BGer 9C_646/2021 | |||
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BGer 9C_646/2021 vom 24.03.2022 | |
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9C_646/2021 |
Urteil vom 24. März 2022 |
II. sozialrechtliche Abteilung | |
Besetzung
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Bundesrichter Parrino, Präsident,
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Bundesrichter Stadelmann,
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Bundesrichterin Moser-Szeless,
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Gerichtsschreiberin N. Möckli.
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Verfahrensbeteiligte | |
A.________,
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vertreten durch Procap Schweiz,
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Beschwerdeführerin,
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gegen
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IV-Stelle Appenzell Ausserrhoden,
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Neue Steig 15, 9100 Herisau,
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Beschwerdegegnerin.
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Gegenstand
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Invalidenversicherung (Invalidenrente; Frühinvalidität),
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Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts Appenzell Ausserrhoden vom 26. Oktober 2021
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(O3V 20 47).
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Sachverhalt: | |
A.
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A.a. Die 1991 geborene A.________ leidet an einer angeborenen Rolando-Epilepsie. Die Invalidenversicherung (IV) unterstützte sie deshalb bei der erstmaligen beruflichen Ausbildung, unter anderem wurde ihr Kostengutsprache für ein Vorlehrjahr und anschliessend für eine erstmalige berufliche Ausbildung zur Küchenangestellten EBA vom 1. Juni 2008 bis 31. Juli 2010 gewährt. Vom 7. Juli bis 4. August 2009 wurde A.________ in der psychiatrischen Klinik B.________ behandelt. Nach dem auf eigenen Wunsch der Versicherten erfolgten Klinikaustritt kam es am 21. Oktober 2009 zur Auflösung des Lehrverhältnisses. Daraufhin stellte die Verwaltung vorbescheidweise den Abbruch der beruflichen Massnahmen in Aussicht mit der Begründung, dass eine Drogenentzugsbehandlung und eine mehrmonatige Arbeitstherapie notwendig seien. Daran hielt die IV-Stelle mit Verfügung vom 20. April 2010 fest. I n der Folge lehnte die Verwaltung zwei weitere Leistungsgesuche wegen Verletzung der Mitwirkungspflicht ab (Verfügungen vom 13. Februar 2012 und 24. Oktober 2014).
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A.b. Im März 2018 wurde A.________ durch ihre Beiständin bei der Invalidenversicherung zur Prüfung des Rentenanspruchs angemeldet. Die IV-Stelle Appenzell Ausserrhoden tätigte daraufhin verschiedene Abklärungen, insbesondere holte sie ein Gutachten ein, das die Neurologie Toggenburg AG, am 14. Dezember 2018 erstattete. Nachdem die Versicherte anschliessend die Auflage betreffend Cannabisabstinenz eingehalten hatte, veranlasste die Verwaltung eine zweite Begutachtung (Gutachten der Neurologie Toggenburg AG vom 13. Mai 2020). In der Folge verneinte die IV-Stelle nach durchgeführtem Vorbescheidverfahren mit Verfügung vom 13. Oktober 2020 einen Rentenanspruch.
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B.
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Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Obergericht Appenzell Ausserrhoden ab (Urteil vom 26. Oktober 2021).
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C.
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A.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen und beantragen, in Aufhebung des vorinstanzlichen Urteils und Abänderung der Verfügung der IV-Stelle vom 13. Oktober 2020 sei ihr ab wann rechtens eine Invalidenrente zuzusprechen. Eventualiter sei die Angelegenheit zu weiteren Abklärungen zurückzuweisen. Ferner ersucht die Versicherte um Bewilligung der unentgeltlichen Prozessführung samt unentgeltlicher Rechtsverbeiständung.
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Die IV-Stelle schliesst unter Verweis auf das angefochtene Urteil auf Abweisung der Beschwerde, derweil das Bundesamt für Sozialversicherungen auf eine Vernehmlassung verzichtet.
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Erwägungen: | |
1.
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Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann deren Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).
