BGer U 277/2004 | |||
| |||
Bearbeitung, zuletzt am 16.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch) | |||
BGer U 277/2004 vom 30.09.2005 | |
Eidgenössisches Versicherungsgericht
| |
Tribunale federale delle assicurazioni
| |
Tribunal federal d'assicuranzas
| |
Sozialversicherungsabteilung
| |
des Bundesgerichts
| |
Prozess
| |
{T 7}
| |
U 277/04
| |
Urteil vom 30. September 2005
| |
I. Kammer
| |
Besetzung
| |
Präsident Borella, Bundesrichterin Leuzinger, Bundesrichter Ferrari, Meyer und Ursprung; Gerichtsschreiber Arnold
| |
Parteien
| |
Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA), Fluhmattstrasse 1, 6004 Luzern, Beschwerdeführerin,
| |
gegen
| |
P.________, 1966, Beschwerdegegner, vertreten durch Advokat Dominik Zehntner, Spalenberg 20, 4051 Basel
| |
Vorinstanz
| |
Kantonsgericht Basel-Landschaft, Liestal
| |
(Entscheid vom 24. März 2004)
| |
Sachverhalt:
| |
A.
| |
Der 1966 geborene P.________ arbeitete bei der Firma T.________ AG und war bei der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (SUVA) obligatorisch gegen die Folgen von Berufs- und Nichtberufsunfall versichert, als laut Unfallmeldung UVG der Arbeitgeberin (vom 16. September 1999) am 8. September 1999 ein von hinten herannahendes Fahrzeug auf den von ihm gelenkten Personenwagen prallte. Die erstbehandelnden Ärzte der Orthopädischen Klinik des Spitals X.________ diagnostizierten im Anschluss an die vom Unfalltag bis 10. September 1999 dauernde Hospitalisation ein Schleudertrauma der Halswirbelsäule (HWS) und eine Commotio cerebri. Als Therapie empfahlen sie eine einwöchige adäquate Analgesie; weitere Massnahmen hielten sie auf Grund ihrer Untersuchungsergebnisse (keine äusseren Verletzungen; initial geklagte Kribbelparästhesien im Bereich beider Arme als einzige neurologische Pathologie innert 24 Stunden vollständig zurückgebildet; bei Entlassung deutlich gebesserter Allgemeinzustand) nicht für erforderlich (Bericht vom 15. September 1999).
| |
Nachdem im Konsilium des Dr. med. S.________, Facharzt FMH Neurologie, vom 24. September 1999 eine ausgeprägte Schon- und Streckhaltung des Kopfes mit leichter Lateralisationshaltung nach rechts, deutliche Myogelosen im Nackenbereich linksbetont, eine eingeschränkte HWS-Beweglichkeit, eine subjektive Sensibilitätsstörung der rechten Hand ohne objektive Befunde (seitengleiche Sudation), Druckdolenzen lumbal und sacroiliacal ohne eigentliche SIG-Blockierung und ohne LWS-Blockade, und im Verlaufsbericht des Spitals X.________ (vom 11. Oktober 1999) bei fehlendem Fersenfallschmerz ebenfalls eine massiv eingeschränkte Beweglichkeit der HWS erhoben worden waren, wurde eine magnetische Kernresonanz (MRI) der HWS durchgeführt. Diese zeigte laut Einschätzung der Radiologen des Spitals X.________ eine diskrete Diskopathie C3/C4 und vor allem C4/C5 (mit kleiner medianer Diskusprotrusion C3/C4 und vor allem C4/C5), jedoch ohne signifikante Verschmälerung der prämedullären Zisterne und ohne Hinweise auf eine kompressionsbedingte cervicale Myelopathie. Sie ergab weiter keine Anhaltspunkte für eine posttraumatisch bedingte Diskushernie, eine frische traumatische Läsion oder eine posttraumatisch bedingte Läsion im Bereich der Ligamenta alare. Während des stationären Aufenthalts vom 15. Dezember 1999 bis 12. Januar 2000 in der Rehaklinik Y.