BGer I 58/2004 | |||
| |||
Bearbeitung, zuletzt am 16.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch) | |||
BGer I 58/2004 vom 24.09.2004 | |
Eidgenössisches Versicherungsgericht
| |
Tribunale federale delle assicurazioni
| |
Tribunal federal d'assicuranzas
| |
Sozialversicherungsabteilung
| |
des Bundesgerichts
| |
Prozess
| |
{T 7}
| |
I 58/04
| |
Urteil vom 24. September 2004
| |
IV. Kammer
| |
Besetzung
| |
Präsident Ferrari, Bundesrichterin Widmer und Bundesrichter Ursprung; Gerichtsschreiberin Hofer
| |
Parteien
| |
Bundesamt für Sozialversicherung, Effingerstrasse 20, 3003 Bern, Beschwerdeführer,
| |
gegen
| |
P.________, 1994, Beschwerdegegner, vertreten
| |
durch seine Eltern,
| |
Vorinstanz
| |
Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, Winterthur
| |
(Entscheid vom 23. Dezember 2003)
| |
Sachverhalt:
| |
A.
| |
Der 1994 geborene P.________ leidet seit seiner Geburt an einer cerebralen Bewegungsstörung (Geburtsgebrechen gemäss Ziffer 395 GgV-Anhang) und an einer angeborenen cerebralen Lähmung (Geburtsgebrechen gemäss Ziffer 390 GgV-Anhang). Gemäss Therapiebericht vom 1. Mai 2003 steht er seit August 2000 in Behandlung bei B.________, welche logopädische und seit Oktober 2002 auch psychotherapeutische Massnahmen (Beziehungsdynamik, Darstellen seelischer Botschaften im Sand- und Rollenspiel) durchführt. Die Invalidenversicherung kommt für die pädagogisch-therapeutischen Vorkehren auf und erteilte Kostengutsprache bis 31. Juli 2004 (Verfügung vom 17. Juni 2003).
| |
Am 23. Mai 2003 meldete der Kinderarzt Dr. med. V.________ P.________ zum Leistungsbezug für die Behandlung eines frühkindlichen POS im Sinne von Ziffer 404 GgV-Anhang an. Im Bericht über den Neuromotoriktest vom 7. April 2003 hielt der Arzt fest, aufgrund der jahrelangen Beobachtung erweise sich die Diagnose eines ADS mit hypoaktiver Komponente sowie einer ataktischen Bewegungsstörung und Teilleistungsschwächen in allen Wahrnehmungsbereichen als gerechtfertigt. Es sei zu befürchten, dass sich durch die zunehmenden Anforderungen in der Schule die Schwierigkeiten noch verstärken würden und allenfalls sogar eine Zusatzunterstützung nötig sein werde. Als Massnahme schlug er die Einleitung einer Psychotherapie vor, um das Selbstwertgefühl zu stärken und die Unsicherheit und Verschlossenheit anzugehen. Nach Einholung des Berichts des behandelnden Arztes vom 5. Juni 2003 eröffnete die IV-Stelle des Kantons Zürich dem Versicherten mit Verfügung vom 16. Juli 2003, dass das geltend gemachte psychoorganische Syndrom von der Invalidenversicherung nicht als Geburtsgebrechen anerkannt werden könne, weil vor Vollendung des 9. Altersjahres keine spezifische Therapie durchgeführt worden sei; das Leistungsbegehren werde daher abgewiesen. Daran hielt sie mit Einspracheentscheid vom 1. Oktober 2003 fest.
| |
B.
| |
Die von P.________, vertreten durch seine Eltern, hiegegen erhobene Beschwerde hiess das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit Entscheid vom 23. Dezember 2003 in dem Sinne gut, dass der Einspracheentscheid vom 1. Oktober 2003 aufgehoben und die Sache an die Verwaltung zurückgewiesen wurde, damit diese im Sinne der Erwägungen verfahre und über den Anspruch auf medizinische Massnahmen neu verfüge.
| |
C.
| |
Das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag auf Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids.
| |
Während sich P.________ nicht vernehmen lässt, schliesst die IV-Stelle auf Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.
| |
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
| |
1.
| |
1.1 Im letztinstanzlichen Verfahren ist unbestritten, dass die Störung, an welcher der Versicherte leidet, die für die Anerkennung als Geburtsgebrechen gemäss Ziffer 404 GgV-Anhang geltenden Voraussetzungen nicht erfüllt, weshalb medizinische Massnahmen gestützt auf Art. 13 IVG entfallen. Zu prüfen bleibt, ob eine Leistungspflicht der Invalidenversicherung gemäss Art. 12 IVG in Verbindung mit Art. 5 Abs. 2 IVG und Art. 8 Abs. 2 ATSG in Betracht fällt.
| |
1.2 Das kantonale Gericht hat die Sache zur ergänzenden Abklärung und zum Erlass einer neuen Verfügung über den Anspruch auf medizinische Massnahmen nach Art. 12 IVG an die Verwaltung zurückgewiesen. Zur Begründung führte es aus, es sei nicht von vornherein auszuschliessen, dass die gesundheitliche Beeinträchtigung eine Erwerbsunfähigkeit zur Folge haben werde. Aus den vorhandenen medizinischen Unterlagen gehe indessen nichts Genaueres darüber hervor, ob und gegebenenfalls wie sich die gesundheitliche Störung auf die Berufsbildung und Erwerbsfähigkeit auswirken werde.
| |
1.3 Das BSV hält dem unter Hinweis auf das bundesamtliche Kreisschreiben über die medizinischen Eingliederungsmassnahmen in der Invalidenversicherung (KSME) entgegen, da beim Versicherten psychotherapeutische Massnahmen weder im Zusammenhang mit Stottern, schwerer Pseudodebilität, schwerem elektivem Mutismus oder psychogener Schreibunfähigkeit noch zur Ermöglichung von Sonderschulmassnahmen notwendig seien, könnten solche Vorkehren im Rahmen von Art. 12 IVG nur übernommen werden, sofern nach intensiver fachgerechter Behandlung von einem Jahr Dauer keine genügende Besserung erzielt worden sei und gemäss spezialärztlicher Feststellung von einer weiteren Behandlung erwartet werden dürfe, dass der drohende Defekt mit seinen negativen Auswirkungen auf die Berufsausbildung und Erwerbsfähigkeit ganz oder in wesentlichem Ausmass verhindert werden könne. Bevor sich die Frage der medizinischen Massnahmen stelle, müsse ein Karenzjahr abgewartet werden. Soweit ersichtlich seien bisher keine psychotherapeutischen Massnahmen ärztlich verordnet und von einer entsprechenden Fachkraft durchgeführt worden. Die Rückweisung zu weiteren Abklärungen erweise sich daher als unbegründet.
| |
2.
| |
2.1 Das sozialversicherungsrechtliche Verwaltungs- und Verwaltungsgerichtsverfahren ist vom Untersuchungsgrundsatz beherrscht. Danach haben Versicherungsträger und Sozialversicherungsgericht von sich aus und ohne Bindung an die Parteibegehren für die richtige und vollständige Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts zu sorgen (BGE 125 V 195 Erw. 2, 122 V 158 Erw. 1a). Das kantonale Gericht hat, wenn es den Sachverhalt als ungenügend abgeklärt erachtet, grundsätzlich die Wahl, die Akten zwecks weiterer Beweiserhebungen an die Verwaltung zurückzuweisen oder selber die nötigen Instruktionen vorzunehmen. Bei festgestellter Abklärungsbedürftigkeit verletzt die Rückweisung der Sache an die Verwaltung als solche weder den Untersuchungsgrundsatz noch das Prinzip eines einfachen und raschen Verfahrens. Anders verhielte es sich nur dann, wenn die Rückweisung an die Verwaltung einer Verweigerung des gerichtlichen Rechtsschutzes gleichkäme (z.B. dann, wenn aufgrund besonderer Gegebenheiten nur ein Gerichtsgutachten oder andere gerichtliche Beweismassnahmen geeignet wären, zur Abklärung des Sachverhalts beizutragen), oder wenn die Rückweisung nach den Umständen als unverhältnismässig zu bezeichnen wäre. Grundsätzlich steht dem kantonalen Gericht bei der Frage, ob es selber Beweise erheben oder die Akten zur weiteren Abklärung an die Verwaltung zurückweisen will, ein weiter Ermessensspielraum zu. Ein Eingreifen im Rechtsmittelverfahren lässt sich praktisch nur dann rechtfertigen, wenn für eine Rückweisung keine sachlichen Gründe ersichtlich sind.
| |
2.2 Anfechtbar ist grundsätzlich nur das Dispositiv, nicht aber die Begründung eines Entscheides. Verweist indessen das Dispositiv eines Rückweisungsentscheides ausdrücklich auf die Erwägungen, werden diese zu dessen Bestandteil und haben, soweit sie zum Streitgegenstand gehören, an der formellen Rechtskraft teil. Dementsprechend sind die Motive, auf die das Dispositiv verweist, für die Behörde, an die die Sache zurückgewiesen wird, bei Nichtanfechtung verbindlich (BGE 120 V 237 Erw. 1a; RKUV 1999 Nr. U 331 S. 127 Erw. 2). Streitgegenstand im nachfolgenden Verwaltungsgerichtsbeschwerdeverfahren bilden die Zulässigkeit der Rückweisung als solche und die Rechtmässigkeit der mit dem Rückweisungsentscheid verbundenen Weisungen.
| |
3.
| |
Das kantonale Gericht hat die gesetzlichen Bestimmungen und von der Rechtsprechung entwickelten - nach dem In-Kraft-Treten des ATSG am 1. Januar 2003 nach wie vor anwendbaren (Urteil G. vom 11. November 2003, I 457/03) - Grundsätze über den Anspruch von nichterwerbstätigen Personen vor dem vollendeten 20. Altersjahr auf medizinische Eingliederungsmassnahmen (Art. 5 Abs. 2 IVG [in der ab 1. Januar 2003 geltenden Fassung] in Verbindung mit Art. 8 Abs. 2 ATSG und Art. 12 IVG; BGE 105 V 19 mit Hinweisen; AHI 2003 S. 104 Erw. 2, 2000 S. 64 Erw. 1) zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen. Nach der vom Eidgenössischen Versicherungsgericht ausdrücklich als gesetzeskonform bezeichneten (BGE 105 V 20 in fine) Verwaltungspraxis sind die Voraussetzungen für die Gewährung medizinischer Massnahmen an Versicherte vor vollendetem 20. Altersjahr u.a. erfüllt bei schweren erworbenen psychischen Leiden, sofern nach intensiver fachgerechter Behandlung von einem Jahr Dauer keine genügende Besserung erzielt wurde und gemäss spezialärztlicher Feststellung bei einer weiteren Behandlung erwartet werden darf, dass der drohende Defekt mit seinen negativen Wirkungen auf die Berufsausbildung und Erwerbsfähigkeit ganz oder in wesentlichem Ausmass verhindert werden kann (Rz 645-647/845-847.5 KSME). Die dargelegten Voraussetzungen müssen in dem für die Beurteilung des Leistungsanspruches massgebenden Zeitpunkt, d.h. bei Erlass der streitigen Verfügung oder des Einspracheentscheids, erfüllt sein.
| |
Die Bestimmungen der auf den 1. Januar 2004 in Kraft getretenen 4. IVG-Revision sind im hier zu beurteilenden Fall nicht anwendbar, da nach dem massgebenden Zeitpunkt des Erlasses des streitigen Einspracheentscheides eingetretene Rechts- und Sachverhaltsänderungen vom Sozialversicherungsgericht nicht berücksichtigt werden (BGE 129 V 4 Erw. 1.2 mit Hinweisen).
| |
4.
| |
4.1 Nach Art. 14 Abs. 1 lit. a IVG umfassen die medizinischen Massnahmen die Behandlung, die vom Arzt selbst oder auf seine Anordnung durch medizinische Hilfspersonen in Anstalts- oder Hauspflege vorgenommen wird. Dies gilt auch für die medizinischen Massnahmen im Sinne von Art. 12 IVG (ZAK 1990 S. 516 Erw. 4). Bei B.________ handelt es sich offenbar nicht um eine anerkannte Psychotherapeutin im Sinne von Art. 26bis IVG. Die IV-Stelle hat die von ihr durchgeführte psychotherapeutisch/logopädische Behandlung denn auch nicht unter dem Titel medizinische Massnahmen, sondern als pädagogisch-therapeutische Massnahme der Sonderschulung übernommen (vgl. Verfügung vom 17. Juni 2003). In der Vernehmlassung im vorinstanzlichen Verfahren führte sie aus, aufgrund der medizinischen Aktenlage, insbesondere des Therapieberichts von B.________ vom 1. Mai 2003, sei beim Versicherten bisher keine Psychotherapie durchgeführt worden. Hingegen hat Dr. med. V.________ im Bericht vom 7. April 2003 eine psychotherapeutische Behandlung vorgeschlagen, bezüglich welcher die Mutter des Versicherten sich mit Dr. F.________ und Dr. N.________ in Verbindung zu setzen hatte. Bereits daraus erhellt, dass es sich nicht um dieselbe Vorkehr handeln kann, wie sie von B.________ durchgeführt wird. Die IV-Stelle hielt im vorinstanzlichen Verfahren am 13. November 2003 fest, ob die Voraussetzungen von Rz 54 in Verbindung mit Rz 645-647/845-847.5 KSME für eine Übernahme von Psychotherapie als medizinische Massnahme nach Art. 12 IVG gegeben seien, könne derzeit noch nicht geprüft werden. Sie erwarte jedoch von der behandelnden Fachperson nach einem Jahr durchgeführter Psychotherapie einen entsprechenden Bericht. Gestützt darauf werde sie prüfen, ob ein Leistungsanspruch bestehe.
| |
4.2 Nach ständiger Rechtsprechung stellt das Sozialversicherungsgericht bei der Beurteilung eines Falles grundsätzlich auf den bis zum Zeitpunkt des Erlasses des Einspracheentscheides (hier: 1. Oktober 2003) eingetretenen Sachverhalt ab (BGE 129 V 4 Erw. 1.2 mit Hinweisen). Tatsachen, die jenen Sachverhalt seither verändert haben, sollen im Normalfall Gegenstand einer neuen Verwaltungsverfügung sein (BGE 121 V 366 Erw. 1b mit Hinweis). Die Notwendigkeit einer psychiatrischen Behandlung wurde von Dr. med. V.________ im Bericht vom 7. April 2003 erwähnt. Ob in der Zwischenzeit damit begonnen wurde, lässt sich den Akten nicht entnehmen. Falls dem indessen so wäre, hätte mit der Behandlung frühestens im April 2003 begonnen werden können. Damit wäre aber die Voraussetzung der einjährigen intensiven Psychotherapie bei Erlass des Einspracheentscheides noch nicht erfüllt gewesen, weshalb damals allein schon aus diesem Grund der Anspruch auf Kostengutsprache für die Psychotherapie mit Recht verneint wurde. Insofern ist die Verwaltungsgerichtsbeschwerde gutzuheissen.
| |
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
| |
1.
| |
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird der Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 23. Dezember 2003 aufgehoben.
| |
2.
| |
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
| |
3.
| |
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich und der IV-Stelle des Kantons Zürich zugestellt.
| |
Luzern, 24. September 2004
| |
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
| |
Der Präsident der IV. Kammer: Die Gerichtsschreiberin:
| |
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR). |