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2. | |
2.1. Zu prüfen ist, ob die Vorinstanz Bundesrecht verletzte, indem sie in Bestätigung der Verfügung der Beschwerdegegnerin vom 13. Oktober 2020 einen Rentenanspruch der Beschwerdeführerin verneinte. Umstritten sind dabei einzig noch die erwerblichen Auswirkungen der Gesundheitsschädigung.
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2.2. Das kantonale Gericht hat die rechtlichen Grundsätze zur Ermittlung des Invaliditätsgrades nach der allgemeinen Methode des Einkommensvergleichs (Art. 16 ATSG) zutreffend dargelegt. Korrekt wiedergegeben wurde auch die Bestimmung hinsichtlich des Valideneinkommens bei Frühinvalidität (Art. 26 Abs. 1 und 2 IVV [SR 831.201], in der hier massgebenden und bis zum 31. Dezember 2021 gültigen Fassung [vgl. BGE 129 V 354 E. 1]). Darauf wird verwiesen.
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Zu ergänzen ist Folgendes: Geburts- und Frühinvalide im Sinne von Art. 26 Abs. 1 IVV sind Versicherte, die seit ihrer Geburt oder Kindheit an einem Gesundheitsschaden leiden und deshalb keine zureichenden beruflichen Kenntnisse erwerben konnten. Darunter fallen all jene Personen, die wegen ihrer Invalidität überhaupt keine Berufsausbildung absolvieren können. Ebenso dazu gehören indes Versicherte, die zwar eine Berufsausbildung abschliessen, zu deren Beginn jedoch bereits invalid waren und die absolvierte Ausbildung wegen ihrer Invalidität auf dem ausgeglichenen Arbeitsmarkt nicht in gleicher Weise "ummünzen" können wie nichtbehinderte Personen mit derselben (ordentlichen) Ausbildung. Steht dagegen fest, dass nicht invaliditätsbedingte Gründe, sondern z.B. solche familiärer oder wirtschaftlicher Art den Erwerb genügender beruflicher Kenntnisse verunmöglichten, liegt keine Geburts- oder Frühinvalidität vor (SVR 2019 IV Nr. 82 S. 272, 9C_233/2018 E. 1.2 mit Hinweisen).
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3. | |
3.1. Die Vorinstanz stellte fest, aus dem Verlaufsgutachten vom 13. Mai 2020 ergäben sich keine Hinweise auf medizinische Gründe, welche einer beruflichen Ausbildung im Wege gestanden wären beziehungsweise stünden. Es liege keine Frühinvalidität vor. Das kantonale Gericht zog in der Folge beim Validen- und Invalideneinkommen das Total der Tabellenlöhne des Kompetenzniveaus 1 der schweizerischen Lohnstrukturerhebung (LSE) des Bundesamtes für Statistik heran und ermittelte einen rentenausschliessenden Invaliditätsgrad.
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3.2. Die Beschwerdeführerin bringt dagegen im Wesentlichen vor, die vorinstanzlichen Feststellungen im Zusammenhang mit dem Lehrabbruch seien unvollständig und willkürlich. Zudem fokussiere die Vorinstanz zu Unrecht auf den Lehrabbruch und die rein theoretisch zumutbare Ausbildung als Küchenhilfe. Denn sie sei bereits bei der Berufswahl aus gesundheitlichen Gründen eingeschränkt gewesen und könne ihre Erwerbsfähigkeit im Vergleich zu gesunden Personen nicht in gleicher Weise wirtschaftlich verwerten. Beim Valideneinkommen sei deshalb nach Art. 26 Abs. 1 IVV auf den Medianwert der LSE und beim Invalideneinkommen auf den Lohn als Küchenangestellte abzustellen.
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4. | |
4.1. Von der Beschwerdeführerin nicht beanstandet wird, dass die Vorinstanz dem Verlaufsgutachten der Neurologie Toggenburg AG vom 13. Mai 2020 vollen Beweiswert zuerkannte. Ebenso unbestritten sind die vorinstanzlichen Feststellungen, dass danach eine leichte neuropsychologische Funktionsstörung bei Rolando-Epilepsie sowie eine emotional-instabile Persönlichkeitsstörung vom impulsiven Typ vorliegen und in der früheren Tätigkeit als Hilfskraft in der Küche oder für jegliche vergleichbare Tätigkeit eine Arbeitsfähigkeit von 70 % besteht.
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4.2. Das kantonale Gericht hielt gestützt auf die gutachterlichen Ausführungen nachvollziehbar fest, dass aufgrund der durchschnittlichen intellektuellen Fähigkeiten und angesichts der entwicklungsbedingten kognitiven Defizite eine Tätigkeit auf Niveau EFZ (Eidgenössisches Fähigkeitszeugnis), sicherlich aber eine solche auf der Stufe EBA (Eidgenössisches Berufsattest) theoretisch möglich wäre. Diese Annahme wird durch den anfänglich gelungenen beruflichen Einstieg via Vorlehrjahr sowie Beginn der Lehre zur Küchenangestellten EBA unterstützt. Zutreffend ist zudem der vorinstanzliche Hinweis, dass beim Lehrabbruch soziale Probleme sowie ein regelmässiger Cannabiskonsum bestanden. Die Beschwerdeführerin gab bei der Begutachtung selbst an, die Erstausbildung sei wegen der familiären und interaktionellen Probleme gescheitert. Mit Blick darauf und vor dem Hintergrund der von den Gutachtern attestierten durchgehenden (Teil-) Arbeitsfähigkeit sowie der der Beschwerdeführerin obliegenden Schadenminderungspflicht hinsichtlich der Behandlung einer Cannabisabhängigkeit ist der vorinstanzliche Schluss nicht willkürlich, dass gesundheitliche Gründe einer beruflichen Ausbildung nicht im Wege gestanden seien bzw. stünden.
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Die Beschwerdeführerin bringt jedoch zu Recht vor, dass damit eine Frühinvalidität noch nicht verneint werden kann. Denn massgebend ist nicht nur die Frage, ob die Beschwerdeführerin hinreichende berufliche Kenntnisse hätte erlangen können, sondern auch, ob sie wie eine nichtbehinderte Person in der Lage wäre, diese auf dem ausgeglichenen Arbeitsmarkt "umzumünzen" (vgl. Urteil 9C_611/2014 vom 19. Februar 2015 E. 4.3). In Ergänzung zum von der Vorinstanz festgestellten Sachverhalt (Art. 105 Abs. 2 BGG) ist hierzu aufgrund des beweiskräftigen Verlaufsgutachtens vom 13. Mai 2020 festzustellen, dass bei der Beschwerdeführerin seit dem Erreichen des erwerbsfähigen Alters aus gesundheitlichen Gründen eine Teilarbeitsunfähigkeit von 40 % bzw. 30 % vorliegt. Bei dieser Sachlage ist überwiegend wahrscheinlich, dass die Beschwerdeführerin allfällig erworbene Fachkenntnisse nicht gleichermassen wie andere Berufskolleginnen hätte verwerten können. Es liegt somit eine Frühinvalidität im Sinne von Art. 26 Abs. 1 IVV vor (vgl. SVR 2019 IV Nr. 82 S. 272, 9C_233/2018 E. 3.1; Urteil 9C_611/2014 vom 19. Februar 2015 E. 5). Das Valideneinkommen der 1991 geborenen Beschwerdeführerin beträgt deshalb angesichts der Anmeldung zum Leistungsbezug im März 2018 im Zeitpunkt des frühestmöglichen Rentenbeginns per 1. September 2018 (vgl. Art. 29 Abs. 1 IVG) Fr. 73'800.- (Art. 26 Abs. 1 IVV i.V.m. IV-Rundschreiben Nr. 369 vom 19. Dezember 2017).
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4.3. Die Beschwerdeführerin fordert beim Invalideneinkommen, dass auf den Lohn als Küchenangestellte EBA, mithin den Mindestlohn im Gastgewerbe abzustellen sei. Dem kann nicht gefolgt werden. Denn der Beschwerdeführerin stehen noch andere Hilfsarbeitertätigkeiten offen, ist sie doch gemäss der nicht bestrittenen vorinstanzlichen Feststellung, die auf dem Verlaufsgutachten basiert, zu 70 % arbeitsfähig, wobei die frühere Tätigkeit als Hilfskraft in der Küche oder jegliche vergleichbare Tätigkeit als angepasst anzusehen sei. Das kantonale Gericht verletzte somit kein Bundesrecht, wenn es bei dieser Ausgangslage das Invalideneinkommen ausgehend vom Totalwert des Tabellenlohnes (LSE 2018, TA1, Kompetenzniveau 1, Frauen, Total) ermittelte (vgl. Urteil 9C_206/2021 vom 10. Juni 2021 E. 4.4.2 mit Hinweisen). Es hat deshalb beim von der Vorinstanz ermittelten Invalideneinkommen von Fr. 38'279.- sein Bewenden.
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4.4. Ein Vergleich dieses Invalideneinkommens von Fr. 38'279.- mit dem Valideneinkommen von Fr. 73'800.- ergibt einen Invaliditätsgrad von (gerundet) 48 %. Die Beschwerdeführerin hat somit ab 1. September 2018 Anspruch auf eine Viertelsrente (vgl. Art. 28 Abs. 2 IVG in der hier massgebenden und bis zum 31. Dezember 2021 gültigen Fassung).
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5.
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5.1. Die Beschwerdeführerin, welche gemäss Beschwerdebegründung sinngemäss eine halbe Rente fordert, obsiegt mit der Zusprache einer Viertelsrente teilweise. Aufgrund dieses Verfahrensausganges rechtfertigt es sich, ihr und der Beschwerdegegnerin je die Hälfte der Gerichtskosten aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Zudem hat die Beschwerdegegnerin der Beschwerdeführerin eine reduzierte Parteientschädigung auszurichten (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG).
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5.2. Soweit die Beschwerdeführerin nicht obsiegt, ist ihr die unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren, da die Bedürftigkeit aktenkundig ist, die Beschwerde nicht als aussichtslos erschien und die anwaltliche Vertretung geboten war (Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG). Es wird indessen ausdrücklich auf Art. 64 Abs. 4 BGG aufmerksam gemacht, wonach die Beschwerdeführerin der Bundesgerichtskasse Ersatz zu leisten haben wird, wenn sie später dazu im Stande ist.
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5.3. Über die Kosten und eine Parteientschädigung für das kantonale Verfahren hat entsprechend dem Ausgang des letztinstanzlichen Prozesses die Vorinstanz neu zu befinden (Art. 67 und 68 Abs. 5 Satz 2 BGG).
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Demnach erkennt das Bundesgericht: | |
1.
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Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Das Urteil des Obergerichts Appenzell Ausserrhoden vom 26. Oktober 2021 und die Verfügung der IV-Stelle Appenzell Ausserrhoden vom 13. Oktober 2020 werden aufgehoben. Die Beschwerdegegnerin hat der Beschwerdeführerin ab 1. September 2018 eine Viertelsrente auszurichten. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen.
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2.
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Der Beschwerdeführerin wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt und Karin Wüthrich wird als unentgeltliche Anwältin bestellt.
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3.
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Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden zu Fr. 400.- der Beschwerdeführerin und zu Fr. 400.- der Beschwerdegegnerin auferlegt. Der Anteil der Beschwerdeführerin wird vorläufig auf die Bundesgerichtskasse genommen.
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4.
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Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 1400.- zu entschädigen.
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5.
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Der Rechtsvertreterin der Beschwerdeführerin wird aus der Bundesgerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 1400.- ausgerichtet.
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6.
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Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des vorangegangenen Verfahrens an das Obergericht Appenzell Ausserrhoden zurückgewiesen.
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7.
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Dieses Urteil wird den Parteien, dem Obergericht Appenzell Ausserrhoden und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
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Luzern, 24. März 2022
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Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
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des Schweizerischen Bundesgerichts
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Der Präsident: Parrino
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Die Gerichtsschreiberin: Möckli
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