BGer 8C_576/2009 | |||
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BGer 8C_576/2009 vom 28.10.2009 | |
Bundesgericht
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Tribunal fédéral
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Tribunale federale
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{T 0/2}
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8C_576/2009
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Urteil vom 28. Oktober 2009
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I. sozialrechtliche Abteilung
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Besetzung
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Bundesrichter Ursprung, Präsident,
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Bundesrichterinnen Leuzinger, Niquille,
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Gerichtsschreiber Grunder.
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Parteien
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A.________, vertreten durch
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Rechtsanwalt Peter Wicki,
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Beschwerdeführer,
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gegen
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IV-Stelle Luzern, Landenbergstrasse 35, 6005 Luzern,
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Beschwerdegegnerin.
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Gegenstand
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Invalidenversicherung,
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Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Luzern
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vom 18. Mai 2009.
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Sachverhalt:
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A.
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Die seit Jahren an einem chronischen lumbospondylogenen Schmerzsyndrom leidende A.________ (Jahrgang 1964) bezog ab 1. März 2000 eine halbe Invalidenrente sowie eine Kinderrente für den 1985 geborenen Sohn (Verfügung der IV-Stelle Luzern vom 4. Oktober 2000). Ein Gesuch um Erhöhung der Invalidenrente lehnte die IV-Stelle ab (Verfügung vom 16. Juni 2004 und Einspracheentscheid vom 17. Oktober 2006). Am 9. Juni 2007 gebar die Versicherte eine Tochter. Die IV-Stelle leitete ein Revisionsverfahren ein und kam unter anderem aufgrund einer Haushaltabklärung an Ort und Stelle vom 20. November 2007 zum Schluss, dass die Versicherte ohne Gesundheitsschaden anstelle der bislang angenommenen vollzeitlichen künftig einer hälftigen Erwerbstätigkeit nachgehen würde. Gestützt darauf ermittelte sie einen neu nach der gemischten Methode zu bestimmenden Invaliditätsgrad von 12 %, verneinte mit Beginn ab 1. Juli 2007 einen Rentenanspruch (Verfügung vom 29. Februar 2008) und forderte die für die Monate Juli und August 2007 ausgerichteten Rentenleistungen - unter teilweiser Verrechnung mit IV-Rentennachzahlungen an den Ehemann - wegen Meldepflichtverletzung zurück (Verfügung vom 28. März 2008).
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B.
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Die gegen die Verfügungen vom 29. Februar und 28. März 2008 eingereichte Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern ab (Entscheid vom 18. Mai 2009).
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C.
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Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten lässt A.________ beantragen, der vorinstanzliche Entscheid sei aufzuheben; eventualiter sei festzustellen, dass keine Meldepflichtverletzung vorliege und damit keine Rückforderung gerechtfertigt sei; der Beschwerde sei aufschiebende Wirkung zu erteilen, soweit damit allenfalls ungerechtfertigt bezogene Rentenleistungen zurückgefordert würden. Ferner wird um unentgeltliche Rechtspflege ersucht.
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Die IV-Stelle Luzern schliesst unter Zustellung der "Original-Akten" auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung.
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Erwägungen:
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1.
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Vorab ist zu prüfen, ob die Rüge der Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör durchdringt, da diesfalls der angefochtene Entscheid ungeachtet der Erfolgsaussichten der Beschwerde in der Sache selbst aufzuheben ist (BGE 132 V 387 E. 5.1 S. 390).
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2.
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2.1
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2.1.1 Die Beschwerdeführerin macht unter anderem geltend, bei Durchsicht der Akten, die dem kantonalen Gericht von der IV-Stelle vorgelegt worden seien, habe sie festgestellt, dass die Nummerierung der Belege nicht mit den ihr zugestellten Dokumenten übereinstimme. Weit schwerer wiege, dass anscheinend Aktenstücke in den kantonalen Gerichtsakten fehlten. Sollte sich dieser Punkt erhärten, so wäre anzunehmen, dass der Vorinstanz nicht sämtliche relevanten Unterlagen zur Verfügung standen, weshalb der angefochtene Entscheid aus diesem Grund aufzuheben wäre.
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2.1.2 Die IV-Stelle führt in der Vernehmlassung aus, im vorliegenden Verfahren gehe es darum, ob im massgeblichen Vergleichszeitraum (vom 4. Oktober 2000 bis 29. Februar 2008) eine den Invaliditätsgrad und damit den Rentenanspruch beeinflussende wesentliche Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen eingetreten sei. Die nach dem ersten, mit Verfügung vom 16. April 1998 abgelehnten Rentengesuch vom 10. Februar 1997 angelegten Akten seien dem kantonalen Gericht nicht zugestellt worden, weil sich daraus keine für die Entscheidfindung wesentliche Schlussfolgerungen ziehen liessen.
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2.2
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2.2.1 Laut KIENER/KÄLIN, Grundrechte, Bern 2007, S. 423 unten (vgl. auch H. KELLER, Garantien fairer Verfahren und des rechtlichen Gehörs, in: Handbuch der Grundrechte, Detlef Merten/Hans-Jürgen Papier [Hrsg.], 2007, S. 653 oben) setzt das Recht auf Akteneinsicht als einem wesentlichen Teilgehalt des in Art. 29 Abs. 2 BV verankerten Anspruchs auf rechtliches Gehör voraus, dass sämtliche im Rahmen des Verfahrens vorgenommenen Erhebungen aktenkundig gemacht werden. Aus dem Akteneinsichtsrecht ergibt sich deshalb umgekehrt auch ein Anspruch auf Aktenvollständigkeit (vgl. BGE 130 II 473 E. 4.1 S. 477, 129 I 85 E. 4.1 S. 88, 115 V 297 E. 2e S. 302). Gemäss BGE 115 V 297 E. 2g/bb S. 303 kommt es, wenn der Umfang des Akteneinsichtsrechts zu bestimmen ist, auf die im konkreten Fall objektive Bedeutung eines Aktenstücks für die verfügungswesentliche Sachverhaltsfeststellung an, und nicht auf die Einstufung des Beweismittels durch die Verwaltung als internes Papier. Die Vorlegungspflicht hat sich demnach nach der Relevanz der umstrittenen Papiere zu richten.
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2.2.2 Der Gesetzgeber hat die Vorlegungspflicht der Verwaltung für die von ihr anzulegenden Akten in Art. 47 Abs. 1 lit. c ATSG im Verhältnis zu den kantonalen Gerichten positivrechtlich verankert. Danach steht die Akteneinsicht (von einer hier nicht interessierenden Ausnahme abgesehen) allen Behörden zu, die für Beschwerden gegen auf Grund eines Sozialversicherungsgesetzes erlassene Verfügungen zuständig und insoweit zur Erfüllung dieser Aufgabe auf die dazu erforderlichen Daten angewiesen sind.
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2.3 Der Auffassung der IV-Stelle kann mit Blick auf diese Darlegungen nicht gefolgt werden. In der Sache ist streitig, ob die Beschwerdeführerin auch nach der Geburt der Tochter am 9. Juni 2007 vollzeitlich erwerbstätig wäre. Dabei handelt es sich um eine hypothetische Beurteilung, die auch hypothetische Willensentscheidungen der versicherten Person berücksichtigen muss, welche indessen als innere Tatsachen einer direkten Beweisführung nicht zugänglich sind und in aller Regel aus äusseren Indizien erschlossen werden müssen. Praxisgemäss ist daher die Frage, in welchem Ausmass die versicherte Person ohne gesundheitliche Beeinträchtigung erwerbstätig wäre, mit Rücksicht auf die gesamten Umstände, so die persönlichen, familiären, sozialen und erwerblichen Verhältnisse, allfällige Erziehungs- und Betreuungsaufgaben gegenüber Kindern, das Alter sowie die beruflichen Fähigkeiten und Begabungen, zu beantworten (BGE 130 V 393 E. 3.3 S. 396 und 125 V 146 E. 2c S. 150 mit Hinweisen). Demnach ist nicht einzusehen, weshalb die seit der ersten Anmeldung zum Leistungsbezug bei der Invalidenversicherung vom 10. Februar 1997 bis Erlass der Ablehnungsverfügung vom 16. April 1998 angelegten Akten keine aufschlussreichen Hinweise zur materiell streitigen Frage des Statuswechsels geben können. Die IV-Stelle verletzte nach dem Gesagten in schwerwiegender Weise den Anspruch auf rechtliches Gehör, indem sie dem kantonalen Gericht, ohne dieses davon in Kenntnis zu setzen, möglicherweise entscheidwesentliche Dokumente vorenthielt.
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2.4
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2.4.1 Nach der Rechtsprechung kann eine nicht besonders schwerwiegende Verletzung des rechtlichen Gehörs ausnahmsweise als geheilt gelten, wenn die betroffene Person die Möglichkeit erhält, sich vor einer Beschwerdeinstanz zu äussern, die sowohl den Sachverhalt wie die Rechtslage frei überprüfen kann. Unter dieser Voraussetzung ist darüber hinaus - im Sinne einer Heilung des Mangels - selbst bei einer schwerwiegenden Verletzung des Gehörs von einer Rückweisung der Sache an die Vorinstanz abzusehen, wenn und soweit die Rückweisung zu einem formalistischen Leerlauf und damit zu unnötigen Verzögerungen führen würde, die mit dem (der Anhörung gleichgestellten) Interesse der betroffenen Partei an einer beförderlichen Beurteilung der Sache nicht zu vereinbaren wären (BGE 133 I 201 E. 2.2 S. 204, 132 V 387 E. 5.1 S. 390 mit Hinweis).
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2.4.2 Die vorinstanzlichen Feststellungen zum Sachverhalt beruhen, ohne dass dies für das kantonale Gericht ersichtlich war, auf unvollständigen Akten. Das Bundesgericht kann zwar grundsätzlich eine Sachverhaltsfeststellung, die auf einer Rechtsverletzung beruht, berichtigen oder ergänzen (Art. 105 Abs. 2 BGG). Die rechtsuchende Person hat aber grundsätzlich Anspruch auf Einhaltung des Instanzenzugs (vgl. Urteil 8C_241/2007 vom 9. Juni 2008 E. 1.3.2 mit Hinweisen). Eine Heilung des Verfahrensmangels im letztinstanzlichen Prozess ist daher nicht angezeigt. Der angefochtene Entscheid ist aufzuheben und der Fall zur Neuprüfung des Sachverhalts an das kantonale Gericht zurückzuweisen.
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3.
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Die Gerichtskosten sind gemäss Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG der unterliegenden IV-Stelle (vgl. BGE 132 V 215 E. 6.1 S. 235) aufzuerlegen. Sie hat der Beschwerdeführerin ausserdem eine Parteientschädigung auszurichten (Art. 68 Abs. 2 BGG). Damit wird deren Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege gegenstandslos.
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Demnach erkennt das Bundesgericht:
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1.
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Die Beschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, dass der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Luzern vom 18. Mai 2009 aufgehoben und die Sache an die Vorinstanz zurückgewiesen wird, damit sie im Sinne der Erwägungen über die Beschwerde gegen die Verfügungen der IV-Stelle Luzern vom 29. Februar und 28. März 2008 neu entscheide.
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2.
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Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.
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3.
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Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2800.- zu entschädigen.
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4.
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Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Luzern und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
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Luzern, 28. Oktober 2009
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Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
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des Schweizerischen Bundesgerichts
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Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:
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Ursprung Grunder
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