VerfassungsgeschichteVerfassungsvergleichVerfassungsrechtRechtsphilosophie
UebersichtWho-is-WhoBundesgerichtBundesverfassungsgerichtVolltextsuche...

Informationen zum Dokument  BGE 138 V 475  Materielle Begründung
Druckversion | Cache | Rtf-Version

Regeste
Sachverhalt
Aus den Erwägungen:
1. Streitig und zu prüfen ist einzig, ob die Beschwerdef&uum ...
Erwägung 2
3. Für die Auffassung der Vorinstanz (Anwendbarkeit von Art. ...
Erwägung 3.2
Erwägung 3.3
Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch)  
 
56. Auszug aus dem Urteil der II. sozialrechtlichen Abteilung i.S. S. gegen IV-Stelle des Kantons Aargau (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
 
 
9C_562/2012 vom 18. Oktober 2012
 
 
Regeste
 
Art. 28 Abs. 1 lit. b und Art. 29 Abs. 1 und 3 IVG; aArt. 29 Abs. 1 lit. b und Abs. 2 Satz 1 sowie aArt. 48 Abs. 2 Satz 1 IVG (in Kraft gestanden bis 31. Dezember 2007); Art. 8 Abs. 1 BV; Entstehung des Rentenanspruchs und Beginn der Rente (Übergangsrecht 5. IV-Revision).  
 
Sachverhalt
 
BGE 138 V, 475 (476)A. S. verletzte sich am 1. November 2007 bei der Arbeit am Handgelenk links (radiale, nach dorsal dislozierte, mehrfragmentäre Radiusfraktur). Die obligatorische Unfallversicherung erbrachte die gesetzlichen Leistungen (Heilbehandlung, Taggeld, Invalidenrente und eine Integritätsentschädigung). Im Juli 2008 meldete sich S. bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Nach Abklärungen und durchgeführtem Vorbescheidverfahren sprach ihr die IV-Stelle des Kantons Aargau (nachfolgend: IV-Stelle) mit Verfügung vom 6. September 2011 eine befristete ganze Rente vom 1. November 2008 bis 30. Juni 2010 zu.
1
B. In teilweiser Gutheissung der Beschwerde der S. änderte das Versicherungsgericht des Kantons Aargau mit Entscheid vom 31. Mai 2012 die Verfügung vom 4. März 2010 (recte: 6. September 2011) ab und sprach ihr für den Zeitraum vom 1. Januar 2009 bis 30. September 2010 eine ganze Invalidenrente zu.
2
C. Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt S., der Entscheid vom 31. Mai 2012 sei aufzuheben und sie bereits ab dem 1. November 2008 bis 30. September 2010 zu berenten, unter Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege.
3
Die IV-Stelle und das kantonale Versicherungsgericht verzichten auf eine Stellungnahme und einen Antrag zur Beschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) hat sich nicht vernehmen lassen.
4
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
5
 
Aus den Erwägungen:
 
6
 
BGE 138 V, 475 (477)Erwägung 2
 
7
8
9
10
BGE 138 V, 475 (478)3. Für die Auffassung der Vorinstanz (Anwendbarkeit von Art. 29 Abs. 1 IVG auch dann, wenn die einjährige Wartezeit nach Art. 28 Abs. 1 lit. b IVG bzw. aArt. 29 Abs. 1 lit. b IVG vor dem 1. Januar 2008 begann und in diesem Zeitpunkt noch nicht abgelaufen war) spricht, dass früher wie heute das Wartezeiterfordernis eine Anspruchsvoraussetzung ist. Dementsprechend gilt die Invalidität bzw. der Versicherungsfall Invalidenrente erst mit der Entstehung des Rentenanspruchs als eingetreten (vgl. BGE 137 V 417 E. 2.2.1 und 2.2.4 S. 421 f.; SVR 2007 IV Nr. 7 S. 23, I 76/05 E. 1.1), und nicht bereits bei Beginn der Wartezeit, wie die Beschwerdeführerin anzunehmen scheint. In diesem Zusammenhang ist nicht ersichtlich, inwiefern in Konstellationen wie der vorliegenden der (zufällige) Zeitpunkt des Verfügungserlasses zu Ungleichbehandlungen unter den Versicherten führen könnte. Vor Ablauf der Wartezeit konnte und kann auch weiterhin kein Rentenanspruch entstehen.
11
Die Beschwerdeführerin beruft sich zur Stützung ihres gegenteiligen Standpunktes (Massgeblichkeit der bis 31. Dezember 2007 gültig gewesenen Regelung, insbesondere aArt. 48 Abs. 2 IVG) auf das vom BSV herausgegebene Rundschreiben Nr. 253 vom 12. Dezember 2007 http://www.bsv.admin.ch/vollzug/documents/index/page:7/lang:deu/category:35 sowie auf das Gleichbehandlungsgebot.
12
13
 
