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Informationen zum Dokument  BGer 6P_63/2007  Materielle Begründung
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BGer 6P_63/2007 vom 07.08.2007
 
Tribunale federale
 
{T 0/2}
 
6P.63/2007
 
6P.64/2007
 
6S.137/2007 /rom
 
Urteil vom 7. August 2007
 
Kassationshof
 
Besetzung
 
Bundesrichter Wiprächtiger, präsidierendes Mitglied, Bundesrichter Ferrari, Favre,
 
Gerichtsschreiber Thommen.
 
Parteien
 
L.X.________,
 
Beschwerdeführer, handelnd durch seine Eltern und diese vertreten durch Rechtsanwalt Christoph Storrer,
 
gegen
 
T.A.________,
 
Beschwerdegegnerin,
 
handelnd durch ihre Eltern und diese vertreten durch Rechtsanwalt lic. iur. Paul Brantschen,
 
Jugendanwaltschaft des Kantons Schaffhausen, Frauengasse 24, 8200 Schaffhausen.
 
Gegenstand
 
6S.137/2007
 
Mehrfache sexuelle Handlungen mit Kindern (Art. 187 Ziff. 1 Abs. 1 StGB),
 
6P.63/2007
 
Strafverfahren; Kosten- und Entschädigungsregelung; unentgeltliche Vertretung; Prozessentschädigung,
 
6P.64/2007
 
Art. 9 BV und Art. 6 EMRK (Strafverfahren; willkürliche Beweiswürdigung, Verletzung des Grundsatzes in dubio pro reo),
 
Nichtigkeitsbeschwerde (6S.137/2007) und Staatsrechtliche Beschwerde (6P.64/2007) gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Schaffhausen vom 27. November 2006 sowie Staatsrechtliche Beschwerde (6P.63/2007) gegen die Beschlüsse vom 8. Dezember 2006 und 28. Dezember 2006.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
Der damals 10-jährige L.X.________ soll die damals 6-jährige T.A.________ beim "Dökterlis-Spielen" im Sommer 2001 zweimal dazu gebracht haben, sein Glied zu lecken.
 
B.
 
Am 12. Juli 2005 sprach das Jugendgericht des Kantons Schaffhausen L.X.________ vom Vorwurf der sexuellen Nötigung und der mehrfachen sexuellen Handlungen mit Kindern frei. In teilweiser Gutheissung der Berufung der Jugendanwaltschaft befand ihn das Obergericht des Kantons Schaffhausen am 27. November 2006 der mehrfachen sexuellen Handlungen mit Kindern (Art. 187 Ziff. 1 Abs. 1 StGB) für schuldig. Vom Vorwurf der sexuellen Nötigung (Art. 189 Abs. 1 StGB) wurde er freigesprochen. Von einer Massnahme oder Strafe wurde abgesehen. Mit separaten Beschlüssen vom 8. und 28. Dezember 2006 regelte das Obergericht des Kantons Schaffhausen die Kosten- und Entschädigungsfolgen.
 
C.
 
Gegen die beiden Kostenbeschlüsse erhob L.X.________ am 12. Januar 2007 staatsrechtliche Beschwerde (1P.33/2007), mit der er die Aufhebung der angefochtenen Beschlüsse, die aufschiebende Wirkung sowie die Sistierung des bundesgerichtlichen Verfahrens bis zum Vorliegen des schriftlich begründeten Urteils vom 27. November 2006 resp. bis zum Ablauf der diesbezüglichen Rechtsmittelfristen beantragte. Mit Verfügung des Präsidenten der 1. öffentlich-rechtlichen Abteilung vom 1. Februar 2007 wurde die aufschiebende Wirkung gewährt und das bundesgerichtliche Verfahren im beantragten Sinne sistiert.
 
D.
 
Nach Erhalt der schriftlichen Urteilsbegründung erhob L.X.________ gegen den Schuldspruch staatsrechtliche Beschwerde (6P.64/2007) sowie eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde (6S.137/2007), mit denen er die Aufhebung des angefochtenen Entscheids und die unentgeltliche Rechtspflege beantragt. Das staatsrechtliche Beschwerdeverfahren im Kostenpunkt (1P.33/2007) wurde von der ersten öffentlich-rechtlichen Abteilung an den Kassationshof übertragen (neu: 6P.63/2007). Den Beschwerden wurde superprovisorisch die aufschiebende Wirkung erteilt.
 
E.
 
Das Obergericht des Kantons Schaffhausen verzichtet auf Gegenbemerkungen zu den Beschwerden. Die Beschwerdegegnerin wurde zum Gesuch um aufschiebende Wirkung sowie zum Schuldpunkt vernommen. Mit Schreiben vom 5. Juni 2007 erklärte sie, dass sie sich nicht gegen die Gewährung aufschiebender Wirkung wende. Mit ihren Gegenbemerkungen vom 7. Juli 2007 schliesst sie auf Abweisung der Beschwerde, soweit darauf einzutreten sei (act. 12). Im gleichen Sinne liess sich die Jugendanwaltschaft des Kantons Schaffhausen vernehmen (act. 13).
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
 
1.
 
Das Bundesgesetz über das Bundesgericht vom 17. Juni 2005 (BGG; SR 173.110) ist am 1. Januar 2007 in Kraft getreten. Da der angefochtene Entscheid vorher ergangen ist, richten sich die Verfahren noch nach OG und BStP (Art. 132 Abs. 1 BGG).
 
2.
 
Am 1. Januar 2007 ist auch der revidierte Allgemeine Teil des Strafgesetzbuches in Kraft getreten. Die neuen Bestimmungen sind hier aber noch nicht von Bedeutung, da das Bundesgericht im Verfahren der Nichtigkeitsbeschwerde nur prüft, ob die Vorinstanz das eidgenössische Recht richtig angewendet hat (Art. 269 Abs. 1 BStP), mithin das Recht, welches im Zeitpunkt der Ausfällung des angefochtenen Entscheids noch gegolten hat (BGE 129 IV 49 E. 5.3).
 
I. Staatsrechtliche Beschwerde (6P.64/2007)
 
3.
 
Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung des Grundsatzes 'in dubio pro reo'. Gewichtige Zweifel seien angebracht, dass er sich in subjektiver Hinsicht ein Bild vom sexuellen Charakter seines Handelns habe machen können.
 
3.1 Die Vorinstanz kommt mehrheitlich zum Schluss, dass der Beschwerdeführer dadurch, dass er sich zweimal sein Glied lecken liess, den objektiven Tatbestand der Vornahme von sexuellen Handlungen mit Kindern erfüllt. Subjektiv sei er sich bewusst gewesen, mit der Beschwerdegegnerin sexuelle Handlungen vorgenommen zu haben. Es seien sexuelle Handlungen gewesen, welche für den Jugendlichen zielgerichtet eine geschlechtliche Bedeutung gehabt hätten. Zwar habe er noch keine Pornofilme gesehen, doch der Umstand, dass er gewusst habe, was Pornofilme seien, zeige, dass er sich in der Phantasie bereits mit sexuellen Handlungen beschäftigt habe und somit habe wissen müssen, was sexuelle Handlungen sind. Ferner sei es bereits vor dem Tatzeitpunkt unter dem Einfluss älterer Jugendlicher zu Ladendiebstahl und Nikotinmissbrauch gekommen, womit feststehe, dass sich der Beschwerdeführer bereits damals mit nicht altersadäquaten "Interessen und Sachen" beschäftigt habe. Die Beschwerdegegnerin und die Jugendanwaltschaft schliessen sich diesen Ausführungen in ihren Vernehmlassungen an.
 
3.2 Aus der in Art. 32 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 2 EMRK verankerten Unschuldsvermutung wird die Rechtsregel "in dubio pro reo" abgeleitet. Der Grundsatz besagt als Beweiswürdigungsregel, dass sich das Strafgericht nicht von einem für den Angeklagten ungünstigen Sachverhalt überzeugt erklären darf, wenn bei objektiver Würdigung erhebliche und nicht zu unterdrückende Zweifel bestehen, ob sich der Sachverhalt so verwirklicht hat (BGE 127 I 38 E. 2a S. 40 f., mit Hinweisen).
 
3.3 Nach Art. 187 StGB wird bestraft, wer mit einem Kind unter 16 Jahren eine sexuelle Handlung vornimmt, es zu einer solchen Handlung verleitet oder es in eine sexuelle Handlung einbezieht (Ziff. 1). Die Handlung ist nicht strafbar, wenn der Altersunterschied zwischen den Beteiligten nicht mehr als drei Jahre beträgt (Ziff. 2). Hat der Täter zur Zeit der Tat das 20. Altersjahr noch nicht zurückgelegt und liegen besondere Umstände vor, so kann die zuständige Behörde von der Strafverfolgung, der Überweisung an das Gericht oder der Bestrafung absehen (Ziff. 3).
 
Die Vorinstanz macht zutreffende allgemeine Ausführungen zu Art. 187 StGB, auf die zurückgegriffen werden kann (angefochtenes Urteil S. 20 f.). Der Tatbestand erfasst auch sexuelle Beziehungen zwischen Kindern im Schutzalter (BGE 92 IV 7; 82 IV 155). Der abstrakte Gefährdungstatbestand ist bereits bei der Vornahme der sexuellen Handlung an einem Kind erfüllt. Eine Schädigung des Opfers ist nicht erforderlich. Als sexuelle Handlungen gelten Körperkontakte, die für den Aussenstehenden nach ihrem äusseren Erscheinungsbild einen unmittelbaren sexuellen Bezug aufweisen und im Hinblick auf das geschützte Rechtsgut erheblich sind (BGE 131 IV 100 E. 7.1). In subjektiver Hinsicht ist mindestens Eventualvorsatz erforderlich. Der Täter muss sich der sexuellen Bedeutung der Handlung bewusst sein. Er sollte sich die zugrunde liegende soziale Wertung seines Verhaltens in groben Zügen vorstellen können (BGE 133 IV 31 [= Urteil 6S.355/2006 vom 7. Dezember 2006] n.p. E. 3.1; s.a. Philipp Maier, Basler Kommentar, Art. 187 StGB N. 15).
 
3.4 Die Beschwerde ist berechtigt. Die Vorinstanz geht zwar zu Recht davon aus, dass das Lecken des Gliedes bei objektiver Betrachtung eindeutig eine sexuelle Handlung darstellt. Wie sich aus den allgemeinen Erläuterungen ergibt, setzt eine Verurteilung nach Art. 187 Ziff. 1 StGB aber in tatsächlicher Hinsicht den Nachweis voraus, dass sich der Täter subjektiv über die sexuelle Bedeutung seines Handelns im Klaren ist. Dieser Nachweis wird im angefochtenen Urteil nicht zweifelsfrei erbracht. Der geistige und körperliche Entwicklungsstand des Beschwerdeführers, wie er sich aus den Akten und insbesondere aus der gutachterlichen Einschätzung ergibt, lässt den Schluss nicht zu, dass sich der Beschwerdeführer im Tatzeitpunkt der sexuellen Konnotation seines Verhaltens tatsächlich bewusst war. Im besagten Gutachten wurde er noch zweieinhalb Jahre nach den Vorfällen als sehr kindlich und in seiner sexuellen Entwicklung als unauffällig eingestuft. Es handle sich bei ihm um einen körperlich noch nicht altersgemäss entwickelten Knaben mit unterdurchschnittlicher intellektueller Leistungsfähigkeit. Aufgrund dieser verzögerten Entwicklung und mangels einer sexuellen Auffälligkeit wurde von einer Teilnahme an einem Behandlungsprogramm für jugendliche Sexualdelinquenten entschieden abgeraten (vgl. Gutachten des kinder- und jugendpsychiatrischen Dienstes des Kantons Schaffhausen, KJPD, vom 5. Dezember 2003, S. 12 ff., kant. act. 130). Dass er als damals 10-jähriges Kind zu einer adäquaten Einschätzung der sozialen Bewertung seines Verhaltens imstande gewesen sein soll, erscheint aufgrund dieser Begutachtung höchst zweifelhaft. Zum gleichen Schluss gelangten sowohl die Minderheit des Obergerichts als auch das kantonale Jugendgericht. Noch zwei Jahre nach der Tat habe er erst ganz am Anfang seiner pubertären Entwicklung gestanden. Angesichts seiner kognitiven, emotionalen und sozialen Entwicklung sei zweifelhaft, ob der Jugendliche im Tatzeitpunkt um die sexuelle Bedeutung seiner Handlungen wusste resp. nur schon den Begriff der sexuellen Handlung intellektuell zu erfassen vermocht habe. Vielmehr sei es für ihn darum gegangen, Neugier zu stillen, gegen gesellschaftliche Regeln zu verstossen und Macht auszuüben (vgl. angefochtenes Urteil S. 22 ff. und erstinstanzliches Urteil S. 10). Das überzeugt. Unhaltbar ist demgegenüber die Argumentation, mit welcher die Obergerichtsmehrheit das Vorliegen der subjektiven Tatbestandsvoraussetzungen bejaht. Es ist nicht ersichtlich und dem angefochtenen Urteil auch nicht zu entnehmen, inwiefern aus den nicht altersadäquaten Interessen des Beschwerdeführers gültige Schlüsse auf dessen Wissen um die sexuelle Bedeutung der verlangten Handlungen gezogen werden können. Nicht nachvollziehbar ist aber insbesondere auch, inwiefern ihm das abstrakte Wissen um die Existenz von Pornographie das notwendige Handlungsbewusstsein vermittelt haben soll. Nach dem Gesagten verbleiben gewichtige und nicht zu unterdrückende Zweifel, dass der Beschwerdeführer im Tatzeitpunkt tatsächlich bereits im Stande gewesen sein soll, die sexuelle Dimension seiner Handlung in strafbarkeitsgenügender Weise subjektiv zu erfassen. Indem ihm die Vorinstanz solches Wissen trotz der nicht ausgeräumten Zweifel unterstellt, verletzt sie Art. 32 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 2 EMRK. Auch aus dem von der Jugendanwaltschaft zitierten Bundesgerichtsentscheid 6S.351/2005 vom 17. November 2005 lässt sich nichts Abweichendes ableiten. In jenem Fall ging es nicht um ein 'Dökterlis-Spiel' zwischen Kindern, sondern um den mehrmaligen Vollzug des Geschlechtsverkehrs mit einer 7-Jährigen bei nachgewiesenermassen gegebenem Handlungsbewusstsein.
 
