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Informationen zum Dokument  BGer I 407/2006  Materielle Begründung
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BGer I 407/2006 vom 28.02.2007
 
Tribunale federale
 
{T 7}
 
I 407/06
 
Urteil vom 28. Februar 2007
 
II. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
 
Bundesrichter Lustenberger, Borella,
 
Gerichtsschreiber Fessler.
 
Parteien
 
W.________, 1952, Beschwerdeführerin,
 
vertreten durch den Rechtsdienst Integration Handicap, Schützenweg 10, 3014 Bern,
 
gegen
 
IV-Stelle Bern, Chutzenstrasse 10, 3007 Bern, Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Invalidenversicherung,
 
Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern
 
vom 20. März 2006.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
Die 1952 geborene W.________ meldete sich im Juli 2002 bei der Invalidenversicherung zum Rentenbezug an. Mit Verfügung vom 17. Januar 2003 lehnte die IV-Stelle Bern das Leistungsbegehren ab, was sie mit Einspracheentscheid vom 31. März 2003 bestätigte. In Gutheissung der Beschwerde der W.________ hob das Verwaltungsgericht des Kantons Bern mit Entscheid vom 26. September 2003 diesen Verwaltungsakt auf und wies die Akten zur weiteren Abklärung und zu neuem Entscheid im Sinne der Erwägungen an die IV-Stelle zurück. Mit Verfügung vom 2. März 2005 verneinte die IV-Stelle erneut den Anspruch der W.________ auf eine Invalidenrente. Daran hielt sie mit Einspracheentscheid vom 24. Oktober 2005 fest.
 
B.
 
Die Beschwerde der W.________ wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern mit Entscheid vom 20. März 2006 ab.
 
C.
 
W.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit dem Rechtsbegehren, der kantonale Gerichtsentscheid sei aufzuheben und es sei ihr eine Viertelsrente zuzusprechen.
 
Die IV-Stelle beantragt die Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung.
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
 
1.
 
Der angefochtene Entscheid erging am 20. März 2006. Das Verfahren richtet sich somit nach dem Bundesgesetz über die Organisation der Bundesrechtspflege (OG). Das am 1. Januar 2007 in Kraft getretene Bundesgesetz vom 17. Juni 2005 über das Bundesgericht (BGG [AS 2006 1205 ff.]) ist nicht anwendbar (Art. 132 Abs. 1 BGG; BGE 132 V 393 E. 1.2 S. 395). Da die Verwaltungsgerichtsbeschwerde vor dem 1. Juli 2006 anhängig gemacht worden ist, bestimmt sich die Überprüfungsbefugnis im vorliegenden Streit um eine Rente der Invalidenversicherung nach Art. 132 Abs. 1 OG, in der seit 1. Juli 2006 geltenden Fassung (lit. c der Übergangsbestimmungen zur Änderung des IVG vom 16. Dezember 2005 [AS 2006 2003 f.]). Das Bundesgericht (bis 31. Dezember 2006: Eidgenössisches Versicherungsgericht) kann somit auch die Unangemessenheit des angefochtenen Entscheides prüfen und es ist an die vorinstanzliche Feststellung des Sachverhalts nicht gebunden.
 
2.
 
Das kantonale Gericht hat durch Einkommensvergleich (alt Art. 28 Abs. 2 IVG und Art. 16 ATSG sowie BGE 128 V 29 E. 1 S. 30) einen Invaliditätsgrad von 38 % ([[Fr. 60'552.- - Fr. 37'275.-]/Fr. 60'552.-] x 100 %; zum Runden BGE 130 V 121) ermittelt, was keinen Rentenanspruch ergibt (Art. 28 Abs. 1 IVG). Das Valideneinkommen (Fr. 60'552.-) hat es auf der Grundlage der Schweizerischen Lohnstrukturerhebung 2004 des Bundesamtes für Statistik (LSE 04) bestimmt (BGE 129 V 472 E. 4.2.1 S. 475; BGE 124 V 321), unter Annahme eines erwerblichen Arbeitspensums ohne gesundheitliche Beeinträchtigung von 90 %. Das Invalideneinkommen (Fr. 37'275.-) hat die Vorinstanz dem von der Versicherten 2004 erzielten Verdienst als Pflegeassistentin im Altersheim X.________ gleichgesetzt. In der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird geltend gemacht, die beiden hypothetischen Einkommen seien beide auf der Grundlage entweder des effektiven Verdienstes im Altersheim X.________ oder statistischer Durchschnittswerte zu bestimmen. Dabei sei von einem im Gesundheitsfall geleisteten Arbeitspensum von 95 % auszugehen.
 
