VerfassungsgeschichteVerfassungsvergleichVerfassungsrechtRechtsphilosophie
UebersichtWho-is-WhoBundesgerichtBundesverfassungsgerichtVolltextsuche...

Informationen zum Dokument  BGE 136 V 95  Materielle Begründung
Druckversion | Cache | Rtf-Version

Regeste
Sachverhalt
Aus den Erwägungen:
Erwägung 5
Erwägung 6
Erwägung 7
Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch)  
 
12. Auszug aus dem Urteil der I. sozialrechtlichen Abteilung i.S. A. gegen Regionales Arbeitsvermittlungszentrum Sargans (RAV) (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
 
 
8C_5/2009 vom 2. März 2010
 
 
Regeste
 
Art. 15 Abs. 2 AVIG in Verbindung mit Art. 15 Abs. 3 AVIV; Art. 70 Abs. 2 lit. b ATSG; Koordination zwischen Arbeitslosen- und Invalidenversicherung.  
 
Sachverhalt
 
BGE 136 V, 95 (96)A. Der 1977 geborene A. war seit 1. Oktober 2004 als Maschinenführer für die V. AG tätig. Seit einem Arbeitsunfall vom 17. Januar 2006 konnte er diese Beschäftigung nicht mehr ausüben, weshalb die Gesellschaft das Arbeitsverhältnis per 31. Oktober 2006 durch Kündigung auflöste. Die Agrisano Krankenkasse richtete Krankentaggelder aus. Mit Schreiben vom 17. Juli 2007 kündigte sie per 23. Juli 2007 eine Reduktion der Taggeldzahlungen auf 50 % an. Am 14. August 2007 meldete sich A. bei der Arbeitslosenversicherung zur Arbeitsvermittlung an. In seinem Antrag auf Arbeitslosenentschädigung vom 20. August 2007 gab er an, er sei bereit und in der Lage, teilzeitlich, höchstens im Umfang eines 50%igen Arbeitspensums, erwerbstätig zu sein. Die Kantonale Arbeitslosenkasse St. Gallen leistete Taggelder auf der Basis eines anrechenbaren Arbeitsausfalls von 50 % (bzw. auf der Basis eines versicherten Verdienstes von Fr. 2'275.- [50 % von Fr. 4'550.-]). Am 28. Februar 2008 liess A. mitteilen, auf den 17. März 2008 werde er bei seiner Krankentaggeldversicherung ausgesteuert, und, mit Hinweis auf die Vorleistungspflicht der Arbeitslosenversicherung, um Anpassung der Arbeitslosentaggelder ersuchen. Das Regionale Arbeitsvermittlungszentrum Sargans (RAV) verfügte daraufhin am 24. April 2008, der anrechenbare Arbeitsausfall betrage nach wie vor 50 %, womit A. im "Umfang von fünfzig Prozent vermittlungsfähig" sei. Daran hielt es auf Einsprache hin fest (Einspracheentscheid vom 19. Mai 2008).
1
B. Das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen wies die dagegen erhobene Beschwerde ab (Entscheid vom 24. Oktober 2008).
2
C. A. lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen mit dem Antrag, "die Vermittlungsfähigkeit bzw. der anrechenbare Arbeitsausfall" sei ab 18. März 2008 auf 100 % festzulegen und es seien ihm entsprechende Arbeitslosentaggelder auszurichten.
3
Das RAV reicht keine Vernehmlassung ein. Das Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) schliesst auf Gutheissung der Beschwerde.
4
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut und weist die Sache zur Neufestsetzung der Arbeitslosenentschädigung an das RAV zurück.
5
 
BGE 136 V, 95 (97)Aus den Erwägungen:
 
 
Erwägung 5
 
5.1 Gemäss Art. 8 Abs. 1 lit. f AVIG (SR 837.0) in Verbindung mit Art. 15 Abs. 1 AVIG hat der Versicherte Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung, wenn er (unter anderem) vermittlungsfähig ist, d.h. wenn er bereit, in der Lage und berechtigt ist, eine zumutbare Arbeit anzunehmen und an Eingliederungsmassnahmen teilzunehmen. Der Begriff der Vermittlungs(un)fähigkeit als Anspruchsvoraussetzung schliesst graduelle Abstufungen aus. Entweder ist die versicherte Person vermittlungsfähig, insbesondere bereit, eine zumutbare Arbeit (im Umfang von mindestens 20 % eines Normalarbeitspensums; vgl. Art. 5 AVIV [SR 837.02] und BGE 120 V 385 E. 4c/aa S. 390) anzunehmen, oder nicht (BGE 126 V 124 E. 2 S. 126; BGE 125 V 51 E. 6a S. 58). Die Vermittlungsfähigkeit kann sich dabei beispielsweise auf ein kleineres Pensum beziehen, während sie für ein höheres Pensum nicht gegeben sein kann; im Rahmen eines bestimmten (mindestens 20%igen) Pensums kann die Vermittlungsfähigkeit indessen nur erfüllt oder nicht erfüllt sein.
6
5.2 Im Falle eingeschränkter Leistungsfähigkeit ist zu unterscheiden zwischen vorübergehend fehlender oder verminderter Arbeitsfähigkeit im Sinne von Art. 28 AVIG und den behinderten Versicherten im Sinne von Art. 15 Abs. 2 AVIG. Beide Tatbestände sind Ausnahmen vom Grundprinzip der Arbeitslosenversicherung, wonach Leistungen nur bei Vermittlungsfähigkeit der Versicherten in Betracht kommen. Über das Merkmal der vorübergehenden Einschränkung in der Arbeitsfähigkeit erfolgt die Abgrenzung zu den Behinderten im Sinne von Art. 15 Abs. 2 AVIG (BGE 126 V 124 E. 3a und b S. 127; THOMAS NUSSBAUMER, Arbeitslosenversicherung, in: Soziale Sicherheit, SBVR Bd. XIV, 2. Aufl. 2007, S. 2264 Rz. 280). Bei länger andauernder gesundheitlicher Beeinträchtigung ist die Vermittlungsfähigkeit (Art. 15 AVIG) massgebendes Abgrenzungskriterium. Nach Art. 15 Abs. 2 Satz 1 AVIG gilt der körperlich oder geistig Behinderte als vermittlungsfähig, wenn ihm bei ausgeglichener Arbeitsmarktlage, unter Berücksichtigung seiner Behinderung, auf dem Arbeitsmarkt eine zumutbare Arbeit vermittelt werden könnte. Bestehen erhebliche Zweifel an der Arbeitsfähigkeit eines Arbeitslosen, so kann die kantonale Amtsstelle eine vertrauensärztliche Untersuchung auf Kosten der Versicherung anordnen (Art. 15 Abs. 3 AVIG). Die Kompetenz zur Regelung der Koordination mit BGE 136 V, 95 (98)der Invalidenversicherung ist in Art. 15 Abs. 2 Satz 2 AVIG dem Bundesrat übertragen worden. Dieser hat in Art. 15 Abs. 3 AVIV festgelegt, dass ein Behinderter (nachfolgend auch als "Neubehinderter" bezeichnet, womit ein Behinderter gemeint ist, bei welchem die Frage der IV-Rentenberechtigung bzw. der Leistungsanspruch bei einer anderen Versicherung noch nicht abgeklärt ist: GERHARD GERHARDS, Kommentar zum Arbeitslosenversicherungsgesetz [AVIG], Bd. I [Art. 1-58], 1988, N. 93 zu Art. 15 AVIG), der unter der Annahme einer ausgeglichenen Arbeitsmarktlage nicht offensichtlich vermittlungsunfähig ist, und der sich bei der Invalidenversicherung (oder einer anderen Versicherung nach Art. 15 Abs. 2 AVIV) angemeldet hat, bis zum Entscheid der anderen Versicherung als vermittlungsfähig gilt.
7
8
 
