BGer 6B_1160/2021 | |||
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BGer 6B_1160/2021 vom 31.01.2022 | |
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6B_1160/2021 |
Urteil vom 31. Januar 2022 |
Strafrechtliche Abteilung | |
Besetzung
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Bundesrichterin Jacquemoud-Rossari, Präsidentin,
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Bundesrichter Muschietti,
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Bundesrichter Hurni,
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Gerichtsschreiberin Lustenberger.
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Verfahrensbeteiligte | |
A.________,
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vertreten durch Rechtsanwalt Roger Gebhard,
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Beschwerdeführer,
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gegen
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Staatsanwaltschaft des Kantons Schaffhausen, Bahnhofstrasse 29, 8200 Schaffhausen,
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Beschwerdegegnerin.
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Gegenstand
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Aufschub des Strafvollzugs; Nichteintreten auf Berufung, Rechtsschutzinteresse,
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Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Schaffhausen vom 31. August 2021 (50/2020/2).
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Sachverhalt: | |
A.
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A.________ wurde vom Kantonsgericht Schaffhausen am 15. Februar 2001 und vom Bezirksgericht Andelfingen am 6. November 2015 je zu einer Freiheitsstrafe von 24 Monaten verurteilt. Der Strafvollzug wurde jeweils zugunsten einer ambulanten Massnahme aufgeschoben, wobei das Bezirksgericht Andelfingen die vom Kantonsgericht Schaffhausen angeordnete Massnahme aufhob und seinerseits wiederum eine ambulante Behandlung anordnete.
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Das Kantonsgericht Schaffhausen stellte mit Urteil vom 5. Dezember 2019 fest, dass A.________ den Tatbestand der versuchten vorsätzlichen Tötung im Zustand nicht selbstverschuldeter Schuldunfähigkeit erfüllt hat. Es hob die mit Urteil des Bezirksgerichts Andelfingen angeordnete ambulante Massnahme auf und ordnete stattdessen eine stationäre therapeutische Massnahme an.
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B.
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Gegen dieses Urteil erhob A.________ Berufung und beantragte unter anderem, "es sei durch das Berufungsgericht im Urteilsdispositiv festzuhalten bzw. anzuordnen, dass die im vorinstanzlichen Urteil vom 5. Dezember 2019 angeordnete stationäre therapeutische Massnahme an die Stelle des Vollzugs der aufgeschobenen Strafen gemäss den Urteilen des Bezirksgerichts Andelfingen vom 6. November 2015 und des Kantonsgerichts Schaffhausen vom 15. Februar 2001 tritt, der Vollzug jener Strafen also zugunsten der stationären Massnahme aufgeschoben bleibt." Das Obergericht des Kantons Schaffhausen trat auf die Berufung nicht ein (Dispositivziffer 1) und hielt fest, es obliege dem Kantonsgericht, die erforderlichen Mitteilungen und Handlungen vorzunehmen (Dispositivziffer 2).
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C.
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A.________ wendet sich mit Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht und stellt folgenden Antrag: "Es sei das angefochtene Urteil des Obergerichts des Kantons Schaffhausen vom 31. August 2021 in Gutheissung der vorliegenden Beschwerde in Bezug auf Dispositivziffer 1 und 2 teilweise aufzuheben, auf die Berufung in Bezug auf Antrag Ziffer 1 gemäss Berufungsbegründung vom 6. Mai 2020 (...) einzutreten und entsprechend diesem Antrag im Urteilsdispositiv festzuhalten (eventualiter anzuordnen), dass die im Urteil des Kantonsgerichts Schaffhausen (erste Instanz) vom 5. Dezember 2019 angeordnete stationäre therapeutische Massnahme an die Stelle der aufgeschobenen Strafen gemäss den Urteilen des Bezirksgerichts Andelfingen vom 6. November 2015 und des Kantonsgerichts Schaffhausen vom 15. Februar 2001 tritt und dementsprechend der Vollzug jener Strafen zugunsten der stationären Massnahme aufgeschoben bleibt. Eventualiter sei die Sache nach (teilweiser) Aufhebung des angefochtenen Urteils zur neuen Entscheidung im beantragten Sinn an die Vorinstanz zurückzuweisen."
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In prozessualer Hinsicht ersucht A.________ das Bundesgericht um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege und Verbeiständung.
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Erwägungen: | |
1.
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Zu prüfen ist, ob die Vorinstanz zu Recht auf die Berufung nicht eingetreten ist.
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1.1. Die Vorinstanz ist der Ansicht, der Beschwerdeführer sei durch das erstinstanzliche Urteil nicht beschwert. Daran, dass der Vollzug der ausgesprochenen Strafen, wie er es festgestellt haben möchte, aufgeschoben bleibt, bestünden keine Zweifel. Bereits von Gesetzes wegen gehe der Vollzug einer stationären therapeutischen Massnahme dem Vollzug der Freiheitsstrafe voraus (Art. 57 Abs. 2 StGB). Davon abgesehen werde auch aus den Erwägungen der Erstinstanz deutlich, dass die nunmehr angeordnete stationäre therapeutische Massnahme die bisherige ambulante Massnahme substituiere. Die Erstinstanz habe auf eine stationäre Massnahme erkannt, da sie der Ansicht gewesen sei, eine ambulante Behandlung reiche nicht aus, um der Gefahr weiterer, mit dem Zustand des Beschwerdeführers in Zusammenhang stehender Verbrechen und Vergehen zu begegnen. Die Möglichkeit, Massnahmen auf diese Weise auszutauschen, werde vom Gesetzgeber ausdrücklich vorgesehen. Der Umstand, dass im Dispositiv des erstinstanzlichen Urteils nicht explizit festgehalten werde, dass die stationäre Massnahme an die Stelle des Strafvollzugs tritt und die Strafen aufgeschoben bleiben, beschwere den Beschwerdeführer deshalb nicht.
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1.2. Dem hält der Beschwerdeführer entgegen, die Erstinstanz habe sich hinsichtlich der Feststellung, dass der Vollzug der Strafen zugunsten der stationären Massnahme aufgeschoben bleibe, ausdrücklich für unzuständig erklärt. Damit sei es, da mit der erstinstanzlichen Urteilsbegründung nicht vereinbar, willkürlich, in dieses Urteil auf dem Weg der Auslegung einen im Urteilsdispositiv nicht festgehaltenen Entscheid über die Frage des Strafaufschubs hineinzuinterpretieren. Sofern der Vollzug der Strafen nicht formell zugunsten der stationären Massnahme aufgeschoben werde, greife zudem Art. 62b Abs. 3 StGB nicht und wären die Strafen nach erfolgreicher Beendigung der stationären Massnahme gemäss Art. 63b Abs. 2 StGB noch zu vollziehen. Er habe daher ein eminentes rechtlich geschütztes Interesse an der beantragten formellen Feststellung.
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1.3. Das Gesetz knüpft die Berechtigung zur Erhebung eines Rechtsmittels an das Vorhandensein eines rechtlich geschützten Interesses an der Aufhebung oder Änderung des angefochtenen Entscheids (Art. 382 Abs. 1 StPO). Das Rechtsschutzinteresse ergibt sich aus dem Dispositiv, nicht aus der Begründung (Urteil 6B_492/2016 vom 12. Januar 2017 E. 1.2 mit Hinweis). Es muss aktuell und praktisch sein. Mit diesem Erfordernis soll sichergestellt werden, dass die Gerichte konkrete und nicht bloss theoretische Fragen entscheiden. Das Interesse hat zudem rechtlicher Natur zu sein, rein faktische Betroffenheit oder die blosse Aussicht auf ein künftiges rechtliches Interesse genügen nicht. Eine Partei, die durch den angefochtenen Entscheid nicht konkret beschwert ist, ist demzufolge nicht legitimiert, ein Rechtsmittel zu ergreifen (BGE 144 IV 81 E. 2.3.1 mit Hinweisen).
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1.4. Der angefochtene Nichteintretensentscheid hält vor Bundesrecht stand. In seiner Berufung ersuchte der Beschwerdeführer um ausdrückliche Feststellung, dass die im erstinstanzlichen Urteil angeordnete stationäre therapeutische Massnahme an die Stelle der aufgeschobenen früheren Strafen tritt und der Vollzug dieser Strafen zugunsten der Massnahme aufgeschoben bleibt. Wie die Vorinstanz richtig erkennt, ergibt sich dies aber schon aus dem Gesetz. Gemäss Art. 57 Abs. 2 StGB geht der Vollzug einer Massnahme nach Art. 59-61 StGB einer zugleich ausgesprochenen sowie einer durch Widerruf oder Rückversetzung vollziehbaren Freiheitsstrafe voraus. Auch das Bundesgericht betont mit Verweis auf diese Bestimmung regelmässig die Vollstreckungsreihenfolge "Massnahme vor Strafe" (ausführlich: 136 IV 156 E. 3.1, ferner: BGE 142 IV 105 E. 5.8.1 S. 117; 141 IV 236 E. 3.5; Urteile 6B_647/2017 vom 10. August 2017 E. 2.4; 6B_991/2014 vom 2. Februar 2015 E. 2.5). Das Gesetz bestimmt weiter, dass bei erfolgreichem Abschluss einer therapeutischen Massnahme eine allfällige Reststrafe nicht mehr vollzogen wird (Art. 62b Abs. 1 und 3 sowie Art. 63b Abs. 1 StGB). Kommt es zu einem Vollzug der Reststrafe (Art. 62c Abs. 2 oder Art. 63b Abs. 2 StGB), ist der mit der Massnahme verbundene Freiheitsentzug auf die Strafe anzurechnen (Art. 57 Abs. 3 StGB). Nach dem Gesagten ist das vom Beschwerdeführer berufungshalber verfolgte Ansinnen im Gesetz bereits so vorgesehen. Einer formellen richterlichen Feststellung bedarf es hierfür nicht. An der Festhaltung eines gesetzlich vorgesehenen Mechanismus besteht kein rechtlich geschütztes Interesse. Daran ändert nichts, dass die Strafen und die Massnahme vorliegend nicht gleichzeitig ausgesprochen wurden, sondern das Kantonsgericht die laufende ambulante Massnahme gestützt auf Art. 63a Abs. 3 StGB aufhob und an deren Stelle (unter Fortbestand der früheren, aufgeschobenen Freiheitsstrafen) eine stationäre Massnahme anordnete. Die dargestellten Mechanismen (nach dem Grundsatz "Massnahme vor Strafe") werden auch greifen, wenn die neu verhängte stationäre Massnahme irgendwann aufzuheben sein wird. Ein aktuelles praktisches Rechtsschutzinteresse könnte sich erst ergeben, wenn sich die zuständige Behörde bei Aufhebung der stationären Massnahme nicht an die gesetzliche Konzeption halten und zu Unrecht den Vollzug der aufgeschobenen Strafen anordnen würde. Derzeit fehlt es dem Beschwerdeführer hinsichtlich seines Berufungsbegehrens jedoch an der erforderlichen Legitimation.
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2.
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Die Beschwerde erweist sich aus den dargelegten Gründen als unbegründet und ist abzuweisen. Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird in Anwendung von Art. 64 BGG wegen Aussichtslosigkeit der Beschwerde abgewiesen. Folglich sind die Gerichtskos ten ausgangsgemäss dem Beschwerdeführer aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Seiner finanziellen Situation wird mit reduzierten Gerichtskosten Rechnung getragen (Art. 65 Abs. 2 BGG).
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Demnach erkennt das Bundesgericht: | |
1. Die Beschwerde wird abgewiesen.
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2.
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Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird abgewiesen.
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3.
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Die Gerichtskosten von Fr. 1'200.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.
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4.
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Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Schaffhausen schriftlich mitgeteilt.
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Lausanne, 31. Januar 2022
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Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
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des Schweizerischen Bundesgerichts
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Die Präsidentin: Jacquemoud-Rossari
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Die Gerichtsschreiberin: Lustenberger
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