4.
 
Die staatsrechtliche Beschwerde (6P.64/2007) ist deshalb gutzuheissen und der angefochtene Entscheid sowie die damit zusammenhängenden Kosten- und Entschädigungsbeschlüsse sind aufzuheben. Vor diesem Hintergrund erübrigt sich die Behandlung der weiteren vorgebrachten Rügen. Mit dem Entscheid in der Sache braucht über die aufschiebende Wirkung nicht mehr entschieden zu werden. Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind keine Kosten zu erheben (Art. 156 Abs. 2 OG), und das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird gegenstandslos. Der Kanton Schaffhausen hat dem Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren eine Entschädigung auszurichten (Art. 159 OG). Der Beschwerdegegnerin werden keine Kosten auferlegt.
 
II. Staatsrechtliche Beschwerde (6P.63/2007) und
 
Eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde (6S.137/2007)
 
Mit der Aufhebung des angefochtenen Urteils und der damit zusammenhängenden Kosten- und Entschädigungsbeschlüsse wird sowohl die gegen die Kostenregelung gerichtete staatsrechtliche Beschwerde (6P.63/2007) als auch die gegen den Schuldspruch gerichtete eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde (6S.137/2007) hinfällig. Sie sind als gegenstandslos geworden am Geschäftsverzeichnis abzuschreiben. Praxisgemäss werden in solchen Fällen weder Kosten erhoben noch Entschädigungen ausgerichtet.
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die staatsrechtliche Beschwerde (6P.64/2007) wird gutgeheissen, das Urteil vom 27. November 2006 sowie die Kosten- und Entschädigungsbeschlüsse vom 8. und 28. Dezember 2006 des Obergerichts des Kantons Schaffhausen werden aufgehoben und die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückgewiesen.
 
2.
 
Die staatsrechtliche Beschwerde (6P.63/2007) und die eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde (6S.137/2007) werden als gegenstandslos geworden am Geschäftsverzeichnis abgeschrieben.
 
3.
 
Es werden keine Kosten erhoben.
 
4.
 
Der Kanton Schaffhausen hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 3'000.-- zu entschädigen.
 
5.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, der Jugendanwaltschaft des Kantons Schaffhausen und dem Obergericht des Kantons Schaffhausen schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 7. August 2007
 
Im Namen des Kassationshofs
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Das präsidierende Mitglied: Der Gerichtsschreiber:
 
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