Erwägung 6
 
9
6.2 Aus der Botschaft vom 2. Juli 1980 zu einem neuen Bundesgesetz über die obligatorische Arbeitslosenversicherung und die Insolvenzentschädigung (BBl 1980 III 489) geht hervor, dass die Ausrichtung von Leistungen an arbeitslose Kranke oder Behinderte infolge der Vernehmlassungen von Grund auf neu überdacht und mit Art. 15 und 28 (gemäss Entwurf des Bundesrates: Art. 14 und 27) AVIG BGE 136 V, 95 (99)"grosszügig ausgestaltet" worden ist (BBl 1980 III 549 Ziff. 273). Das Erfordernis der Vermittlungsfähigkeit als einer der zentralen Punkte der Arbeitslosenversicherung sei bei Behinderten stark abgeschwächt und in Beziehung zu ihrer Behinderung gesetzt worden (BBl 1980 III 567 f. zu Art. 14 E-AVIG). Dem Protokoll der Sitzung (der vorberatenden Kommission des Nationalrates) vom 25. August 1980 lässt sich entnehmen, dass nach Koordinationsmöglichkeiten mit der Invalidenversicherung gesucht wurde. Mit der neuen Regelung sollte erreicht werden, dass einerseits die Aufgaben zwischen Arbeitslosen- und Invalidenversicherung klar aufgeteilt sind, und anderseits verhindert werden, dass die von einer Invalidität betroffenen Personen "zwischen Stuhl und Bank" fallen. In der Detailberatung der Eidg. Kammern stellte Nationalrat Leuenberger Antrag auf Aufnahme eines Art. 15 (bzw. gemäss Entwurf des Bundesrates: Art. 14) Abs. 4 AVIG, wonach die Kasse Taggelder bis zur Ablösung durch eine andere Sozialversicherung vorzuschiessen habe, wenn dem Versicherten aufgrund dieser Untersuchung (gemeint ist die vertrauensärztliche Untersuchung nach Art. 15 Abs. 3 AVIG) die Vermittlungsfähigkeit abgesprochen wurde, wobei sie im Ausmass ihrer Leistungen in die Rechte des Arbeitslosen eintrete (AB 1981 N 629 f.). Nach seinem Votum ist der vertrauensärztliche Befund gemäss Art. 15 Abs. 3 AVIG nicht mit einer Abklärung bezüglich Invalidität identisch, weshalb die betroffene Person (in diesem Zeitpunkt) auch keine Leistungen der Invalidenversicherung erhalte. Mit dem beantragten Abs. 4 solle erreicht werden, dass die Kasse so lange Vorschussleistungen erbringe, bis die Betroffenen in den Genuss der Leistungen der Invalidenversicherung kämen. Andernfalls würden die Versicherten ausgerechnet in der schwierigsten Zeit keine Taggelder erhalten, was nicht Sinn des Abs. 3 sein könne, weil sie ja schliesslich vorher gearbeitet und Beiträge an die Arbeitslosenkasse geleistet hatten. Der Antrag fand in der Folge keine Ratsmehrheit. Allerdings hat Bundesrat Honegger vorgängig der Abstimmung ausdrücklich darauf hingewiesen, dass bezüglich Konkurrenz zwischen Arbeitslosen- und Invalidenversicherung gemäss Art. 15 Abs. 2 AVIG der Bundesrat die Koordination mit der Invalidenversicherung regle und hier "mit Herrn Leuenberger keine grossen Differenzen" bestehen würden (AB 1981 N 630).
10
6.3 GERHARDS (a.a.O., N. 99 zu Art. 15 AVIG) erwähnt ebenfalls (vgl. den Hinweis auf das Protokoll der Sitzung der vorberatenden Kommission des Nationalrates vom 25. August 1980 in E. 6.2 hiervor), BGE 136 V, 95 (100)dass der Behinderte, vor allem mit Blick auf die lange Wartezeit bei der Invalidenversicherung, nicht "zwischen Stuhl und Bank fallen" solle. Dies verhindere Art. 15 Abs. 3 AVIV, aus welchem sich eine Vorleistungspflicht der Arbeitslosenversicherung ergebe. Unter den Bedingungen von Art. 15 Abs. 2 AVIG gelte ein Neubehinderter entweder grundsätzlich oder überhaupt nicht als vermittlungsfähig. Denn zur Verhinderung von Entschädigungslücken solle er zunächst einen Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung besitzen, wie wenn er nicht behindert wäre. Bei der Berechnung der Entschädigung werde nicht nach dem "Grad der Vermittlungsfähigkeit" gefragt (GERHARDS, a.a.O., N. 94 zu Art. 15 AVIG; in diesem Sinne wohl auch NUSSBAUMER, a.a.O., S. 2265 Rz. 283, und UELI KIESER, ATSG-Kommentar, 2. Aufl. 2009, N. 21 f. zu Art. 70 ATSG). Auch JACQUES-ANDRÉ SCHNEIDER (LAI,perte de gain maladie et LACI: quel suivi individualisé pour l'assuré?, in: 5e révision de l'AI, Kahil-Wolff/Simonin [Hrsg.], 2009, S. 78) ist der Ansicht, die arbeitslose Personhabe Anspruch auf Arbeitslosentaggelder, basierend auf einem 100%igen Arbeitsausfall, falls sie nicht offensichtlich als vermittlungsunfähig erscheine und bereit sei, eine ihrer - nicht notwendigerweise ärztlich attestierten - eingeschränkten Arbeitsfähigkeit entsprechende Anstellung zu suchen bzw. anzunehmen. Es handle sich um eine provisorische oder vorsorgliche Kostentragung, durch welche vermieden werden solle, dass arbeitslose Personen während der Dauer der notwendigen Abklärungen durch die Invalidenversicherung auf Versicherungsleistungen verzichten müssten.
11
6.4 Die Weisungen des SECO zu Art. 15 Abs. 3 AVIV sind klar. Nach Ziffer B254 des Kreisschreibens des SECO über die Arbeitslosenentschädigung (KS ALE), gültig ab Januar 2007, ist das Taggeld auf der Basis eines 100%igen Arbeitsausfalls festzulegen, falls nicht von offensichtlicher Vermittlungsunfähigkeit auszugehen und die versicherte Person grundsätzlich bereit ist, im Umfang der allenfalls ärztlich festgestellten Arbeitsfähigkeit eine als zumutbar erachtete Arbeit anzunehmen, wobei sich die geäusserte Bereitschaft in den Arbeitsbemühungen widerspiegeln muss, ansonsten Sanktionen zu verfügen sind. Die Arbeitsbemühungen müssen sich auf Stellen beziehen, die hinsichtlich Umfang und Anforderungen zumutbar sind für die versicherte Person (gleichlautend: Weisung ALE 015-AVIG-Praxis 2005/29 des SECO betreffend Koordination ALV-IV; http://tecnet.seco.admin.ch).
12
 
BGE 136 V, 95 (101)Erwägung 7
 
7.1 Art. 15 Abs. 2 AVIG statuiert die gesetzliche Vermutung der grundsätzlich gegebenen Vermittlungsfähigkeit von Behinderten. Der Bundesrat regelt die Koordination mit der Invalidenversicherung (Art. 15 Abs. 2 letzter Satz AVIG), was er in Art. 15 Abs. 3 AVIV getan hat. Wie sich bereits aus dem Gesetzeswortlaut und der Verordnungsbestimmung selbst, aber auch aus den Materialien zur Entstehung des Art. 15 Abs. 2 AVIG ergibt, liegt der Sinn und Zweck von Art. 15 Abs. 3 AVIV darin, für die Zeit, in welcher der Anspruch auf Leistungen einer anderen Versicherung abgeklärt wird und somit noch nicht feststeht (Schwebezustand), Lücken im Erwerbsersatz zu vermeiden. Dies wird durch die Vorleistungspflicht der Arbeitslosenversicherung im Sinne von Art. 70 Abs. 2 lit. b ATSG und Art. 15 Abs. 2 AVIG in Verbindung mit Art. 15 Abs. 3 AVIV bewerkstelligt. Aufgrund dieser Bestimmungen hat die Arbeitslosenversicherung arbeitslose, bei einer anderen Versicherung angemeldete Personen zu entschädigen, falls ihre Vermittlungsunfähigkeit nicht offensichtlich ist. Dieser Anspruch auf eine ungekürzte Arbeitslosenentschädigung besteht namentlich, wenn die voll arbeitslose Person nurmehr aus gesundheitlichen Gründen lediglich noch teilzeitlich arbeiten könnte, solange sie im Umfang der ihr ärztlicherseits attestierten Arbeitsfähigkeit eine Beschäftigung sucht und bereit ist, eine neue Anstellung mit entsprechendem Pensum anzutreten. Die Vorleistungspflicht der Arbeitslosenversicherung gemäss Art. 70 Abs. 2 lit. b ATSG und Art. 15 Abs. 3 AVIV ist auf die Dauer des Schwebezustandes begrenzt, denn sobald das Ausmass der Erwerbsunfähigkeit feststeht, wird der versicherte Verdienst (Art. 23 Abs. 1 AVIG in Verbindung mit Art. 37 AVIV) - gemäss Art. 25 ATSG in Verbindung mit Art. 95 Abs. 1 sowie Abs. 1bis AVIG - im Sinne von Art. 40b AVIV angepasst (BGE 133 V 530 E. 4.1.2 S. 534). Bei Versicherten, die unmittelbar vor oder während der Arbeitslosigkeit eine gesundheitsbedingte Beeinträchtigung ihrer Erwerbsfähigkeit erleiden, ist nämlich gemäss Art. 40b AVIV der Verdienst massgebend, welcher der verbleibenden Erwerbsfähigkeit entspricht. Art. 40b AVIV betrifft die Abgrenzung der Zuständigkeit der Arbeitslosenversicherung gegenüber anderen Versicherungsträgern nach Massgabe der Erwerbsfähigkeit. Mit dieser Verordnungsbestimmung wird die Leistungspflicht der Arbeitslosenversicherung auf einen Umfang beschränkt, welcher sich nach der verbleibenden Erwerbsfähigkeit der versicherten Person während der Dauer der BGE 136 V, 95 (102) Arbeitslosigkeit auszurichten hat (BGE 133 V 524). Der Sinn der vollumfänglichen Vorleistungspflicht der Arbeitslosenversicherung während der Dauer des Schwebezustandes liegt in der Gewährleistung des Lebensunterhaltes der arbeitslosen Neubehinderten bis zum Abschluss des Verfahrens der Invalidenversicherung (oder der anderenVersicherung im Sinne von Art. 15 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 15 Abs. 2 AVIV). Es ist den Ausführungen des SECO in seiner Vernehmlassung beizupflichten, dass Neubehinderte zur Verhinderung von Entschädigungslücken zunächst einen Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung besitzen sollen, wie wenn sie nicht behindert wären (GERHARDS, a.a.O., N. 94 zu Art. 15 AVIG). In dieser Phase kann bei der Berechnung der Arbeitslosentaggelder die verbleibende Erwerbsfähigkeit noch nicht berücksichtigt werden, weil die diesbezüglichen Abklärungen bei der Invalidenversicherung (oder eineranderen Versicherung) noch nicht abgeschlossen sind. Die Erwerbsfähigkeit kann auch nicht mit der subjektiven oder der ärztlich attestierten Arbeitsfähigkeit gleichgesetzt werden. Deshalb gelten Neubehinderte entweder grundsätzlich oder überhaupt nicht als vermittlungsfähig. Erst wenn die Erwerbsfähigkeit von der anderen Versicherung abgeklärt ist, erfolgt die Koordination über Art. 40b AVIV.
13
7.2 Das SECO weist zu Recht darauf hin, dass eine vorgängige Korrektur der Taggeldhöhe nach Massgabe des "Grades der Vermittlungsfähigkeit" im Sinne des angefochtenen Gerichtsentscheides die koordinationsrechtlichen Bestimmungen (Art. 15 Abs. 2 AVIG, Art. 15 Abs. 3 AVIV und Art. 70 Abs. 1 ATSG) ihres Sinnes entleeren würde. Die Bestimmung des "Vermittlungsfähigkeitsgrades" könnte zudem nur gestützt auf die ärztlich attestierte Teilarbeitsfähigkeit - welche für sich allein keine Rückschlüsse auf die Erwerbsunfähigkeit zulässt - erfolgen. Allein die Erwerbsfähigkeit ist allerdings für die Anpassung der Leistungen von behinderten Personen massgebend. Das SECO führt zutreffend aus, dass das Abstellen auf die Erwerbsfähigkeit im Rahmen der Anwendung von Art. 40b AVIV auch zur Berücksichtigung der Arbeitsfähigkeit führt, welche sowohl Teilaspekt der Erwerbs- als auch der Vermittlungsfähigkeit bildet. So würde wohl die vorgängige Anpassung der Taggelder an den "Grad der Vermittlungsfähigkeit" nach Massgabe der Arbeitsfähigkeit bei anschliessender Korrektur im Sinne von Art. 40b AVIV eine mehrfache Berücksichtigung des Aspekts der Arbeitsfähigkeit bedeuten. Für das SECO ist demzufolge fraglich, ob die BGE 136 V, 95 (103)durch die Invalidenversicherung festgestellte Erwerbsunfähigkeit in demjenigen Ausmass, in welchem diese durch die Arbeitsunfähigkeit bestimmt sei, noch als neue Tatsache im revisionsrechtlichen Sinne qualifziert werden könne und demgemäss Art. 40b AVIV in diesem Umfang Anwendung finden würde. Wie es sich damit verhält, kann an dieser Stelle offenbleiben. Der in der Vernehmlassung des SECO geäusserte Einwand der Rechtsungleichheit bei einer vorgängigen Anpassung der Arbeitslosentaggelder an den "Grad der Vermittlungsfähigkeit" lässt sich jedenfalls nicht von der Hand weisen. Die Höhe der Arbeitslosenentschädigung würde nämlich bei der vom kantonalen Gericht gewählten Vorgehensweise von der Art der Behinderung abhängen: Während Neubehinderte, welche unfähig sind, vollzeitlich bzw. im ursprünglich ausgeübten Pensum tätig zu sein, lediglich eine Teilarbeitslosenentschädigung im Ausmass des der Teilarbeitsfähigkeit entsprechenden "Grades der Vermittlungsfähigkeit" beziehen könnten, würde denjenigen Neubehinderten, welche in einzelnen (leidensangepassten) Beschäftigungen vollständig arbeitsfähig sind, ein volles Arbeitslosentaggeld ausgerichtet, obwohl in beiden Fallbeispielen das Ausmass der Erwerbsunfähigkeit gleich hoch sein kann.
14
7.3 Die Vermittlungsfähigkeit im Sinne von Art. 15 Abs. 1 AVIG beschlägt drei Elemente, wovon die Arbeitsfähigkeit und die Arbeitsberechtigung objektiver Natur sind, die Frage der Vermittlungsbereitschaft jedoch subjektiver Natur (NUSSBAUMER, a.a.O., S. 2258 Rz. 261). Während die Arbeitsberechtigung bei Neubehinderten natürlich gleichermassen vorliegen muss wie bei nicht behinderten Arbeitslosen, wird die Vermittlungsfähigkeit bei Neubehinderten bezogen auf ein Ganztagespensum unter Umständen präsumtiv auch bei teilweiser Arbeitsunfähigkeit bejaht. Weitere unverzichtbare Voraussetzung ist jedoch die Vermittlungsbereitschaft, welche sich allerdings bei arbeitslosen Neubehinderten nur auf ein Pensum beziehen muss, welches der ärztlich attestierten Arbeitsfähigkeit entspricht (vgl. E. 5.1 in fine). Ist die Vermittlungsbereitschaft im Rahmen dieser (Rest-)Arbeitsfähigkeit erstellt, so besteht entsprechend Art. 15 Abs. 2 AVIG in Verbindung mit Art. 15 Abs. 3 AVIV Anspruch auf eine ganze Arbeitslosenentschädigung, falls die versicherte Person bei voller Gesundheit eine Anstellung mit Ganztagespensum suchen würde. Arbeitslose Neubehinderte werden während des Verfahrens bei der Invalidenversicherung oder bei einer anderen Versicherung (Art. 15 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 15 Abs. 2 AVIG) mit nicht BGE 136 V, 95 (104)behinderten Arbeitslosen in dem Sinne gleich behandelt, dass beide eine volle Arbeitslosenentschädigung erhalten, wenn (aber nur dann) sie sich im Rahmen ihrer Arbeitsfähigkeit dem Arbeitsmarkt