________ wurden folgende Diagnosen gestellt: (1) ein Irritationszustand des Nackens linksbetont (mit deutlich eingeschränkter HWS-Beweglichkeit in alle Richtungen, ausgedehnter und diffuser Druckdolenz der Weichteile der gesamten Nackenregion und Schmerzausdehnung auf den Bereich der Brust- und Lendenwirbelsäule bei Status nach Unfall vom 8. September 1999 und Anpassungsstörung), (2) Kopfschmerzen (mit vegetativen Symptomen, bei Status nach Commotio cerebri, dem eben beschriebenen Irritationszustand und Anpassungsstörung), (3) eine Anpassungsstörung mit Angstsymptomatik sowie (4) - differentialdiagnostisch - Schwindel (wobei noch abzuklären sei, ob vestibulär oder zervikogen bedingt). Gemäss Angaben der Klinikärzte misslang ihnen ein therapeutischer Zugang zum Patienten, weil die geringste Intervention zu einer ausgeprägten Schmerzexazerbation geführt habe (Austrittsbericht vom 18. Januar 2000). Im Rahmen der neurootologischen Untersuchung durch Dr. med. M.________, u.a. Facharzt FMH für Ohren-, Nasen- und Halskrankheiten, Abteilung Arbeitsmedizin SUVA, konnten keine wesentlichen pathologischen Befunde objektiviert werden (Bericht vom 9. Februar 2000).
| |
In der Folge unterzog sich P.________ einer ambulanten Psychotherapie (Bericht der Frau Dr. phil. L.________ vom 4. September 2000) und weilte u.a. vom 3. bis 31. Mai 2000 in der Rehaklinik Z.________ (Bericht vom 2. Juli 2000). Die SUVA holte ihrerseits eine biomechanische Beurteilung des Unfallereignisses ein (Bericht des Prof. Dr. W.________, Facharzt FMH für Rechtsmedizin, spez. forensische Biomechanik, vom 13. November 2001) ein und nahm ein von Dr. R.________, Facharzt FMH für Psychiatrie und Psychotherapie, im Auftrag der Eidgenössischen Invalidenversicherung erstelltes Gutachten (vom 3. November 2001) zu den Akten. Sie ordnete schliesslich eine polydisziplinäre Expertise durch das Zentrum für Medizinische Begutachtung (ZMB) an, welche am 22. August 2002 erstattet wurde, um mit Verfügung vom 25. Oktober 2002 den Fall mangels unfallkausaler Beeinträchtigungen abzuschliessen. Daran hielt sie mit Einspracheentscheid vom 29. Juli 2003 fest.
| |
B.
| |
In Gutheissung der dagegen erhobenen Beschwerde hob das Kantonsgericht Basel-Landschaft den Einspracheentscheid auf und stellte fest, dass die SUVA über den 12. August 2002 hinaus für die Folgen des Unfallereignisses vom 8. September 1999 leistungspflichtig sei (Entscheid vom 24. März 2004).
| |
C.
| |
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt die SUVA, der kantonale Gerichtsentscheid sei aufzuheben.
| |
P.________ lässt auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliessen. Das Bundesamt für Gesundheit verzichtet auf eine Vernehmlassung.
| |
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
| |
1.
| |
Nach den hier anwendbaren allgemeinen Grundsätzen des intertemporalen Rechts und des zeitlich massgebenden Sachverhalts (vgl. BGE 129 V 4 Erw. 1.2, 169 Erw. 1, 356 Erw. 1, je mit Hinweisen) ist die strittige Leistungspflicht des Unfallversicherers für die Zeit vom Fallabschluss (25. Oktober 2002) bis 31. Dezember 2002 nach den damals - mithin vor In-Kraft-Treten des Bundesgesetzes über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts vom 6. Oktober 2000 (ATSG; SR 830.1) am 1. Januar 2003 - gültig gewesenen Bestimmungen des UVG zu beurteilen. Demgegenüber ist hinsichtlich einer allfällig fortbestehenden Leistungspflicht ab 1. Januar 2003 bis zum Zeitpunkt des Einspracheentscheids (hier: 29. Juli 2003), welcher rechtsprechungsgemäss die zeitliche Grenze der richterlichen Überprüfungsbefugnis bildet (BGE 121 V 366 Erw. 1b mit Hinweis; vgl. auch BGE 129 V 4 Erw. 1.2, 169 Erw. 1, 356 Erw. 1, je mit Hinweisen), die Rechtslage unter der Herrschaft des ATSG massgebend (vgl. zum Ganzen BGE 130 V 446 f. Erw. 1.2.1. und 1.2.2; mit Hinweis auf BGE 130 V 329; ferner Urteile K. vom 28. Februar 2005 [U 306/04] Erw. 1, L. vom 15. September 2004 [U 234/04] Erw. 1.2., A. vom 11. Oktober 2004 [U 215/04] Erw. 1.2, C. vom 13. Oktober 2004 [U 208/04] Erw. 2.2; Ulrich Meyer/Peter Arnold, Intertemporales Recht. Eine Bestandesaufnahme anhand der Rechtsprechung der beiden öffentlich-rechtlichen Abteilungen des Bundesgerichts und des Eidgenössischen Versicherungsgerichts, in: ZSR 124 [2005] I 115 ff., dort S. 129). Beizufügen bleibt, dass das ATSG am unfallversicherungsrechtlichen Begriff des natürlichen und adäquaten Kausalzusammenhangs als Voraussetzung der Leistungspflicht nach UVG nichts geändert hat (Urteile S. vom 28. Januar 2005 [U 249/04] Erw. 3.3 und C. vom 5. November 2004 [U 106/04] Erw. 2; vgl. Ueli Kieser, ATSG-Kommentar, S. 64 f. Rz 20 zu Art. 4); die hierzu ergangene Rechtsprechung (siehe nachfolgende Erw. 2) behält mithin auch nach dem 1. Januar 2003 ihre Gültigkeit.
| |
2.
| |
2.1 Das kantonale Gericht hat die Rechtsprechung zu dem für die Leistungspflicht des Unfallversicherers vorausgesetzten natürlichen Kausalzusammenhang im Allgemeinen (BGE 119 V 337 Erw. 1) und bei Schleudertraumen der HWS oder äquivalenten Verletzungsmechanismen im Besonderen (BGE 119 V 340 Erw. 2b/aa; RKUV 2000 Nr. U 359 S. 29) zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen. Entsprechendes gilt für die von der Judikatur entwickelten Grundsätze zum Erfordernis des adäquaten Kausalzusammenhanges im Allgemeinen (vgl. auch BGE 125 V 461 Erw. 5a mit Hinweisen) sowie insbesondere bei psychischen Unfallfolgen (BGE 115 V 133) und bei den Folgen eines Unfalles mit Schleudertrauma der HWS oder äquivalenten Verletzungen ohne organisch nachweisbare Funktionsausfälle (BGE 117 V 359 ff.).
| |
2.2 Bei der Beurteilung der Adäquanz von organisch nicht (hinreichend) nachweisbaren Unfallfolgeschäden ist rechtsprechungsgemäss (BGE 127 V 103 Erw. 5b/bb mit Hinweisen) wie folgt zu differenzieren: Es ist zunächst abzuklären, ob die versicherte Person beim Unfall ein Schleudertrauma der Halswirbelsäule, eine dem Schleudertrauma äquivalente Verletzung (SVR 1995 UV Nr. 23 S. 67 Erw. 2) oder ein Schädel-Hirntrauma erlitten hat. Ist dies nicht der Fall, gelangt die Rechtsprechung gemäss BGE 115 V 140 Erw. 6c/aa zur Anwendung. Ergeben die Abklärungen, dass die versicherte Person eine der soeben erwähnten Verletzungen erlitten hat, muss beurteilt werden, ob die zum typischen Beschwerdebild einer solchen Verletzung gehörenden Beeinträchtigungen (vgl. dazu: BGE 119 V 337 Erw. 1, 117 V 360 Erw. 4b) zwar teilweise vorliegen, im Vergleich zur psychischen Problematik aber ganz in den Hintergrund treten. Trifft dies zu, sind für die Adäquanzbeurteilung ebenfalls die in BGE 115 V 140 Erw. 6c/aa für Unfälle mit psychischen Folgeschäden aufgestellten Grundsätze massgebend; andernfalls erfolgt die Beurteilung der Adäquanz gemäss den in BGE 117 V 366 Erw. 6a und 382 Erw. 4b festgelegten Kriterien (BGE 123 V 99 Erw. 2a mit Hinweisen). Gleiches gilt, wenn die im Anschluss an den Unfall auftretenden psychischen Störungen nicht zum typischen Beschwerdebild eines HWS-Traumas gehören. Erforderlichenfalls ist vorgängig der Adäquanzbeurteilung zu prüfen, ob es sich bei den im Anschluss an den Unfall geklagten psychischen Beeinträchtigungen um blosse Symptome des erlittenen Traumas oder aber um eine selbstständige (sekundäre) Gesundheitsschädigung handelt, wobei für die Abgrenzung insbesondere Art und Pathogenese der Störung, das Vorliegen konkreter unfallfremder Faktoren oder der Zeitablauf von Bedeutung sind (RKUV 2001 Nr. U 412 S. 80). Wie das Eidgenössische Versicherungsgericht in dem in RKUV 2002 Nr. U 465 S. 437 publizierten Urteil schliesslich dargelegt hat, ist die Adäquanz des Kausalzusammenhangs nur dann im Sinne von BGE 123 V 99 Erw. 2a unter dem Gesichtspunkt einer psychischen Fehlentwicklung nach Unfall zu beurteilen, wenn die psychische Problematik bereits unmittelbar nach dem Unfall eindeutige Dominanz aufweist. Wird die Rechtsprechung gemäss BGE 123 V 99 Erw. 2a in einem späteren Zeitpunkt angewendet, ist zu prüfen, ob im Verlaufe der ganzen Entwicklung vom Unfall bis zum Beurteilungszeitpunkt die physischen Beschwerden gesamthaft nur eine sehr untergeordnete Rolle gespielt haben und damit ganz in den Hintergrund getreten sind. Nur wenn dies zutrifft, ist die Adäquanz nach der Rechtsprechung zu den psychischen Unfallfolgen (BGE 115 V 133) zu beurteilen.
| |
3.
| |
3.1 Gestützt auf den kantonspolizeilichen Rapport (vom 15. September 1999) ist davon auszugehen, dass der Beschwerdegegner seinen Personenwagen mit einer Geschwindigkeit von ca. 60 km/h auf der Landstrasse von A.________ in Richtung B.________ lenkte, als er wegen eines Fuchses, der die Strasse überquerte, bremste. Das nachfolgende Fahrzeug konnte die Geschwindigkeit nicht rechtzeitig anpassen, weshalb es beim versuchten Ausweichmanöver nach links im Bereich der rechten vorderen Stossstangenecke mit der heckseitigen Stossstange des vorderen Wagens kollidierte, worauf dieser in die rechte Leitplanke prallte. Der Oberkörper des Beschwerdegegners war dabei gemäss seiner Darstellung zum Beifahrersitz hin geneigt, um zu verhindern, dass sein sich dort befindliches Mobiltelefon zu Boden fällt. Die Ermittlungsbehörden bezifferten den Schaden am Fahrzeug des Beschwerdegegners ("Beschädigungen an der Stossstange sowie am Heckblech hinten links", "Kotflügel vorne rechts eingedrückt") mit ca. Fr. 4000.-, jenen am nachfolgenden Wagen ("Stossstangenecke vorne rechts leicht beschädigt") mit Fr. 100.-. Laut biomechanischer Beurteilung des Prof. Dr. W.________ (vom 13. November 2000) betrug die kollisionsbedingte Geschwindigkeitsveränderung beim Fahrzeug des Beschwerdegegners in der ersten Phase des Unfalles (Kollision der beiden Fahrzeuge) deutlich unter 10 km/h, ziemlich sicher sogar unter 5 km/h. Bei der Sekundärkollision (Aufprall des Personenwagens auf die Leitplanke) liege der entsprechende Wert gestützt auf die ihm zur Verfügung stehenden Bilder mit Sicherheit unter 10 km/h. Eine durch die Zürich Versicherungs-Gesellschaft als beteiligte Motorfahrzeughaftpflichtversicherung erstellte verkehrstechnische Analyse (vom 13. Juli 2000) hatte kollisonsbedingte Geschwindigkeitsveränderungen beim Personenwagen des Beschwerdegegners von weniger als 3 km/h (Kollision der beiden Fahrzeuge) und unter 3,5 km/h (Aufprall auf die Leitplanke) ermittelt.
| |
3.2 Auf Grund des aktenmässig ausgewiesenen Unfallherganges sowie der initial aufgetretenen Beschwerden ist, wenn auch nicht mit Sicherheit, so doch mit dem relevanten Beweismass der überwiegenden Wahrscheinlichkeit (BGE 126 V 360 Erw. 5b, 125 V 195 Erw. 2, je mit Hinweisen) mit allen Verfahrensbeteiligten davon auszugehen, dass der Beschwerdegegner beim Unfall vom 8. September 1999 ein Schleudertrauma der HWS erlitten hat und das Unfallereignis zumindest eine Teilursache der bestehenden Beschwerden bildet, was für die Bejahung des natürlichen Kausalzusammenhanges genügt (BGE 121 V 329 Erw. 2a mit Hinweisen). Mit Blick auf die diskutierten verhältnismässig geringfügigen kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderungen, die Körperhaltung bei Eintritt der ersten Kollision, die Beurteilung in der Expertise des ZMB sowie unter Würdigung des Umstandes, dass erst im Verlaufe der Zeit von einem seitlichen Kopfanprall verbunden mit Bewusstseinsverlust die Rede war, ist die im Bericht der Rehaklinik Z.________ (vom 2. Juli 2000) diagnostizierte leichte traumatische Hirnverletzung demgegenüber weder bewiesen noch durch ergänzende Beweisvorkehren beweisbar.
| |
4.
| |
4.1 Laut Vorinstanz und Beschwerdegegner ist für die Adäquanzbeurteilung gemäss den in BGE 117 V 366 Erw. 6a festgelegten Kriterien vorzugehen. Die Beschwerdeführerin stellt sich auf den Standpunkt, die in BGE 115 V 140 Erw. 6c/aa für Unfälle mit psychischen Folgeschäden aufgestellten Regeln seien massgeblich, weil die psychische Problematik bereits unmittelbar nach dem Unfall eindeutige Dominanz aufwies.
| |
4.2
| |
4.2.1 Die umfangreichen medizinischen Akten weisen keine organischen Befunde nach, welche die geklagten massiven Beschwerden zu erklären vermögen. Diese sind nicht struktureller sondern funktioneller Natur. In der polydisziplinären Expertise des ZMB (vom 22. August 2002) werden eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung (mit dissoziativen, depressiven und regressiven Anteilen) bei beeindruckbarer, einfach strukturierter Persönlichkeit sowie ein Status nach HWS-Distorsion mit persistierendem zervikozephalem Syndrom und Kopf-Schiefhaltung mit Tendenz zur Generalisierung diagnostiziert. Diese gutachterliche Beurteilung der gesundheitlichen Verhältnisse beruht auf allseitigen Untersuchungen, berücksichtigt die geklagten Beschwerden, leuchtet in der Beurteilung der medizinischen Situation ein und ist begründet, weshalb ihr voller Beweiswert zukommt (vgl. BGE 125 V 352 Erw. 3). Sie wird zu Recht von keiner Seite in Zweifel gezogen, zumal Dr. med. E.________, Spezialarzt FMH für Psychiatrie und Psychotherapie, der bereits bei der Begutachtung durch das ZMB beteiligt war, in seiner Expertise vom 26. Juli 2003 im Wesentlichen zu gleichen Ergebnissen gelangt ist.
| |
4.2.2 Nach den medizinischen Akten ist überwiegend wahrscheinlich, dass im Anschluss an das Unfallereignis vom 8. September 1999 und die dabei erlittene Distorsionsverletzung der HWS sowie dem anfänglich lokalisierten Prozess eines Zervikalsyndroms eine erhebliche psychische Fehlentwicklung ihren Anfang nahm. Die diagnostizierte anhaltende somatoforme Schmerzstörung ist dadurch gekennzeichnet, dass sich für geklagte körperliche Symptome trotz adäquater medizinischer (Differenzial-)Diagnostik keine eindeutigen körperlichen Ursachen finden lassen (vgl. etwa Kopp/Willi/Klipstein, Im Graubereich zwischen Körper, Psyche und sozialen Schwierigkeiten, in: Schweizerische Medizinische Wochenschrift 1997, S. 1382). Gemäss ICD-10 (Weltgesundheitsorganisation [WHO], International Classification of Diseases, 10. Auflage 1992, Kapitel V [F] Ziff. 45.4) setzt ihre Diagnose als vorherrschende Beschwerde einen andauernden, schweren und quälenden Schmerz voraus, der durch einen physiologischen Prozess oder eine körperliche Störung nicht vollständig erklärt werden kann. Der Schmerz tritt in Verbindung mit emotionalen Konflikten oder psychosozialen Problemen auf. Diese sollten schwerwiegend genug sein, um als entscheidende ursächliche Einflüsse zu gelten (vgl. auch BGE 130 V 352 und 396 mit Hinweisen).
| |
Die Akten vermitteln das Bild einer heute instabilen, zerbrochenen und narzisstischen Person ohne Lebensperspektiven (Gutachten des Dr. med. E.________ vom 26. Juli 2003, S. 4). Das kontrastiert mit der prätraumatisch als voll leistungsfähig und aktiv beschriebenen Person (vgl. u.a. den Bericht des letzten Arbeitgebers vom 17. Oktober 2001, wonach nur Positives über den Beschwerdegegner rapportiert werden könne). Dabei ist laut Dr. med. R.________ (psychiatrische Expertise vom 3. November 2001) indes wahrscheinlich, dass der Beschwerdegegner bereits vor dem Unfall in seinem Selbstwertgefühl nicht genügend gefestigt war, weshalb er kompensatorisch - beruflich als auch in Bezug auf seine Rolle als Mann und Partner - einem hohen Leistungsgefühl nachgeeifert habe. Nachdem dies bedingt durch den Unfall vom 8. September 1999 nicht mehr möglich gewesen sei, habe sich eine Angstsystematik entwickelt. Damit in Einklang steht die Einschätzung des Dr. med. E.________ (psychiatrische Expertise vom 26. Juli 2003), wonach der Beschwerdegegner nach dem Schema "Alles oder Nichts" funktioniere, was bloss insoweit nicht ganz zutreffe, als er im Haushalt noch gewisse Hilfsarbeiten verrichte.
| |
Insgesamt ist davon auszugehen, dass der beeindruckbare und einfach strukturierte Beschwerdegegner (Gutachten des ZMB, S. 26) psychisch nicht in der Lage war, den glimpflich verlaufenen Unfall vom 8. September 1999 (Erw. 3.1 und 3.2 hievor) in adäquater Weise zu verarbeiten, es vielmehr zu einer erheblichen psychischen Fehlentwicklung im Sinne einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung kam. Hiefür sind, entsprechend der eben zitierten Umschreibung gemäss ICD-10, emotionale Konflikte oder psychosoziale Probleme von entscheidender Bedeutung, nicht aber der Umstand, dass beim Unfall überwiegend wahrscheinlich eine Distorsion der HWS erfolgte. Sind die aufgetretenen psychischen Probleme, wie hier, nicht bloss Symptome der anlässlich des Unfalls überwiegend wahrscheinlich erlittenen Distorsionsverletzung der HWS, sondern als selbstständige sekundäre Gesundheitsschädigung zu beurteilen, ist bei der Adäquanzprüfung gemäss den in BGE 115 V 140 Erw. 6c/aa für Unfälle mit psychischen Folgeschäden aufgestellten Kriterien vorzugehen (in diesem Sinne: RKUV 2001 Nr. U 412 S. 79 ff. Erw. 2b; Urteile B. vom 7. August 2002, U 313/01, Erw. 2.2 und B. vom 23. März 2005, U 457/04, Erw. 5.2). Würden psychische Beschwerden, die im Anschluss an einen Unfall mit Distorsionsverletzung der HWS auftreten, ungeachtet ihrer Pathogenese stets nach den Kriterien gemäss BGE 117 V 366 Erw. 6a auf ihre Adäquanz hin überprüft, bestünde die Gefahr, identische natürlich kausale psychische Unfallfolgen adäquanzrechtlich allein deshalb unterschiedlich zu beurteilen, je nachdem, ob beim Unfall zusätzlich eine Distorsionsverletzung der HWS (oder ein äquivalenter Verletzungsmechanismus) auftrat oder nicht, was nicht angeht.
| |
4.3 Im kantonalen Gerichtsentscheid wird, wie bereits im Einspracheentscheid, für die Adäquanzbeurteilung von einem Unfall im mittleren Bereich ausgegangen, ohne dass ausgeführt wird, ob es sich um einen mittelschweren Unfall im mittleren Bereich oder einen Grenzfall zu einem schweren oder leichten Unfall handelt. Nach der gesamten Aktenlage (vgl. Erw. 3.1 und 3.2) ist im Lichte der Rechtsprechung (vgl. das jüngst ergangene Urteil S. vom 8. August 2005, U 158/05, mit Hinweisen) von einem mittelschweren Unfall im Grenzbereich zu den leichten Unfällen auszugehen. Die Adäquanz der psychischen Unfallfolgen ist daher zu bejahen, wenn eines der in BGE 115 V 140 Erw. 6c/aa erwähnten Kriterien in besonders ausgeprägter Weise erfüllt ist oder die massgebenden Kriterien in gehäufter oder auffallender Weise erfüllt sind. Bei der Prüfung der einzelnen Kriterien sind nur die organisch bedingten Beschwerden zu berücksichtigen, während die psychisch begründeten Anteile, deren hinreichender Zusammenhang mit dem Unfall den Gegenstand der Prüfung bildet, ausgeklammert bleiben.
| |
Der Unfall vom 8. September 1999 hat sich weder unter besonders dramatischen Begleitumständen ereignet, noch ist das Geschehen mit Blick auf die verhältnismässig geringen kollisionsbedingten Geschwindigkeitsveränderungen als besonders eindrücklich zu beurteilen. Eine Distorsionsverletzung der HWS, wie sie hier aufgetreten ist (ohne Frakturen, nur geringfügige und kurzzeitige neurologische Defizite, bei mässiger Chassisverstauchung), begünstigt den Eintritt einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung nicht in besonderer Weise. Eine ärztliche Fehlbehandlung wird zu Recht nicht behauptet und eine physisch bedingte (teilweise) Arbeitsunfähigkeit bestand nach Lage der Akten nur für kurze Zeit. Weiter liegen kein schwieriger Heilungsverlauf mit erheblichen Komplikationen, Dauerbeschwerden oder eine ungewöhnlich lange Dauer der ärztlichen Behandlung vor, weshalb mit der Beschwerdeführerin mangels Adäquanz des Kausalzusammenhanges für die anhaltende somatoforme Schmerzstörung über den im Einspracheentscheid bestätigten Fallabschluss hinaus keine Leistungspflicht nach UVG besteht. Der anderslautende vorinstanzliche Entscheid hält nach dem Gesagten vor Bundesrecht nicht stand (Art. 104 lit. a OG).
| |
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
| |
1.
| |
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird der Entscheid des Kantonsgerichts Basel-Landschaft, Abteilung Sozialversicherungsrecht, vom 24. März 2004 aufgehoben.
| |
2.
| |
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
| |
3.
| |
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Kantonsgericht Basel-Landschaft, Abteilung Sozialversicherungsrecht, und dem Bundesamt für Gesundheit zugestellt.
| |
Luzern, 30. September 2005
| |
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
| |
Der Präsident der I. Kammer: Der Gerichtsschreiber:
| |
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR). |