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Informationen zum Dokument  BGer 6B_727/2008  Materielle Begründung
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BGer 6B_727/2008 vom 03.03.2009
 
Bundesgericht
 
Tribunal fédéral
 
Tribunale federale
 
{T 0/2}
 
6B_727/2008/sst
 
Urteil vom 3. März 2009
 
Strafrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Favre, Präsident,
 
Bundesrichter Ferrari, Mathys,
 
Gerichtsschreiber Borner.
 
Parteien
 
R.________,
 
Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Konrad Jeker,
 
gegen
 
Generalprokurator des Kantons Bern, Hochschulstrasse 17, 3012 Bern,
 
Beschwerdegegner.
 
Gegenstand
 
Gewalt und Drohung gegen Beamte; Widerruf des bedingten Strafvollzugs,
 
Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Bern, 2. Strafkammer, vom 16. Mai 2008.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
Der Gerichtspräsident 6 des Gerichtskreises V Burgdorf-Fraubrunnen verurteilte R.________ am 4. Juli 2007 wegen einfacher Körperverletzung, Drohung, Widerhandlung gegen das Waffengesetz sowie Gewalt und Drohung gegen Beamte zu 340 Stunden gemeinnütziger Arbeit.
 
Auf Appellation des Verurteilten und Anschlussappellation des Generalprokurators des Kantons Bern bestätigte das Obergericht des Kantons Bern am 16. Mai 2008 die Schuldsprüche; es widerrief den bedingten Strafvollzug einer 3-monatigen Gefängnisstrafe, die das Amtsstatthalteramt Willisau am 23. September 2005 ausgesprochen hatte, und verurteilte R.________ zu einer unbedingten Geldstrafe von 175 Tagessätzen zu Fr. 90.--.
 
B.
 
R.________ führt Beschwerde in Strafsachen und beantragt, das angefochtene Urteil sei aufzuheben, er sei vom Vorwurf der Gewalt und Drohung gegen Beamte freizusprechen, der bedingte Vollzug der 3-monatigen Gefängnisstrafe sei nicht zu widerrufen, und er sei zu einer bedingt aufgeschobenen Geldstrafe von 40 Tagessätzen zu Fr. 30.-- zu verurteilen; eventuell sei die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
 
Erwägungen:
 
1.
 
Der Beschwerdeführer beantragt einen Freispruch vom Vorwurf der Gewalt und Drohung gegen Beamte, weil die Vorinstanz das Anklageprinzip (Art. 6 Ziff. 3 lit. a EMRK, Art. 32 Abs. 2 BV) in Verbindung mit willkürlicher Anwendung kantonalen Verfahrensrechts (Art. 9 BV, Art. 300 Abs. 1 StrV/BE) verletzt habe.
 
Dem erstinstanzlichen Gericht sei eine Anzeige der Kantonspolizei Luzern überwiesen worden mit dem Vorwurf, der Beschwerdeführer habe Polizisten verbal bedroht. Das Gericht habe einen Zusatzbericht angefordert, aufgrund dessen der Beschwerdeführer "eine Baustellenabschrankung aus Metall behändigt und gegen einen Polizisten geworfen haben soll".
 
Indem das Gericht die anzeigende Behörde nach erfolgter Überweisung aufgefordert habe, weitere Angaben zu machen, habe es den Grundsatz der Trennung zwischen anklagender und urteilender Behörde verletzt. Die Verletzung liege auch darin, dass das Gericht seinem Urteil nicht den ursprünglich überwiesenen Sachverhalt (verbale Bedrohung), sondern den Sachverhalt mit der Baustellenabschrankung zugrunde gelegt habe. Der Beschwerdeführer habe wohl den Ergänzungsbericht gekannt, sei aber nicht darüber orientiert gewesen, dass die neu genannte Tat Gegenstand der Beurteilung werden würde.
 
1.1 Art. 300 des bernischen Strafverfahrens (StrV/BE) lautet:
 
"Eine Ausdehnung der Strafverfolgung gegen die angeschuldigte Person ist im Verfahren vor dem Einzelgericht unbeschränkt möglich, im Verfahren vor dem Kreisgericht oder dem Wirtschaftsstrafgericht nur mit Zustimmung der anwesenden Parteien" (Abs. 1).
 
Der Beschwerdeführer rügt eine willkürliche Anwendung der zitierten Bestimmung unter Hinweis auf HAUSER/SCHWERI/HARTMANN (Schweizerisches Strafprozessrecht, 6. Auflage, § 50.4). Diese führen aus, entsprechend dem Anklagegrundsatz gehe die Initiative für die Einleitung des Erkenntnisverfahrens vom Ankläger aus. Nachdem das Material in der Untersuchung gesichtet wurde, bestimme er, ob er Anklage erheben wolle.
 
Offenbar hatte die Staatsanwaltschaft den Beschwerdeführer wegen Verstosses gegen Art. 285 StGB angeklagt, weil das Gericht sonst nicht um einen Zusatzbericht hätte bitten können, "aus dem ersichtlich ist, wer genau sachdienliche Angaben betreffend der Anschuldigung gemäss Art. 285 StGB machen kann?" (kantonale Akten, act. 119). Entgegen der Behauptung des Beschwerdeführers ging somit die Initiative für die Anklage nicht vom Gericht aus. Zudem wurde der zu beurteilende Sachverhalt von der Kantonspolizei Luzern, mithin von einer Untersuchungsbehörde erbracht und nicht vom Gericht selbst.
 
Bei dieser Sachlage sind die Vorwürfe, die Vorinstanz habe Art. 300 StrV/BE willkürlich angewandt und das Anklageprinzip verletzt, offensichtlich unbegründet.
 
1.2 Der betroffene Polizist umschrieb den fraglichen Sachverhalt wie folgt:
 
"Während unserer Anwesenheit vor der Disco M.________ rasteten T.________ und R.________ immer wieder aus. Unverhofft behändigte R.________ ein Teil einer Baustellenabschrankung aus Metall und warf diesen gegen den Schreibenden. Ich konnte dem Gegenstand jedoch ausweichen. Kurze Zeit später wurde R.________ durch den Schreibenden und Gfr. H.________ gebunden" (a.a.O., act. 118).
 
Zu diesem Sachverhalt wurde der Beschwerdeführer anlässlich der Einvernahme vom 20. März 2007 durch das Gericht befragt (a.a.O., act. 128). Gleichentags wurde ihm eine Frist angesetzt, um Beweisanträge zu stellen und Beweismittel einzureichen (act. 130). An der Hauptverhandlung vom 4. Juli 2007 bestätigte der Polizist den Sachverhalt. Anschliessend nahmen der Beschwerdeführer und sein Rechtsvertreter dazu Stellung (act. 167-172).
 
Im Rahmen des Vorwurfs der Gewalt und Drohung gegen Beamte ging es somit seit dem Bericht der Kantonspolizei Luzern vom 19. Dezember 2006 ausschliesslich um den Sachverhalt, dass der Beschwerdeführer ein Stück Baustellenabschrankung aus Metall gegen den Polizisten geworfen hatte. Unter diesen Umständen sind die Rügen des Beschwerdeführers, er habe nicht gewusst, was ihm vorgeworfen werde, und, es sei nie klar gewesen, welche Handlung welcher Tatbestandsvariante von Art. 285 StGB zuzuordnen gewesen bzw. welche Variante überhaupt zum Vorwurf gemacht worden sei, offensichtlich unbegründet. Das Anklageprinzip ist nicht verletzt.
 
2.
 
Der Beschwerdeführer rügt, die Vorinstanz habe bei der Strafzumessung, der Beurteilung des bedingten Strafvollzugs und des Widerrufs desselben der 3-monatigen Gefängnisstrafe Art 42 in Verbindung mit Art. 43 und 46 sowie Art. 50 StGB verletzt.
 
2.1 Der Vorwurf an die Vorinstanz, sie habe bei der Begründung der Prognose keine Gesamtbetrachtung vorgenommen, ist nicht stichhaltig. Im angefochtenen Entscheid wird nämlich ausdrücklich auf die ausführlichen Erwägungen des Gerichtspräsidenten zur Täterkomponente (angefochtener Entscheid S. 16 lit. b), die wirtschaftlichen Verhältnisse des Beschwerdeführers und dessen eigene Aussagen (a.a.O., S. 17 Ziff. 3) verwiesen. Daraus ist unter anderem auch ersichtlich, dass der Beschwerdeführer bisher keine Freiheitsstrafe verbüsst hat. Diese Elemente musste die Vorinstanz somit beim Stellen der Prognose nicht mehr wiederholen.
 
Auch bei der konkreten Beurteilung verweist die Vorinstanz ausdrücklich auf die Erwägungen der ersten Instanz (angefochtener Entscheid S. 17 Ziff. 4). Diese führte unter anderem aus, der Beschwerdeführer zeige zum Teil Einsicht, habe er doch angeblich versucht, mit dem Opfer der Körperverletzung Kontakt aufzunehmen, dem Polizisten einen Entschuldigungsbrief geschrieben und in den Aussagen mehrfach betont, die Sache mit der Pump-Action sei nicht angebracht gewesen (kantonale Akten, act. 225 oben). Das Gericht relativierte diese "Einsicht" zu Recht, indem es festhielt, an Schranken verharmlose der Beschwerdeführer die Vorfälle und sehe sich überall in erster Linie als Opfer. Er gebe maximal nur so viel zu, wie ihm effektiv nachgewiesen werden konnte (act. 224 unten). Es erwähnte auch ausdrücklich, der Beschwerdeführer gehe zwar einer geregelten Arbeit nach, habe Weiterbildungspläne und scheine in einem intakten sozialen Umfeld zu leben, doch müsse nach dem Gesamtbild seiner Persönlichkeit mit den aggressiven Auswüchsen von einem erhöhten Rückfallrisiko ausgegangen werden (act. 226 Mitte). Somit kann keine Rede davon sein, die Vorinstanz habe die gerügten Elemente nicht in ihre Gesamtbeurteilung miteinbezogen.
 
Die erste Instanz hatte die sogenannte Mischrechnungspraxis angewandt (unbedingte [neue] Strafe mit gleichzeitigem Verzicht, den bedingten Vollzug der älteren zu widerrufen). Die Vorinstanz verwarf diese Lösung ausdrücklich (angefochtener Entscheid S. 18 unten/19 oben). Mit anderen Worten erachtet die Vorinstanz den Vollzug der 85 Tagessätze nicht als ausreichend, um dem Beschwerdeführer eine positive Prognose stellen zu können. Inwiefern der Vollzug von 3 Monaten Gefängnis (Kombination von Widerruf der alten und bedingter neuer Strafe) daran etwas ändern würde, legt der Beschwerdeführer nicht dar und ist auch nicht ersichtlich. Folglich musste die Vorinstanz dazu auch keine zusätzlichen Erörterungen anstellen.
 
Damit ist auch die Rüge haltlos, die Vorinstanz habe ihren Entscheid ungenügend begründet.
 
2.2 Es trifft zwar zu, dass die Vorinstanz die persönlichen Verhältnisse des Beschwerdeführers nicht bis zum Zeitpunkt des Entscheids gewürdigt hat. Das hat er sich jedoch selbst zuzuschreiben. Dem Beschwerdeführer stand es offen, persönlich oder vertreten durch seinen Anwalt an der Hauptverhandlung teilzunehmen (Akten des Obergerichts, act. 276). Letzterer beliess es bei einem schriftlichen Parteivortrag, in welchem lediglich auf den Sprachaufenthalt in Australien hingewiesen wird. Andere persönliche Verhältnisse bzw. deren Änderung seit dem erstinstanzlichen Urteil machte er nicht geltend (a.a.O., act. 281ff.). Damit erweist sich die Rüge als unbegründet.
 
2.3 Der Beschwerdeführer beanstandet als sachfremdes Element und als Verstoss gegen die Unschuldsvermutung, dass die Vorinstanz ein neues Strafverfahren wegen Fahrens in angetrunkenem Zustand in die Prognosebeurteilung miteinbezogen habe.
 
Die Vorinstanz führt in diesem Zusammenhang aus, die Verweigerung des bedingten Strafvollzugs durch die erste Instanz sei nicht zu beanstanden. Insbesondere aufgrund der einschlägigen Vorstrafen sowie angesichts eines bereits wieder hängigen Verfahrens wegen Führens eines Personenwagens in angetrunkenem Zustand müsse dem Beschwerdeführer zum heutigen Zeitpunkt klar eine ungünstige Prognose gestellt werden (angefochtener Entscheid S. 17 Ziff. 4). Beim Widerruf erwähnt sie als siebten und letzten Punkt, ausserdem sei wieder eine Anzeige wegen Führens eines Personenwagens in angetrunkenem Zustand hängig, wobei der Beschwerdeführer diese vor erster Instanz sogar noch zu verheimlichen versucht habe (a.a.O., S. 19).
 
Diese Formulierungen könnten zum Missverständnis verleiten, die Vorinstanz habe das neuerliche Verfahren als solches als wesentlichen Punkt für die Verweigerung des bedingten Strafvollzugs und den Widerrufsentscheid herangezogen. Betrachtet man die vorinstanzliche Begründung als Ganzes, muss dies jedoch verneint werden. Beim bedingten Strafvollzug verweist die Vorinstanz zunächst auf die Erwägungen der ersten Instanz. Weiter hält sie fest, dass der Beschwerdeführer grundsätzlich leicht erregbar und provozierbar sei, wobei er dann handle, ohne die Konsequenzen vor Augen zu haben, und dass er aus seinen bisherigen Fehlern kaum gelernt habe. Schliesslich hält sie ihm die einschlägigen Vorstrafen vor und erwähnt dabei das neuerliche Verfahren. Beim Widerrufsentscheid listet sie sechs verschiedene Punkte auf, die für den Widerruf sprechen, erwähnt "ausserdem" das neuerliche Strafverfahren und hält zusammenfassend fest, aufgrund seiner generellen Einstellung zum Leben, seiner nicht nachvollziehbaren Haltung seinen Mitmenschen gegenüber, seiner offensichtlichen Gewaltbereitschaft sowie seinem übermässigen Alkoholkonsum müsse von einer ungünstigen Legalprognose ausgegangen werden (angefochtener Entscheid S. 17 Ziff. 3 f. und S. 18 f.).
 
Dass der Beschwerdeführer das neuerliche Verfahren dem Gericht verheimlichen wollte, hat die Vorinstanz zu Recht als negativen Punkt bei der Beurteilung des bedingten Strafvollzugs und beim Widerrufsentscheid berücksichtigt. Denn ein solches Verhalten spricht nicht für Einsicht und Reue, Elemente, die bei der Beurteilung der Prognose ins Gewicht fallen. Ob die Vorinstanz darüber hinaus das neuerliche Verfahren als solches als wesentlich einstufte, ist zumindest fraglich.
 
Aufgrund der Vorstrafen des Beschwerdeführers, seiner einschlägigen Rückfälle während eines laufenden Gerichtsverfahrens, seiner fehlenden Einsicht und der übrigen erwähnten Umstände verletzt die vorinstanzliche Beurteilung jedenfalls im Ergebnis kein Bundesrecht.
 
2.4 Der Beschwerdeführer erachtet die Erwägung der Vorinstanz als nicht nachvollziehbar, dass der teilbedingte Strafvollzug nicht möglich sei, weil der unbedingt vollziehbare Teil die Hälfte der Strafe nicht übersteigen dürfe.
 
Die Vorinstanz kam zu Recht zum Schluss, dass die neue Strafe unbedingt auszusprechen und der bedingte Strafvollzug der alten zu widerrufen sei. Steht dies aber fest, stellt sich die Frage einer teilbedingten Strafe gar nicht mehr.
 
2.5 Soweit der Beschwerdeführer einen Tagessatz von Fr. 30.-- beantragt, ist darauf nicht einzutreten. Denn in der dazugehörigen Begründung (Beschwerdeschrift S. 9 Ziff. 28f.) weicht er vom verbindlichen Sachverhalt ab (Art. 105 Abs. 1 BGG).
 
3.
 
Zusammenfassend ist die Beschwerde abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden kann.
 
Der Beschwerdeführer stellt ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege. Da seine Begehren im Voraus aussichtslos erschienen und er überdies über die erforderlichen Mittel verfügt, ist das Gesuch abzuweisen. Er gibt nämlich selbst an, zurzeit zu 80 % zu arbeiten, und dass ihn der Vorbereitungskurs für die Fachhochschule monatlich mit ca. Fr. 400.-- belaste.
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.
 
2.
 
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird abgewiesen.
 
3.
 
Die Gerichtskosten von Fr. 2'000.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.
 
4.
 
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Bern, 2. Strafkammer, schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 3. März 2009
 
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:
 
Favre Borner
 
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