BGHSt 3, 169 - Gefährliche Gewohnheitsverbrecher | |||
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Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: Rainer M. Christmann, A. Tschentscher | |||
2. Der Tatrichter muß nicht schon deshalb einen Obergutachter hören, weil er die volle Überzeugung von einer bestimmten Tatsache (hier Zurechnungsfähigkeit des Täters) auf Grund des ärztlichen Gutachtens nicht gewinnen konnte. Wenn in dieser Lage die Beweisfrage zugunsten des Angeklagten entscheidet so liegt darin nicht ohne weiteren eine Verletzung der Aufklärungspflicht. |
StGB § 20a Abs. 2; StPO § 244 Abs. 2 |
3. Strafsenat |
Urteil |
vom 18. September 1952 g.G. |
- 3 StR 374/52 - |
I. Schwurgericht Kassel | |
Der Angeklagte hat nachts in einer Gastwirtschaft, aus der kurz vorher von den Dorfbewohnern wegen ungebührlichen Benehmens entfernt worden war, nacheinander auf sieben Personen mit einem Karabiner geschossen, um sich für die ihm widerfahrene Kränkung zu rächen, und anschließend, als er verhaftet werden sollte, noch einen Schuß auf einen Polizeibeamten abgegeben. Er ist wegen Mordes in drei Fällen, wegen Mordversuches in vier Fällen und wegen Totschlagversuches in einem Falle als gefährlicher Gewohnheitsverbrecher zu einer Zuchthausstrafe von 15 Jahren verurteilt worden. Außerdem wurde seine Sicherungsverwahrung angeordnet. Nach der Feststellung des Schwurgerichts hat er sämtliche Taten im Zustande erheblich verminderter Zurechnungsfähigkeit begangen. Die Revisionen der Staatsanwaltschaft und des Angeklagten wurden verworfen.
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Aus den Gründen: | |
1. Die Revision des Angeklagten wendet sich u.a. gegen die Anwendung des § 20 a StGB. Der Angeklagte sei allenfalls ein "gefährlicher Situationsverbrecher", aber kein Gewohnheitsverbrecher. Denn alle Straftaten des Angeklagten seien aus einer einzigen Affektlage heraus entstanden. Er habe unvermittelt unter dem Einfluß des Alkohols in fast übermenschlicher innerer Erregung gehandelt; ein eingewurzelter Hang zum Gewaltverbrechen könne also gerade nicht festgestellt werden. Die Rüpeleien und Flegeleien, die das Schwurgericht aus dem Vorleben des Angeklagten herangezogen habe, seien wegen ihrer Geringfügigkeit für eine solche Feststellung ungeeignet.
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Die förmlichen Voraussetzungen des § 20 a Abs. 2 StGB liegen vor. Daß der Angeklagte die Taten aus einem einheitlichen Entschluß und in einer besonderen Affektlage unmittelbar nacheinander begangen hat, steht der Anwendung dieser Vorschrift nicht grundsätzlich entgegen. Allerdings wird ein solcher Umstand in der Regel gegen einen eingewurzelten Hang des Täters sprechen und die Annahme nahelegen, daß es sich um eine aus der besonderen Affektlage heraus begangene Gelegenheitstat handelt, die dem Täter in ihrer Eigenart fremd bleibt und seiner Persönlichkeit an sich nicht entspricht. Dies ist der Revision zuzugeben. Es handelt sich hierbei aber um eine Frage der Beweiswürdigung. Diese bedarf naturgemäß unter den genannten Umständen ganz besonderer Sorgfalt.
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Wie die förmlichen Voraussetzungen zeigen, ist § 20 a StGB auf dem Rückfallgedanken aufgebaut; das gilt auch für Abs. 2 der Vorschrift. Es kann jedoch der Revision nicht zugegeben werden, daß deshalb ihre Anwendung nur dann möglich sei, wenn die einzelnen Taten zeitlich auseinanderliegen und wenn jede Tat auf neuem Anreiz und neuem Entschluß beruht. Indem der Gesetzgeber von dem Rückfallgedanken ausging, und in § 20a Abs. 2 StGB das Erfordernis dreier selbständiger Taten aufstellte, wollte er eine größere Sicherheit der Beweisgrundlage erreichen. Er hielt es für zweckmäßig und notwendig, durch deutlich greifbare äußere Voraussetzungen dem Richter die Verantwortung zu erleichtern. Einen weitergehenden Niederschlag aber hat dieser Gedanke der Rechtssicherheit im Gesetz nicht gefunden. Eine im Sinne der Revision einengende Auslegung ist deshalb nicht zulässig. An sich kann sich der Hang zum Verbrechen je nach den Umständen schon aus einer einzigen Straftat ergeben. Auch aus der gesetzlichen Kennzeichnung des Täters als eines Gewohnheitsverbrechers läßt sich nichts für die Auffassung der Revision herleiten. Schon in der Entscheidung RGSt 68, 149 hat das Reichsgericht darauf hingewiesen, daß ein wesentlicher Unterschied zwischen den Begriffen des Gewohnheitsverbrechers und der gewohnheitsmäßigen Begehung einer Straftat bestehe. Während der Begriff des Gewohnheitsverbrechers an die Persönlichkeit des Täters anknüpft, ist z.B. in den §§ 180, 260 StGB das Merkmal des Gewohnheitsmäßigen aus der Begehung der Straftaten abzuleiten. Es handelt sich beim Gewohnheitsverbrecher um einen Zug des inneren Wesens des Verbrechers, um einen seelischen Zustand, der bestimmte Vorstellungen gegenüber anderen leichter zur Geltung kommen läßt. Die Wiederholung ist also regelmäßig das entscheidende Kennzeichen der Gewohnheit; sie ist es aber nicht begriffsnotwendig. Das zeigt sich mit besonderer Deutlichkeit darin, daß es für den Begriff des Gewohnheitsverbrechers gleichgültig ist, worin die seelische Verfassung des Täters ihren letzten Grund hat. Der Hang zur Wiederholung kann nicht nur durch Übung erworben sein, sondern auch auf charakterlicher Veranlagung beruhen. Gerade in diesem zweiten Falle aber kann sich der Hang erstmalig und durch eine rasch aufeinanderfolgende Mehrzahl von Verbrechen in erschreckender Weise entladen. Bei schwersten Verbrechen liegt eine solche Entwicklung besonders nahe, weil die dem Hang widerstreitenden Vorstellungen normalerweise immerhin um so wirksamer sind, je schwerer das Verbrechen ist, zu dem der Täter neigt. Die Auffassung der Revision würde dazu führen, daß gerade in solchen Fällen schwerster Verbrechen die Gesellschaft nicht gegen den Verbrecher gesichert werden könnte. Es kommt also nur darauf an, ob der Tatrichter in der Lage ist, im Einzelfall den verbrecherischen Hang des Täters auch bei rascher Folge mehrerer schwerster Straftaten festzustellen.
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Das Schwurgericht ist von dieser Rechtslage ausgegangen. Es hat nicht verkannt, daß der Ausnahmecharakter des Sachverhalts eine besonders sorgfältige Prüfung, Erörterung und Beweisführung erfordert. Einen Rechtsfehler lassen seine Ausführungen nicht erkennen.
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Es ist zunächst kein Widerspruch, daß das Schwurgericht dem Angeklagten einerseits wegen der durch Alkoholgenuß noch gesteigerten Gemütserregung den Schutz des § 51 Abs. 2 StGB zugebilligt hat, andererseits aber feststellt, die Verbrechen seien auf den durch charakterliche Veranlagung bedingten Hang des Angeklagten zu Gewalttätigkeiten zurückzuführen. Zwar kann ein Hangverbrecher auch Gelegenheitstaten begehen oder in einem Affekt handeln, der in keiner Beziehung zu seiner verbrecherischen Neigung steht; dann ist § 20 a StGB nicht anwendbar. Hier aber hat das Schwurgericht eingehend erörtert und festgestellt, daß die Affektlage gerade die Ursache dafür war, daß die letzten Hemmungen gegen den Hang zur Gewalttat beseitigt wurden. Gemütserregung und Alkoholgenuß haben keine der Persönlichkeit des Angeklagten fremde Verbrechen ausgelöst, sondern nach der insoweit mit der Revision nicht angreifbaren Überzeugung des Schwurgerichts den verbrecherischen Hang des Angeklagten mit aller Deutlichkeit geoffenbart.
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Schon der Verlauf der Bluttat selbst in Verbindung mit dem im Urteil ausführlich wiedergegebenen Gutachten des Sachverständigen ließ kaum einen anderen Schluß zu. Nachdem der Angeklagte fast alle "für seine Schmach verantwortlichen Männer" ermordet oder schwer verletzt und Rache genommen hatte, traf er auf Frau B., die sich in der Küche bei den toten und verletzten Männern befand. Nachdem er zunächst befriedigt festgestellt hatte, daß die Männer ihren Teil hätten, richtete er das Gewehr auf Frau B. Diese flehte ihn an, er solle sie doch am Leben lassen. Der Angeklagte erwiderte jedoch ungerührt, jetzt komme sie auch noch dran, und schoß die Frau nieder. Diese Tat ist ohne einen besonders ausgeprägten Hang zur Gewalttat kaum erklärbar. Denn der Entschluß, nunmehr auch eine völlig unbeteiligte Person, dazu noch eine Frau, zu ermorden, konnte nur gefaßt werden, wenn neue verstärkte Hemmungen überwunden wurden. Schon diese Tat konnte als sicheres Beweisanzeichen den Schluß des Schwurgerichts rechtfertigen, daß sich in allen Taten der verbrecherische Hang des Angeklagten mit einem Mal in der denkbar gefährlichsten Weise geoffenbart hat. Iindessen hat sich das Schwurgericht auf eine solche Erwägung nicht beschränkt, sondern zahlreiche Vorfälle aus dem bisherigen Leben des Angeklagten erörtert, aus deren Gesamtheit in Verbindung mit den abgeurteilten Taten es die Überzeugung gewonnen hat, daß der Angeklagte aus charakterlicher Veranlagung zu Gewalttaten neigt. Die Revision meint, daß einzelne festgestellte Vorfälle die Folgerung des Schwurgerichts nicht rechtfertigen könnten. Sie übersieht jedoch, daß das Urteil ausdrücklich betont, keiner dieser Vorfälle lasse für sich allein betrachtet einen Schluß auf die Veranlagung des Angeklagten zu. Erst die sehr sorgfältige fehlerfreie Gesamtwürdigung der Vorfälle hat das Schwurgericht davon überzeugt, daß der Angeklagte ein Gewohnheitsverbrecher ist.
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Auch die Anwendung des § 42 e StGB begegnet keinen Bedenken. (Wird ausgeführt.)
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2. Die Revision der Staatsanwaltschaft ist ebenfalls unbegründet; sie rügt u.a. Verletzung des § 244 Abs. 2 und 4 StPO.
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Das Schwurgericht hat im Anschluß an das Gutachten des Sachverständigen festgestellt, daß der Angeklagte im Zeitpunkt der zwangsweisen Entfernung aus dem Gasthaus erheblich vermindert zurechnungsfähig war. Das weitere Gutachten äußerte sich dahin, daß der Angeklagte bei Abgabe der ersten beiden Schüsse voll zurechnungsfähig gewesen sei, weil die mit der Trunkenheit verbundene Erregung in der Zeit zwischen dem Verlassen der Wirtschaft und den ersten Schüssen abgeklungen und das Hemmungsvermögen des Angeklagten nicht mehr erheblich herabgesetzt gewesen sei. Dem hat sich das Schwurgericht angeschlossen. Es konnte insoweit nicht die Überzeugung der vollen Zurechnungsfähigkeit des Angeklagten gewinnen und hat, da ihm die Frage zweifelhaft geblieben ist, § 51 Abs. 2 StGB nach dem Grundsatz "in dubio pro reo" zugunsten des Angeklagten angewandt. Hierzu wird ausgeführt, daß der Sachverständige für seine Ansicht keine einleuchtende Begründung gegeben habe; diese beruhe weitgehend auf Vermutungen und Annahmen. Die Überzeugungskraft seines Gutachtens werde insoweit auch in Frage gestellt, weil er im Laufe des Verfahrens in diesem Punkt geschwankt habe. Dabei wird die ausreichende Sachkunde des Sachverständigen an sich nicht bezweifelt. Eine weitere Aufklärung von Amts wegen hielt das Gericht für erfolglos, weil niemand den geistigen und seelischen Zustand des Angeklagten während seiner etwa 10 Minuten dauernden Abwesenheit beobachtet habe und infolgedessen jede zuverlässige Beurteilungsgrundlage für eine mögliche Änderung dieses Zustandes fehle.
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Diese Erwägungen des Tatrichters sind frei von Rechtsirrtum. Daß er nach dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung nicht verpflichtet war, sich dem Gutachten anzuschließen, räumt die Revision ein. Sie meint aber, das Gericht habe einen Obergutachter zuziehen müssen, weil ihm eine entscheidende Beweisfrage zweifelhaft geblieben sei.
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Die Pflicht zur Zuziehung eines Obergutachters kann zunächst nicht mit § 244 Abs. 4 StPO begründet werden. Zwar hätte, wie die Revision zutreffend hervorhebt, ein entsprechender Beweisantrag der Staatsanwaltschaft nicht abgelehnt werden können, weil die Frage der erheblich verminderten Zurechnungsfähigkeit nach der Auffassung des Gerichts zweifelhaft geblieben ist, das Gegenteil der von der Staatsanwaltschaft behaupteten Tatsache also nicht erwiesen war. Ein solcher Beweisantrag ist aber nicht gestellt, also auch nicht abgelehnt worden. Damit scheidet ein Verstoß gegen § 244 Abs. 4 StPO aus. Daß das Gericht die Möglichkeit einer von dem Gutachten abweichenden Auffassung nicht zu erkennen gegeben hat, ist in diesem Zusammenhang unerheblich. Ein solcher Sachverhalt kann gegebenenfalls nur eine Rüge nach § 244 Abs. 2 StPO begründen.
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Die Aufklärungspflicht ist jedoch nicht verletzt. Den von der Revision aufgestellten Rechtssatz, die Zuziehung eines Obergutachters dürfe nur dann unterbleiben, wenn der Tatrichter die volle Überzeugung von einer bestimmten Tatsache erlangt habe, gibt es nicht. Er hätte zur Folge, daß ein dritter Gutachter zugezogen werden müßte, wenn das Gericht auch nach Anhörung des zweiten Gutachters seine Zweifel nicht beheben kann. Damit, daß die Beweislage zweifelhaft bleibt, ist stets zu rechnen. Der Zweifel als solcher und für sich allein verpflichtet nicht zu weiterer Aufklärung. § 244 Abs. 2 StPO ist nur verletzt, wenn der Tatrichter die Pflicht zur Wahrheitserforschung verkannt oder ihr zuwidergehandelt hat, obwohl der ihm bekannte Sachverhalt zur Benutzung weiterer Beweismittel drängte oder diese mindestem nahelegte (vgl. BGHSt 1, 94). Das Schwurgericht hat seine Pflicht offensichtlich nicht verkannt, sondern erörtert, ob weitere Aufklärung in Betracht komme. Es ist zu dem Ergebnis gekommen, daß auch ein zweites Gutachten die Zweifel nicht beheben könne, weil es auch dem Obergutachter an zuverlässigen Beurteilungsgrundlagen fehle. Eine solche Erwägung ist zulässig. Der Tatrichter hat sich damit nicht eine Sachkunde zugetraut, die er nach allgemeiner Erfahrung nicht haben konnte. Zu Unrecht meint die Revision, es sei gerade eine wissenschaftliche Frage, ob eine ausreichende Beurteilungsgrundlage vorhanden sei; der Richter könne sie nicht beantworten. Um in diesem Falle über die Sicherheit der Beurteilungsgrundlage entscheiden zu können, bedarf es keiner besonderen wissenschaftlichen Sachkunde. Auch der Sachverständige hat den Angeklagten in dem maßgebenden Zeitraum nicht beobachtet und war für seine Ergebnisse auf Folgerungen angewiesen, denen notwendig und für den Richter durchaus beurteilbar eine gewisse Unsicherheit anhaftet. Ein neuer Sachverständiger wäre in derselben Lage gewesen. Der Tatrichter, der ohnehin entscheiden muß, ob ein Gutachten überzeugt und die für den Schuldspruch notwendige Sicherheit bietet, durfte daher die Zuziehung eines weiteren Sachverständigen als zwecklos ansehen, ohne seine Pflicht zu Aufklärung zu verletzen.
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