3.
 
Entgegen den Vorbringen in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde ist die vorinstanzliche Feststellung eines erwerblichen Arbeitspensums ohne gesundheitliche Beeinträchtigung von 90 % nicht zu beanstanden. Es trifft zwar zu, dass die Versicherte in der Einsprache gegen die Verfügung vom 17. Januar 2003 geltend gemacht hatte, sie hätte ohne gesundheitliche Beeinträchtigung gerne 100 % und nicht lediglich 60 % gearbeitet. Gegenüber der Abklärungsperson Haushalt gab sie später jedoch an, sie würde bei guter Gesundheit zu 90 % erwerbstätig sein. Darauf ist abzustellen, zumal die Beschwerdeführerin auch bei der Arbeitslosenversicherung, wo sie ab 1. Mai 2001 gemeldet war, aufgrund ihrer eigenen Angaben als zu 90 % vermittlungsfähig galt (Schreiben der Arbeitslosenkasse vom 29. Juli 2002). Ob die Versicherte in Bezug auf die Invaliditätsbemessung als Erwerbstätige oder als Teilerwerbstätige mit einem Aufgabenbereich Haushalt neben der Berufsausübung zu betrachten ist (vgl. dazu BGE 131 V 51), kann offen bleiben. Beide Annahmen führen zum selben Ergebnis (vgl. E. 4.3.2).
 
4.
 
4.1 Die ohne und mit Behinderung erzielbaren Einkommen sind so konkret wie möglich zu ermitteln. Beim Valideneinkommen ist massgebend, was die versicherte Person aufgrund ihrer beruflichen Fähigkeiten und persönlichen Umstände unter Berücksichtigung ihrer beruflichen Weiterentwicklung, soweit hiefür hinreichend konkrete Anhaltspunkte bestehen (Kursbesuche, Aufnahme eines Studiums etc.), zu erwarten gehabt hätte (BGE 96 V 29; RKUV 2005 Nr. U 554 S. 315 E. 2.2 mit Hinweisen [U 340/04]). Da erfahrungsgemäss in der Regel die bisherige Tätigkeit im Gesundheitsfall weitergeführt worden wäre, ist Anknüpfungspunkt für die Bestimmung des ohne gesundheitliche Beeinträchtigung erzielten Einkommens häufig der letzte, an die Teuerung sowie die reale Einkommensentwicklung angepasste Verdienst (RKUV 2006 Nr. U 568 S. 65 E. 2 [U 87/05]; Urteile I 809/05 vom 12. Juni 2006 E. 3.1 und I 97/00 vom 29. August 2002 E. 1.2 in Verbindung mit BGE 130 V 343).
 
Übt die versicherte Person nach Eintritt der gesundheitlichen Beeinträchtigung eine Erwerbstätigkeit aus, gilt grundsätzlich der damit erzielte Verdienst als Invalideneinkommen, wenn besonders stabile Arbeitsverhältnisse gegeben sind, weiter anzunehmen ist, dass sie die ihr verbliebene Arbeitsfähigkeit in zumutbarer Weise voll ausschöpft, und wenn das Einkommen aus der Arbeitsleistung als angemessen und nicht als Soziallohn erscheint (BGE 129 V 472 E. 4.2.1 S. 475; BGE 126 V 75 E. 3b/aa S. 76 mit Hinweisen).
 
4.2 Die Versicherte arbeitete ab 11. Februar 1985 als Pflegeassistentin im Domizil Y.________. Wegen Differenzen am Arbeitsplatz wurde ihr auf Ende Januar 2001 gekündigt (Fragebogen Arbeitgeber vom 8. Februar 2003). Ab 1. Juli 2001 arbeitete die Beschwerdeführerin als Pflegeassistentin im Altersheim X.________. Dort war sie auch bei Erlass des den Prüfungszeitraum begrenzenden Einspracheentscheides vom 24. Oktober 2005 (BGE 131 V 353 E. 2 S. 354) tätig. Nach der Rechtsprechung sind somit grundsätzlich Validen- und Invalideneinkommen auf der Grundlage des bei einem Arbeitspensum von 90 % erzielbaren resp. des tatsächlichen Verdienstes als Pflegeassistentin im Altersheim X.________ zu ermitteln.
 
