Bull. 1993 N 255) sollte der Bundesrat Vorschriften insbesondere über die Anrechnung von Erziehungsgutschriften für Kinder erlassen, die zu dauernder Pflege und Erziehung aufgenommen wurden (Art. 29quinquies Abs. 1 lit. b AHVG des Entwurfs). Auf Antrag seiner Kommission beschloss der Ständerat die Streichung dieser Bestimmung mit der Begründung, dass ein Anspruch auf Erziehungsgutschriften für Pflegekinder nicht praktikabel sei, wie die bisherigen Erfahrungen mit den Erziehungsgutschriften für geschiedene Frauen gezeigt hätten. Zudem lasse sich ein Verzicht auf die Erziehungsgutschrift für Pflegekinder auch unter sozialen Gesichtspunkten rechtfertigen, weil sie bei Stiefkindverhältnissen sowie bei Pflegeverhältnissen, welche im Hinblick auf BGE 125 V, 245 (248)eine Adoption erfolgen, gar nicht nötig sei (Amtl.Bull. 1994 S 550 und 597). Der Nationalrat hielt an seinem Beschluss fest, wobei er durch Einfügung eines neuen Abs. 1bis den vom Ständerat erwähnten praktischen Schwierigkeiten dadurch Rechnung tragen wollte, dass der Anspruch auf Erziehungsgutschriften für Pflegekinder jährlich geltend zu machen gewesen wäre (Amtl.Bull. 1994 N 1355 f.). Im Differenzbereinigungsverfahren hielt der Ständerat am Streichungsbeschluss fest (Amtl.Bull. 1994 S 979 f.), welchem Beschluss sich der Nationalrat (angesichts einer drohenden Verzögerung des Inkrafttretens der 10. AHV-Revision) in der Folge anschloss (Amtl.Bull. 1994 N 1676).
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cc) Aus den Materialien geht somit klar hervor, dass der Gesetzgeber den Anspruch auf Anrechnung von Erziehungsgutschriften nicht auf Pflegekindverhältnisse ausdehnen wollte. Insbesondere auch im Hinblick auf die mit Verordnungsänderung vom 29. November 1995 (AS 1996 668 ff.) auf den 1. Januar 1997 aufgehobene Bestimmung von Art. 53ter (Abs. 1) AHVV hätte es in Art. 29sexies Abs. 1 AHVG und Art. 52e AHVV einer ausdrücklichen Erwähnung des Pflegekindverhältnisses bedurft, wenn dieses ebenfalls hätte anspruchsbegründend sein sollen. An einer solchen Regelung fehlt es jedoch.
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3. Der Vorinstanz ist demzufolge im Ergebnis darin beizupflichten, dass im vorliegenden Fall kein Anspruch auf Anrechnung von Erziehungsgutschriften besteht. Dies nicht nur, weil - entsprechend den Erwägungen des kantonalen Gerichts - sich die Verordnungsbestimmung im Rahmen der Delegationsnorm hält und die Verwaltungsweisungen mit den anwendbaren gesetzlichen Bestimmungen vereinbar sind, sondern vorab deshalb, weil der Gesetzgeber den Anspruch auf Erziehungsgutschriften bei Pflegekindverhältnissen im Sinne eines qualifizierten Schweigens ausgeschlossen hat. Daran hat sich auch das Eidg. Versicherungsgericht zu halten. Denn ist der Gesetzeswortlaut klar und stimmt der Wortsinn mit dem Rechtssinn der Norm, wie er sich eindeutig aus der in den Materialien dokumentierten Regelungsabsicht des Gesetzgebers ableiten lässt, überein, liegt weder eine im Sinne freier richterlicher Rechtsfindung zu füllende (echte) Lücke vor (Art. 1 Abs. 2 ZGB; BGE 119 V 255 Erw. 3b mit Hinweisen), noch bleibt Raum für eine verfassungskonforme Auslegung (BGE 122 V 93 Erw. 5a/aa, BGE 119 V 130 Erw. 5b, BGE 111 V 364 Erw. 3b, je mit Hinweisen). Dies schliesst zwar eine Prüfung der in Frage stehenden Gesetzesvorschrift auf ihre Übereinstimmung mit der Verfassung grundsätzlich BGE 125 V, 245 (249)nicht aus. Art. 113 Abs. 3 BV und Art. 114bis Abs. 3 BV, wonach es den rechtsanwendenden Behörden untersagt ist, Bundesgesetze auf ihre Verfassungsmässigkeit zu überprüfen, statuieren lediglich ein Anwendungsgebot, nicht ein Prüfungsverbot (BGE 123 II 11 Erw. 2, BGE 123 V 322 Erw. 6b/bb). Vorliegend besteht indessen kein Anlass, eine allfällige Verfassungswidrigkeit von Art. 29sexies Abs. 1 AHVG zu prüfen. Wie es sich hinsichtlich der Stichhaltigkeit der vom Gesetzgeber für den Ausschluss von Erziehungsgutschriften bei Pflegekindverhältnissen geltend gemachten Gründen verhält, hat daher offen zu bleiben. Im Übrigen wird auch von der Beschwerdeführerin nicht geltend gemacht, dass die geltende Regelung gegen die Verfassung, insbesondere das Rechtsgleichheitsgebot verstösst.
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