Erwägung 3.2
 
3.2.1 Zweck der Neuregelung in Bezug auf die Entstehung des Anspruchs auf eine Invalidenrente und den Rentenbeginn ist, den Anreiz bei den Versicherten zu verstärken, sich möglichst frühzeitig, spätestens sechs Monate nach Eintritt der Arbeitsunfähigkeit, bei der Invalidenversicherung anzumelden, insbesondere um Eingliederungsmassnahmen zu einem Zeitpunkt in die Wege leiten zu können, in BGE 138 V, 475 (479)dem die Wahrscheinlichkeit für deren Wirksamkeit noch bedeutend höher ist als später (Botschaft vom 22. Juni 2005 zur Änderung des Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung [5. Revision], BBl2005 4459 ff., 4535 Ziff. 1.6.1.6 und 4568 zu Art. 29 IVG). Die Neuerung führt grundsätzlich zu keiner Schlechterstellung, da bei rechtzeitiger Anmeldung die Rente wie schon vorher nach Ablauf der Wartezeit zur Ausrichtung gelangt (BBl, a.a.O.).
14
15
Beim Rundschreiben Nr. 253 handelt es sich um eine Verwaltungsweisung, welche für das Sozialversicherungsgericht zwar nicht verbindlich, von diesem aber zu berücksichtigen ist, wenn sie eine dem Einzelfall angepasste und gerecht werdende Auslegung der anwendbaren Bestimmungen zulässt (BGE 133 V 450 E. 2.2.4 S. 455; BGE 138 V 346 E. 6.2 S. 362; vgl. auch BGE 133 II 305 E. 8.1 S. 315).
16
 
Erwägung 3.3
 
3.3.1 Sinn und Zweck des im Rahmen der 5. IV-Revision geschaffenen Art. 29 Abs. 1 IVG (Entstehung des Rentenanspruchs frühestens nach Ablauf von sechs Monaten nach dessen Geltendmachung; vorne E. 3.2.1) sprechen für dessen grundsätzlich sofortige Anwendung auch in Fällen, wo die einjährige Wartezeit nach Art. 28 Abs. 1 lit. b IVG bzw. aArt. 29 Abs. 1 lit. b IVG beim Inkrafttreten am 1. Januar 2008 noch nicht abgelaufen ist. Die Änderung ist jedoch einschneidend und wirkt sich namentlich dann zu Ungunsten der Versicherten aus, wenn in diesem Zeitpunkt bereits mehr als sechs Monate der Wartezeit vergangen sind mit der Folge, dass der Rentenanspruch nicht unmittelbar nach deren Ablauf entsteht. Die von der Aufsichtsbehörde im Rundschreiben Nr. 253 getroffene Regelung dient dazu, solche Fälle zu verhindern, was - jedenfalls unter der Annahme, dass von den Versicherten nicht vor dem 1. Januar 2008 Kenntnis von der Neuerung erwartet werden darf - nicht gesetzwidrig erscheint.
17
BGE 138 V, 475 (480)3.3.2 Unter dem Gesichtspunkt des Gleichbehandlungsgebots (Art. 8 Abs. 1 BV) ist indessen zu beachten, dass bei einem Eintritt der gesundheitlich bedingten Arbeitsunfähigkeit in den ersten fünf Monaten 2008 nach dem in solchen Fällen anwendbaren Art. 29 Abs. 1 IVG den betreffenden Versicherten nicht Zeit verbleibt, sich bis Ende Jahr bei der Invalidenversicherung anzumelden, um sofort nach Ablauf der einjährigen Wartezeit in den Genuss von Rentenleistungen zu kommen. Tritt etwa die Arbeitsunfähigkeit im Februar 2008 ein und meldet sich die versicherte Person erst im Dezember 2008 an, kann der Rentenanspruch frühestens im Juni 2009, d.h. vier Monate nach Ablauf der Wartezeit entstehen. Dies bedeutet eine Schlechterstellung gegenüber den vom Rundschreiben Nr. 253 erfassten Versicherten, bei denen eine Anmeldung bis spätestens am 31. Dezember 2008 ausreicht.
18
3.4 Es kann offenbleiben, ob eine Übergangsordnung, die nach der Dauer der Ende 2007 bereits zurückgelegten Wartezeit differenziert, am besten den Anforderungen von Verfassung und Gesetz genügte. Bei einer einheitlichen Regelung kann nach dem Gesagten jedenfalls die Anmeldefrist anspruchswahrend maximal bis Ende Juni 2008 erstreckt werden. Das Rundschreiben Nr. 253, soweit es eine Frist bis Ende 2008 vorsieht, ist somit gesetzeswidrig. Die vorliegend im Juli 2008 erfolgte Anmeldung war daher verspätet, weshalb in Anwendung von Art. 29 Abs. 1 IVG von einer Entstehung des Rentenanspruchs frühestens im Januar 2009 auszugehen ist. Die Beschwerdeführerin macht nicht geltend, sie habe sich in Kenntnis und im Vertrauen auf das besagte Rundschreiben Nr. 253 vom 12. Dezember 2007 erst im Juli 2008 bei der Invalidenversicherung angemeldet.
19
Der vorinstanzliche Entscheid ist im Ergebnis zu bestätigen und die Beschwerde demzufolge abzuweisen.
20
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR).