VerfassungsgeschichteVerfassungsvergleichVerfassungsrechtRechtsphilosophie
UebersichtWho-is-WhoBundesgerichtBundesverfassungsgerichtVolltextsuche...

Informationen zum Dokument  BGE 140 V 260  Materielle Begründung
Druckversion | Cache | Rtf-Version

Regeste
Sachverhalt
Aus den Erwägungen:
3. Die Beschwerdeführerin bestreitet den Beweiswert des psyc ...
Erwägung 3.1
Erwägung 3.2
Erwägung 3.3
Erwägung 3.4
Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch)  
 
35. Auszug aus dem Urteil der II. sozialrechtlichen Abteilung i.S. A. gegen IV-Stelle des Kantons Zürich (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
 
 
9C_738/2013 vom 26. Mai 2014
 
 
Regeste
 
Art. 43 Abs. 1 ATSG; Art. 59 Abs. 3 IVG und Art. 69 Abs. 2 IVV; psychiatrische Begutachtung.  
 
Sachverhalt
 
BGE 140 V, 260 (260)A. A. (geb. 1956) leidet unter anderem an einem Panvertebralsyndrom sowie an arthrotischen Beschwerden der rechten Schulter, der Finger (beidseits), der Hüfte und des rechten Knies sowie an einer depressiven Symptomatik (Gutachten des Rheumatologen B. vom 22. Juni 2009 und des Psychiaters Dr. C. vom 17. März 2010). Die IV-Stelle des Kantons Zürich (nachfolgend: IV-Stelle) lehnte ihren Antrag auf eine Invalidenrente ab; der Invaliditätsgrad betrage nicht anspruchsbegründende 11 Prozent (Verfügung vom 3. Januar 2012).
1
B. Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich wies die dagegen erhobene Beschwerde ab (Entscheid vom 21. August 2013).
2
C. A. führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Rechtsbegehren, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben und es sei ihr eine Invalidenrente zuzusprechen. Eventuell sei die Sache zu weiteren medizinischen Abklärungen an die Vorinstanz zurückzuweisen. (...)
3
Die IV-Stelle und das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) verzichten auf eine Stellungnahme.
4
Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
5
(Auszug)
6
 
BGE 140 V, 260 (261)Aus den Erwägungen:
 
7
 
Erwägung 3.1
 
3.1.1 Die Vorinstanz erwog, Anhaltspunkte für eine mangelhafte sprachliche Verständigung lägen nicht vor. Der Beizug eines professionellen Übersetzers habe sich nicht aufgedrängt; in Person der Tochter der Versicherten sei eine hinreichend geeignete Übersetzerin bei der Untersuchung zugegen gewesen. Diese habe es dem Gutachter zudem ermöglicht, fremdanamnestische Angaben zu berücksichtigen. Wohl habe der Sachverständige "im Psychostatus auf eine gleich zu Beginn deutlich in Erscheinung getretene Passiv-aktiv-Polarisierung zwischen der Mutter und der wesentlich gepflegter wirkenden Tochter" hingewiesen und "darauf, dass eine Interaktion des Gutachters mit der Beschwerdeführerin bis auf gelegentliche kurze Blickkontakte kaum zustande gekommen sei". Entscheidend sei jedoch, dass der Gutachter solche Beobachtungen und deren Bedeutung transparent gemacht habe und dass die Expertise inhaltlich vollständig und schlüssig sei.
8
9
 
Erwägung 3.2
 
3.2.1 Nach der Rechtsprechung ist bei psychiatrischen Begutachtungen eine Übersetzungshilfe beizuziehen, sofern sprachliche Schwierigkeiten bestehen und das Untersuchungsgespräch nicht in der Muttersprache des Exploranden geführt werden kann (Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts I 748/03 vom 3. März 2004 E. 2.1). Der BGE 140 V, 260 (262)Beizug zur Übersetzung setzt vertiefte Sprachkenntnisse, nicht aber ein (Dolmetscher-)Diplom voraus (Urteil I 77/07 vom 4. Januar 2008 E. 5; ALFRED BÜHLER, Die Mitwirkung Dritter bei der medizinischen Begutachtung im sozialversicherungsrechtlichen Verwaltungsverfahren, Jusletter 3. September 2007 Rz. 33). Bedeutsam sind nicht nur die Sprachkompetenzen sowie die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der übersetzenden Person; auch Kenntnisse über kulturspezifische Besonderheiten, etwa des Krankheitsverständnisses, spielen eine Rolle (erwähntes Urteil I 77/07 E. 5.1.1 f. mit Hinweis auf MARINA SLEPTSOVA, Wenn die Vermittlung von Informationen auf eine Sprach-Barriere trifft - zur Zusammenarbeit mit Übersetzern, Therapeutische Umschau 10/2007 S. 576 f. und JÖRG JEGER, Die Mitwirkung Dritter bei der Begutachtung aus der Sicht des medizinischen Gutachters, Jusletter 3. September 2007 Rz. 31 ff.). Deren Bewertung bleibt freilich in der ausschliesslichen Verantwortung des Gutachters.
10
11
Das BSV hat die Leitlinien für alle zuhanden der Invalidenversicherung erstellten Gutachten als verbindlich erklärt. Die IV-Stellen (resp. deren Regionale Ärztliche Dienste) sind aufsichtsbehördlich angewiesen, die Leitlinien bei eigenen klinischen Untersuchungen und bei der Dossieranalyse und für Aktengutachten sowie bei externen psychiatrischen Administrativgutachten als Raster für die Qualitätssicherung einzusetzen (IV-Rundschreiben Nr. 313 vom 6. Juni 2012; vgl. zur Bedeutung von Verwaltungsweisungen BGE 133 V 587 E. 6.1 S. 591).
12
3.2.3 Zu den Themen des Dolmetschens sowie der Anwesenheit von Angehörigen besagen die Qualitätsleitlinien Folgendes: Zunächst wird vom psychiatrischen Gutachter verlangt, dass er im Rahmen der Befunddarstellung Angaben zur Muttersprache des Exploranden, BGE 140 V, 260 (263)zum aktiven und passiven Beherrschen der Landessprache und zur Notwendigkeit des Beizugs eines Dolmetschers macht, gegebenenfalls auch zu Interaktionen zwischen Übersetzer und versicherter Person resp. Gutachter (S. 8 Ziff. 4.2). Abgesehen vom Übersetzer sollen in der Regel keine Dritten anwesend sein, es sei denn, der Gutachter erachte dies als notwendig (dazu BGE 132 V 443; Urteil I 42/06 vom 26. Juni 2007 E. 4.5, in: SVR 2008 IV Nr. 18 S. 55). Insbesondere die Anwesenheit Angehöriger kann verfälschend wirken. Erscheint es ausnahmsweise sinnvoll, zumindest einen Teil der Exploration in Anwesenheit bzw. unter Einbeziehung eines Angehörigen durchzuführen, muss aus dem Gutachten klar hervorgehen, welche Angaben vom Exploranden selber und welche vom Angehörigen stammen. Die Interaktion in diesem erweiterten Setting und mögliche Auffälligkeiten sind zu beschreiben und in die Beurteilung einzubeziehen (S. 12 Ziff. 3). Unter diesen Umständen zieht die Vorgabe, Verständigungsbarrieren möglichst zu beseitigen, "den niederschwelligen Einsatz von professionellen Dolmetschern bei fremdsprachigen Exploranden nach sich; Angehörige des Exploranden können damit nicht beauftragt werden" (S. 14). Das Verhältnis zwischen der Forderung der Qualitätsleitlinien nach einer "professionellen" Übersetzung und der oben (E. 3.2.1) zitierten Rechtsprechung (kein Diplom o.Ä. erforderlich) muss an dieser Stelle nicht geklärt werden.
13
3.2.4 Die Regel, dass das Gespräch zwischen psychiatrischem Sachverständigen und zu untersuchender Person nicht von einem Familienmitglied übersetzt werden soll, deckt sich mit der einhelligen medizinischen und juristischen Lehre. Danach eignen sich Angehörige (sinngemäss auch Freunde und Bekannte) nicht als Dolmetscher, weil sie infolge mangelnder Distanz zum Exploranden und (beiderseitigem) Zwang zu "familienrollenkonformem" Verhalten befangen sind (Versicherungsmedizinische Gutachten, Ein interdisziplinärer juristisch-medizinischer Leitfaden, Gabriela Riemer-Kafka [Hrsg.], 2. Aufl. 2012, S. 41; KARSTEN TOPARKUS, Typische Fehler in der Begutachtung - aus sozialrichterlicher Sicht, Der medizinische Sachverständige [MedSach] 2012 S. 233 f.; PETER BRÜCKNER, Begutachtung bei Migrationshintergrund - aus juristischer Sicht, MedSach 2010 S. 119; STEVENS/FABRA/MERTEN, Anleitung für die Erstellung psychiatrischer Gutachten, MedSach 2009 S. 101; SUSANNE FANKHAUSER, Begutachtung von Migrantinnen und Migranten - Anforderungen aus sozialversicherungsrechtlicher Sicht, SZS 2005 BGE 140 V, 260 (264)S. 417 und 422; vgl. auch die Fallbeispiele bei WOLFGANG HAUSOTTER, "Beistände" bei Begutachtungen - aus Sicht des medizinischen Sachverständigen, MedSach 2007 S. 27 f.). Erwachsene Kinder lassen denn auch meist eine eindeutige Parteinahme für ihre Eltern erkennen (WOLFGANG HAUSOTTER, Begutachtungen bei Migrationshintergrund: Besondere Aspekte, MedSach 2010 S. 113). Sie bieten nicht Gewähr für eine neutrale, vollständige und wahrheitsgemässe Übersetzung, sondern werden den Angaben des zu begutachtenden Elternteils - oft unbewusst - eine eigene Färbung geben (TOPARKUS, a.a.O., S. 234). Der übersetzende Familienangehörige kann auf den Inhalt der Kommunikation verfälschend einwirken, indem er selektiv übersetzt oder dem zu Untersuchenden selbständig Hinweise gibt (TOPARKUS, a.a.O.), selbständig das Wort ergreift oder gar die Gesprächsführung für den Probanden zu übernehmen sucht (HAUSOTTER, "Beistände" bei Begutachtungen, a.a.O., S. 28). Daraus kann sich eine Konfrontation zwischen Gutachter und übersetzendem Familienangehörigen ergeben, welche wiederum das erforderliche Vertrauensverhältnis zwischen Explorand und Gutachter behindert (HAUSOTTER, a.a.O.). Befangenheit in der Untersuchungssituation kann auch auf Seiten des Exploranden bestehen, weil er sich dem Untersucher so präsentieren muss, wie er es auch in der Familie tut (BRÜCKNER, a.a.O., S. 119), oder weil er gehemmt ist, in Gegenwart von Angehörigen über psychische Leiden zu berichten (RAMAZAN SALMAN, Sprach- und Kulturvermittlung, in: Transkulturelle Psychiatrie, Hegemann/Salman [Hrsg.], Bonn 2001, S. 188).
14
Sodann gewährleisten Angehörige nicht die für die Begutachtung erforderliche sprachliche Übersetzungsqualität. Gerade für die psychiatrische Untersuchung ist eine wörtliche Übersetzung wichtig. Andernfalls kann es beispielsweise zu Problemen bei der Erfassung formaler Denkstörungen kommen. Selbst manche professionellen Dolmetscher neigen dazu, das Gespräch zu moderieren, Fragen zusammenzufassen und Antworten nach eigenem Gutdünken zu formulieren (HAUSOTTER, Begutachtungen bei Migrationshintergrund, a.a.O., S. 112), als defizitär erlebte Antworten des Probanden zu glätten und allfällige psychopathologisch bedingte logische Inkonsistenzen zu beseitigen (VENZLAFF/FOERSTER/DRESSING, Psychiatrische Begutachtung, 5. Aufl., München 2009, S. 22). Dies gilt erst recht, wenn Angehörige übersetzen. In der Lehre werden professionelle Übersetzer auch deswegen als notwendig angesehen, weil sie (im besten Fall; relativierend SLEPTSOVA, a.a.O., S. 577 f.) in der Lage BGE 140 V, 260 (265)sind, als "kulturelle Vermittler" dem Gutachter (allenfalls im Rahmen einer Nachbesprechung) nach Bedarf kulturspezifische Erläuterungen zu geben, etwa um die richtige Deutung einer übertreibenden Ausdrucksweise zu erleichtern (HAUSOTTER, Begutachtungen bei Migrationshintergrund, a.a.O., S. 113; BRÜCKNER, a.a.O., S. 119; JEGER, a.a.O., Rz. 33 ff.; FANKHAUSER, a.a.O., S. 418; vgl. auch oben E. 3.2.1). Die Bedeutung einer Vermittlungsleistung, die über eine rein sprachliche Übersetzung hinausreicht, zeigt sich darin, dass es bei der - erforderlichen - wörtlichen Übersetzung zu Missverständnissen kommen kann, "wenn nicht auch die transkulturelle Übersetzung mitvollzogen wird" (GERHARD EBNER, Grundlagen transkultureller Begutachtung, in: Transkulturelle Psychiatrie, Hegemann/Salman [Hrsg.], Bonn 2001, S. 235;FANKHAUSER, a.a.O., S. 417).
15
 
Erwägung 3.3
 
16
17
Dieser Mangel unterscheidet sich von formalen oder inhaltlichen Fehlern, die im Gutachten offen zutage treten, so etwa inneren Widersprüchen (vgl. BRÜCKNER, a.a.O., S. 118). Wird mit dem Beizug eines ungeeigneten Übersetzers die Verständigungsbarriere höher gehalten als nötig, so lässt das in sich schlüssig erscheinende, an sich nachvollziehbar begründete Gutachten als solches nicht erkennen, ob der Mangel die Zuverlässigkeit der Beurteilung beeinträchtigt hat. Daher ist der Beweiswert der betreffenden Expertise regelmässig erheblich herabgesetzt, auch wenn die Expertise anhand der üblichen Beweiswertkriterien (BGE 134 V 231 E. 5.1 S. 232) unauffällig erscheint.
18
BGE 140 V, 260 (266)3.3.3 Hingegen ist der Beweiswert dann nicht geschmälert, wenn den Umständen nach auszuschliessen ist, dass sich die Übersetzung durch Familienangehörige wesentlich auf die gutachtliche Beurteilung ausgewirkt hat. Die betreffenden Nachteile (vgl. im Einzelnen oben E. 3.2.4) können wegen anderer Kommunikationshindernisse, welche auch mit einer professionellen Übersetzung nicht überwindbar wären, in den Hintergrund treten, zumal wenn sich die Untersuchung ohnehin vermehrt auf nonverbale Elemente (z.B. Verhaltensbeobachtung: Mimik, Gestik, Tonfall) konzentrieren muss (vgl. erwähntes Urteil I 77/07 E. 5.1.1 mit Hinweis). Ebenfalls nicht tangiert ist der Beweiswert, wenn gesicherte anamnestische Gegebenheiten für verlässliche Schlussfolgerungen bürgen, so wenn ein geklagter hoher Leidensdruck mit dem Fehlen jeglicher Therapie oder mit dem Aktivitätenprofil der versicherten Person deutlich kontrastiert.
19
 
Erwägung 3.4
 
3.4.1 Der psychiatrische Administrativgutachter berichtet, gleich zu Beginn der Untersuchung trete eine "passiv-aktiv-Polarisierung" zwischen Mutter und Tochter deutlich in Erscheinung. Eine direkte Interaktion zwischen ihm und der Versicherten sei, bis auf gelegentliche kurze Blickkontakte, kaum zustandegekommen; der Wegfall dieses "diagnostischen Instrumentes" relativiere die Aussagekraft der psychopathologischen Befunde. Der Gutachter verlegt sich bei der Erhebung des Psychostatus denn auch weitgehend auf Verhaltensbeobachtung. In einer solchen Konstellation ist eine verlässliche psychopathologische Befunderhebung in Frage gestellt (vgl. das ähnliche Fallbeispiel bei HAUSOTTER, "Beistände" bei Begutachtungen, a.a.O., S. 28; vgl. auch Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts I 451/00 vom 30. Dezember 2003 E. 2.3.2, in: SVR 2004 IV Nr. 29 S. 90). Daran ändert das beim Gutachter erkennbare Problembewusstsein nichts. Problematisch ist des Weitern die gleichzeitige Befassung der Tochter als Übersetzerin und fremdanamnestische Quelle.
20
3.4.2 Der Beweiswert bleibt indes unbeschädigt, wenn eine differenzierte, auch verbal vermittelte Befunderhebung selbst mit einem geeigneten Dolmetscher stark behindert gewesen wäre (oben E. 3.3.3). Ein solcher Fall liegt hier vor: Der rheumatologische Administrativgutachter hatte festgehalten, für die Dolmetscherin eines professionellen Übersetzungsdienstes sei "die Versicherte im Gespräch kaum fokussierbar" gewesen. Zudem stellten die eigentümliche Wortwahl der funktionell analphabetischen Explorandin und deren BGE 140 V, 260 (267)eingeschränktes Sprachverständnis ein Kommunikationshindernis dar (Expertise vom 22. Juni 2009 S. 7). Unter diesen Umständen wirkt sich der Mangel nicht mehr entscheidend aus. Zusätzlich wird die Verlässlichkeit der psychiatrischen Begutachtung durch die anamnestischen Tatsachen gestützt, dass die Beschwerdeführerin keinepsychiatrische Behandlung beansprucht und verordnete Medikamente nicht einnimmt.
21
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR).