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Informationen zum Dokument  BGer 8C_316/2018  Materielle Begründung
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BGer 8C_316/2018 vom 23.10.2018
 
 
8C_316/2018
 
 
Urteil vom 23. Oktober 2018
 
 
I. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Maillard, Präsident,
 
Bundesrichter Wirthlin, Bundesrichterin Viscione,
 
Gerichtsschreiber Hochuli.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
IV-Stelle des Kantons Zürich, Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
 
Beschwerdeführerin,
 
gegen
 
Beschwerdegegner.
 
Gegenstand
 
Invalidenversicherung (medizinische Massnahme),
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 23. Februar 2018 (IV.2015.01242).
 
 
Sachverhalt:
 
A. Die Mutter des 2006 geborenen A.________ meldete ihren Sohn am 1. April 2015 unter Hinweis auf "ADHS" bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Nach Abklärungen und durchgeführtem Vorbescheidverfahren verneinte die IV-Stelle des Kantons Zürich mit Verfügung vom 2. November 2015 den Anspruch auf medizinische Massnahmen im Rahmen des Geburtsgebrechens gemäss Ziff. 404 GgV Anhang.
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B. In Gutheissung der Beschwerde von A.________ hob das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit Entscheid vom 23. Februar 2018 die angefochtene Verfügung auf und verpflichtete die IV-Stelle, dem Versicherten die notwendigen medizinischen Massnahmen gemäss Art. 13 IVG (Geburtsgebrechen Ziff. 404 GgV Anhang) zu erbringen.
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C. Die IV-Stelle des Kantons Zürich führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Rechtsbegehren, der Entscheid vom 23. Februar 2018 sei aufzuheben und die Verfügung vom 2. November 2015 zu bestätigen.
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Während A.________ auf Beschwerdeabweisung, eventualiter auf Rückweisung an die Vorinstanz zwecks Einholung eines spezialärztlichen Gutachtens, schliesst, verzichten die Vorinstanz und das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) auf eine Vernehmlassung.
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Erwägungen:
 
1. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist folglich weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann sie mit einer von der Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen. Immerhin prüft das Bundesgericht, unter Berücksichtigung der allgemeinen Pflicht zur Begründung der Beschwerde (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), grundsätzlich nur die geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 141 V 234 E. 1 S. 236 mit Hinweisen).
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2. Strittig ist, ob die Vorinstanz zu Recht ein Geburtsgebrechen im Sinne von Ziff. 404 GgV Anhang anerkannt und für dessen Behandlung einen Anspruch auf medizinische Massnahmen nach Art. 13 IVG bejaht hat.
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3. Die Beschwerdeführerin reicht vor Bundesgericht eine Stellungnahme vom 27./30. März 2018 des Prof. Dr. med. B.________, Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin vom Regionalen Ärztlichen Dienst (RAD) der IV-Stelle des Kantons Zürich, ein. Diese ist als echtes Novum von vornherein unzulässig (Art. 99 Abs. 1 BGG; BGE 143 V 19 E. 1.2 S. 23 f.; 140 V 543 E. 3.2.2.2 S. 548; 139 III 120 E. 3.1.2 S. 123).
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Erwägung 4
 
4.1. Nach Art. 13 IVG haben Versicherte bis zum vollendeten 20. Altersjahr Anspruch auf die zur Behandlung von Geburtsgebrechen (Art. 3 Abs. 2 ATSG) notwendigen medizinischen Massnahmen (Abs. 1). Der Bundesrat bezeichnet die Gebrechen, für welche diese Massnahmen gewährt werden. Er kann die Leistung ausschliessen, wenn das Gebrechen von geringfügiger Bedeutung ist (Abs. 2). Der Bundesrat hat von dieser Kompetenz Gebrauch gemacht und in der Liste im Anhang zur einschlägigen Verordnung die in Betracht fallenden Geburtsgebrechen aufgeführt (Art. 1 Abs. 2 GgV i.V.m. Art. 3 IVV).
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4.2. Als Geburtsgebrechen im Sinne von Art. 13 IVG gelten Gebrechen, die bei vollendeter Geburt bestehen. Die blosse Veranlagung zu einem Leiden gilt nicht als Geburtsgebrechen. Der Zeitpunkt, in dem ein Geburtsgebrechen als solches erkannt wird, ist unerheblich (Art. 1 Abs. 1 GgV). Geburtsgebrechen im Sinne von Ziff. 404 GgV Anhang sind "Störungen des Verhaltens bei Kindern mit normaler Intelligenz, im Sinne krankhafter Beeinträchtigung der Affektivität oder Kontaktfähigkeit, bei Störungen des Antriebes, des Erfassens, der perzeptiven Funktionen, der Wahrnehmung, der Konzentrationsfähigkeit sowie der Merkfähigkeit [ADHS; früher 'psychoorganisches Syndrom', POS], sofern sie mit bereits gestellter Diagnose als solche vor der Vollendung des 9. Altersjahres auch behandelt worden sind" (SVR 2017 IV Nr. 26 S. 73, 9C_418/2016 E. 4).
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4.3. Zutreffend verwies das kantonale Gericht auf Anhang 7 des vom BSV herausgegebenen Kreisschreibens über die medizinischen Eingliederungsmassnahmen der Invalidenversicherung (KSME) in der ab 1. März 2012 gültigen Fassung (nachfolgend: KSME-Anhang 7). Nach der Verwaltungspraxis gelten die Voraussetzungen von Ziff. 404 GgV Anhang als erfüllt, wenn vor Vollendung des 9. Altersjahres mindestens Störungen des Verhaltens im Sinne krankhafter Beeinträchtigung der Affektivität oder der Kontaktfähigkeit, des Antriebes, des Erfassens (perzeptive, kognitive oder Wahrnehmungsstörungen), der Konzentrationsfähigkeit sowie der Merkfähigkeit ausgewiesen sind. Diese Symptome müssen kumulativ nachgewiesen sein, wobei es genügt, wenn sie nicht alle gleichzeitig, sondern erst nach und nach auftreten (vgl. Ziff. 2.1 KSME-Anhang 7). Das frühere Eidgenössische Versicherungsgericht hat gestützt auf die ständige Rechtsprechung zu den früher gültigen Verordnungsbestimmungen und Verwaltungsweisungen einerseits die Gesetzmässigkeit der Ziff. 404 GgV Anhang (in der seit 1. Januar 1986 geltenden Fassung) und anderseits die Verordnungskonformität der seit 1. Juni 1986 im Wesentlichen unveränderten Verwaltungsweisungen (Rz. 404.5 KSME) bestätigt (BGE 122 V 113 E. 1b S. 114 f.; SVR 2005 IV Nr. 2 S. 8, I 756/03 E. 3.1; Urteil 9C_932/2010 vom 11. Januar 2011 E. 2.2). Es wird nicht geltend gemacht und ist nicht ersichtlich, dass sich daran zwischenzeitlich etwas geändert hätte.
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4.4. Nach ständiger Rechtsprechung handelt es sich bei der objektiven Bedingung "mit bereits gestellter Diagnose als solche vor der Vollendung des 9. Altersjahres auch behandelt" um zwei kumulativ zu erfüllende Anspruchsvoraussetzungen im Sinne von Abgrenzungskriterien, um zu entscheiden, ob die Störung angeboren oder erworben ist. Das Fehlen von wenigstens einem der beiden Merkmale begründet die unwiderlegbare Rechtsvermutung, es liege kein Geburtsgebrechen im Rechtssinne vor. Dabei genügt weder eine vor dem Stichtag festgestellte Behandlungsbedürftigkeit noch die Anmeldung für eine im Sinne von Ziff. 404 Anhang GgV anerkannte Behandlung, um eine solche anzunehmen (BGE 122 V 113 E. 3c/bb und E. 4c S. 122 ff.; SVR 2017 IV Nr. 26 S. 73, 9C_418/2016 E. 4 mit Hinweisen).
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4.5. Im eben zitierten Urteil hat das Bundesgericht bestätigt, dass Ziff. 404 GgV Anhang gesetz- und verfassungsmässig ist (SVR 2017 IV Nr. 26 S. 73, 9C_418/2016 E. 6 mit Hinweis auf BGE 122 V 113).
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Erwägung 5
 
5.1. Fest steht, dass beim Beschwerdegegner im April 2015 eine einfache Aktivitäts- und Hyperaktivitätsstörung (ICD-10 F90.0) diagnostiziert wurde. Auch die Behandlungsbedürftigkeit der Symptomatik einer ADHS vor Vollendung des 9. Altersjahres ist unbestritten.
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5.2. Strittig ist demgegenüber die Zuordnung des Leistungsträgers (vgl. dazu Ziff. 1.1 KSME-Anhang 7). Ein Geburtsgebrechen gemäss Ziff. 404 GgV Anhang ist nur dann anzuerkennen und die entsprechend notwendigen medizinischen Massnahmen sind nur dann nach Art. 13 IVG von der Invalidenversicherung zu übernehmen, wenn zusätzlich zur diagnostizierten Verhaltensstörung des normal intelligenten Kindes auch sämtliche Teilleistungsstörungen kumulativ ausgewiesen sind (vgl. E. 4.3 hievor).
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5.2.1. Praxisgemäss ist nicht in Frage zu stellen, dass die Definition des Geburtsgebrechens im Sinne von Ziff. 404 GgV Anhang weit über das Vorliegen eines ADHS hinaus geht, indem zusätzlich weitere Teilleistungsstörungen (vgl. E. 4.3 hievor) diagnostiziert werden müssen. Die Diagnose kann gemäss dem aktuellen Wissensstand bereits bei vierjährigen oder noch jüngeren Kindern gestellt werden. Es handelt sich um schwere Störungen des Verhaltens, die so früh als möglich behandelt werden müssen, damit das Kind z.B. im Kindergarten und in der Schule integriert werden kann. Die Störungen sind so schwer, dass sie sich bereits weit vor dem vollendeten 9. Altersjahr bemerkbar machen und mit (neuro-) psychologischen Testverfahren und weiteren (neuro-) pädiatrischen und/oder kinderpsychiatrischen Untersuchungen festgehalten werden können. Insofern grenzt die Alterslimite (vor Vollendung des 9. Altersjahres) die eindeutigen, schwereren und gut diagnostizierbaren Verhaltensstörungen in Form eines ADHS mit Teilleistungsstörungen von den weniger schweren, mit einem blossen ADHS auftretenden Störungen ab (vgl. SVR 2017 IV Nr. 26 S. 73, 9C_418/2016 E. 6.2).
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5.2.2. Das kantonale Gericht hat mit Blick auf die aktenkundig dokumentierten gesundheitlichen Einschränkungen alle Voraussetzungen für die Anerkennung eines Geburtsgebrechens im Sinne von Ziff. 404 GgV Anhang als erfüllt betrachtet. Folglich sprach es dem Beschwerdegegner einen Anspruch auf Übernahme der für die Behandlung dieses Geburtsgebrechens notwendigen medizinischen Massnahmen nach Art. 13 IVG zu. Die Beschwerde führende IV-Stelle macht einzig geltend, die Vorinstanz habe das Kriterium der zwingend kumulativ erforderlichen Merkfähigkeitsstörung (Ziff. 2.1.5 KSME-Anhang 7) zu Unrecht bejaht.
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5.2.2.1. Laut Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz haben sowohl die Fachärztin FMH für Kinder- und Jugendmedizin Dr. med. C.________, als auch die Schulpsychologin D.________, eine Merkfähigkeitsschwäche erkannt. Die Testergebnisse lagen jedoch innerhalb des - wenn auch unteren - Normbereichs. Die Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie Dr. med. E.________ führte im Frühjahr 2015 unter anderem den Verbalen Lern- und Merkfähigkeitstest (VLMT) durch. Im ersten Durchgang des VLMT zeigte der Beschwerdegegner eine durchschnittliche Leistung. Gemäss angefochtenem Entscheid steht fest, dass sämtliche Testergebnisse der Merkfähigkeit noch im Normbereich lagen.
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5.2.2.2. Demnach fehlt es an einer unter der Norm liegenden Merkfähigkeitsleistung. Soweit das kantonale Gericht unter den gegebenen Umständen von der festgestellten Merkfähigkeitsschwäche innerhalb des Normbereichs auf eine spezifische Teilleistungsstörung der Merkfähigkeit schloss, verletzte es Bundesrecht. Hat es demzufolge zu Unrecht die Erfüllung sämtlicher Voraussetzungen für die Anerkennung des ADHS als Geburtsgebrechen bejaht, ist der angefochtene Entscheid aufzuheben und die Verfügung der IV-Stelle vom 2. November 2015 zu bestätigen.
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5.2.3. Hat die Beschwerdeführerin zu Recht eine spezifische Teilleistungsstörung der Merkfähigkeit und damit die Anerkennung eines Geburtsgebrechens nach Ziff. 404 GgV Anhang verneint, bleibt es dabei, dass die Invalidenversicherung für die Behandlung der diagnostizierten ADHS nicht leistungspflichtig ist.
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6. Dem Verfahrensausgang entsprechend sind die Gerichtskosten dem unterliegenden Beschwerdegegner aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG).
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 Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 23. Februar 2018 wird aufgehoben und die Verfügung der IV-Stelle des Kantons Zürich vom 2. November 2015 bestätigt.
 
2. Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdegegner auferlegt.
 
3. Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten des vorangegangenen Verfahrens an das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich zurückgewiesen.
 
4. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 23. Oktober 2018
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Maillard
 
Der Gerichtsschreiber: Hochuli
 
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