4.3
 
4.3.1 Nach Auffassung des kantonalen Gerichts kann beim Valideneinkommen nicht darauf abgestellt werden, welchen Verdienst die Versicherte bei voller Gesundheit mit ihrer derzeitigen Tätigkeit im Altersheim X.________ erzielen würde. Zum einen stehe nicht fest, ob sie ein Pensum von 90 % entsprechend dem angenommenen Anteil der Erwerbstätigkeit versehen könnte. Zum anderen sei eine Aufrechnung des tatsächlich erzielten Einkommens auf ein 90 %-Pensum insofern erschwert, als nicht bekannt sei und auch dem persönlichen Lohnkonto 2004 nicht entnommen werden könne, welches Pensum sie tatsächlich geleistet habe und in welchem Ausmass Nacht- und Wochenendzuschläge den Lohn beeinflusst hätten. Das Valideneinkommen sei daher anhand von Tabellenlöhnen zu ermitteln.
 
4.3.2 Es besteht kein Grund zur Annahme, dass die Beschwerdeführerin aus betrieblichen Gründen kein 90 %-Pensum versehen könnte. Sodann ist zumindest fraglich, ob die 2004 tatsächlich geleistete Arbeitszeit und die mit einem Zuschlag entlöhnten Stunden sich nicht mit verhältnismässigem Aufwand ermitteln liessen. Von diesbezüglichen Abklärungen kann indessen abgesehen werden. Es steht fest, dass die Beschwerdeführerin bei einer normalen wöchentlichen Arbeitszeit von 42,5 Stunden insgesamt 1165 Stunden arbeitete. Dies entspricht einem Pensum von rund 55 %. Das ist mehr als das aus medizinischer Sicht zumutbare Arbeitspensum von 47 % (4 Stunden im Tag). Dem ist entweder nicht oder dann auch - in den Schranken eines Normalarbeitspensums - beim Valideneinkommen Rechnung zu tragen (vgl. BGE 129 V 222 E. 4.4 S. 225; ZAK 1989 S. 456). Dies gilt auch für die Arbeitszeit mit einem Lohnzuschlag unter der - zu bejahenden - Annahme, dass die Versicherte an ihrer Stelle im Altersheim X.________ bestmöglich eingegliedert ist (vgl. RKUV 2006 Nr. U 568 S. 65 [U 87/05]). Der Invaliditätsgrad lässt sich somit hinreichend genau durch Vergleich der medizinisch zumutbaren Arbeitsfähigkeit in zeitlicher Hinsicht und dem ohne gesundheitliche Beeinträchtigung geleisteten Arbeitspensum bestimmen (vgl. auch Urteil I 952/05 vom 25. Juli 2006 E. 4.2). Daraus resultiert ein (erwerblicher) Invaliditätsgrad von 48 % ([0,9-0,47]/0,9 x 100 %). Wird die Versicherte als Teilerwerbstätige betrachtet, welche daneben den Haushalt führt, ergibt sich bei einer unbestrittenen Einschränkung in diesem Aufgabenbereich von 11 % ein Invaliditätsgrad von 44 % (0,9 x 47,77 % + 0,1 x 11 %).
 
Die Beschwerdeführerin hat somit Anspruch auf eine Viertel-Invalidenrente (Art. 28 Abs. 1 IVG). Den Leistungsbeginn wird die IV-Stelle noch festzulegen haben.
 
5.
 
Das Verfahren ist kostenlos (Art. 134 OG, in der bis 30. Juni 2006 geltenden Fassung). Dem Prozessausgang entsprechend hat die Beschwerdeführerin Anspruch auf Parteientschädigung (Art. 159 Abs. 1 und 2 OG in Verbindung mit Art. 135 OG).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, vom 20. März 2006 und der Einspracheentscheid der IV-Stelle Bern vom 24. Oktober 2005 aufgehoben und es wird festgestellt, dass die Beschwerdeführerin ab dem von der Verwaltung noch festzulegenden Zeitpunkt Anspruch auf eine Viertelsrente der Invalidenversicherung hat.
 
2.
 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
 
3.
 
Die IV-Stelle Bern hat der Beschwerdeführerin für das Verfahren vor dem Bundesgericht eine Parteientschädigung von Fr. 2500.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.
 
4.
 
Das Verwaltungsgericht des Kantons Bern hat die Parteientschädigung für das kantonale Verfahren entsprechend dem Ausgang des letztinstanzlichen Prozesses festzusetzen.
 
5.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, der Ausgleichskasse des Kantons Bern und dem Bundesamt für Sozialversicherungen zugestellt.
 
Luzern, 28. Februar 2007
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:
 
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