vollumfänglich zur Verfügung stellen; von beiden wird nicht mehr gefordert, als sie leisten können. Will eine versicherte Person aufgrund ihrer gesundheitlichen Einschränkung allerdings gar nicht mehr arbeiten, oder schätzt sie sich selber als ganz arbeitsunfähig ein, so ist sie vermittlungsunfähig. Selbst wenn in einem solchen Fall eine ärztliche Bestätigung vorliegt, wonach entgegen der subjektiven Einschätzung der neubehinderten Person eine (teilweise) Arbeitsfähigkeit bestehe, bleibt es bei der Vermittlungsunfähigkeit mangels Vermittlungsbereitschaft. Unter diesen Umständen hat die versicherte Person keinen Anspruch auf (Vor-)Leistungen der Arbeitslosenversicherung (SCHNEIDER, a.a.O., S. 77).
15
7.4 Die in Erwägung 6.4 hiervor erwähnten Verwaltungsweisungen stellen eine überzeugende Konkretisierung der rechtlichen Vorgaben dar und lassen eine dem Einzelfall angepasste und gerecht werdende Auslegung der anwendbaren gesetzlichen Bestimmungen zu (nicht publizierte E. 4.3). In der Literatur wird keine abweichende Meinung vertreten (E. 6.3 hiervor). Würde demgegenüber für die in Art. 15 Abs. 3 AVIV definierte Übergangszeit mit dem kantonalen Gericht angenommen, die Leistungspflicht der Arbeitslosenversicherung bestehe nur in dem Umfang, welcher der (vorläufigen) Restarbeitsfähigkeit entspricht, so würde der Vorleistungspflicht der Arbeitslosenversicherung die Anwendung versagt, was der Intention der Verordnungsbestimmung (und Art. 70 Abs. 2 lit. b ATSG), aber auch der Gesetzesgrundlage, welche eine Koordination zwischen Arbeitslosen- und Invalidenversicherung auf Verordnungsstufe vorsieht (Art. 15 Abs. 2 AVIG), zuwiderlaufen würde. Zu Recht beruft sich der Beschwerdeführer auf ARV 2008 S. 236, 8C_78/2007 E. 4.2, worin festgehalten wird, dass ein - nicht offensichtlich vermittlungsunfähiger - Versicherter, der sich lediglich noch für eine Teilzeittätigkeit im Umfang von 60 % einsatzfähig und taggeldbezugsberechtigt hält und daher nur Arbeit in einem Teilzeitpensum von 60 % sucht, nach Art. 27 ATSG von der Verwaltung darüber aufzuklären ist, dass er bis zum Entscheid der Invalidenversicherung als vermittlungsfähig gilt und daher eine Einschränkung seines Taggeldanspruchs wegen eines nur teilweise anrechenbaren Arbeitsausfalls nicht hinnehmen muss. In gleichem Sinn wurde auch im Urteil C 119/06 vom 24. April 2007 E. 4.3 festgehalten, dass BGE 136 V, 95 (105)die (im Sinne von Art. 15 Abs. 3 AVIV) nicht offensichtlich vermittlungsunfähige versicherte Person eine Einschränkung ihres Taggeldanspruches wegen Arbeitsunfähigkeit [unter dem Titel des anrechenbaren Arbeitsausfalles] nicht hinzunehmen braucht (vgl. auch Urteil 8C_749/2007 vom 3. September 2008 E. 5.3 und Urteil [des Eidg. Versicherungsgerichts] C 335/05 vom 14. Juli 2006 E. 3.3). Soweit in ARV 2004 S. 124, C 272/02, andere Schlüsse gezogen wurden, kann daran nicht festgehalten werden.
16
17
Die Vorinstanz hat die Vermittlungsbereitschaft des Versicherten in Frage gestellt. Sie hat ausgeführt, er erachte sich lediglich im Umfang von 50 % als arbeitsfähig und sei daher auch nur in diesem Umfang bereit, sich dem Arbeitsmarkt zur Verfügung zu stellen. Daraus kann allerdings nichts zu Ungunsten des Versicherten abgeleitet werden. Er war während der massgebenden Zeit bereit, im Ausmass der ihm ärztlich attestierten Arbeitsfähigkeit eine Stelle anzunehmen; Gegenteiliges hat er nie signalisiert und ergibt sich auch nicht aus den Akten. Der Versicherte war daher nicht offensichtlich vermittlungsunfähig im Sinne von Art. 15 Abs. 3 AVIV. Wäre er gesund gewesen, hätte er eine vollzeitliche Anstellung gesucht, womit er als ganz arbeitslos gilt. Weil er aus gesundheitlichen Gründen nur teilzeitlich arbeitsfähig war, kommt die Vorleistungspflicht zum Tragen, weshalb er entsprechend seinem Rechtsbegehren (nicht publizierte E. 1 in fine) ab 18. März 2008 Anspruch auf eine volle Arbeitslosenentschädigung hat.
18
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR).