BGHSt 14, 30 - Aufrechterhaltung der Feststellungen bei Teilaufhebung | |||
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Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: Rainer M. Christmann, A. Tschentscher | |||
2. Hebt das Revisionsgericht ein Urteil nur wegen mangelnder oder fehlerhafter Prüfung der Zurechnungsfähigkeit auf, so kann es die Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen aufrechterhalten. |
StGB § 51 Abs. 1 und 2; StPO § 353 Abs. 2 |
4. Strafsenat |
Urteil |
vom 27. November 1959 g.G. |
- 4 StR 394/59 - |
I. Landgericht Bielefeld |
Aus den Gründen: | |
1 | |
I. | |
a) Im Anschluß an das Sachverständigengutachten führt das Landgericht im Urteil aus, daß Anhaltspunkte für eine Geisteskrankheit oder Geistesschwäche beim Angeklagten nicht ersichtlich seien. Seine geistigen Fähigkeiten lägen über dem Durchschnitt. Er sei zwar nicht gemütskalt oder gemütsschwach, jedoch ein egoistisch eingestellter Mensch mit einem ausgeprägten Sexualtrieb. Diese sexuelle Triebhaftigkeit sei bei ihm aber im Kern nicht abnorm entwickelt; er sei vielmehr ein rein männlicher Typ. Es lägen "keine Anzeichen für eine Krankheitswert besitzende Inversion, also eine Verweiblichung" vor. Seine gleichgeschlechtlichen Handlungen entsprängen vielmehr einer "Perversion"; diese aber sei nicht geeignet, seine Schuldfähigkeit zu beeinträchtigen. Das Gesetz verlange zum Nutzen des Rechtsfriedens, daß ein Mensch auch solche Neigungen unterdrücke, die in einem Gefühls- oder Triebdefekt ihren Ursprung hätten (BGH MDR 1953, 146). Der Angeklagte sei hierzu auch durchaus in der Lage; die mangelnde Zügelung seiner perversen Neigungen beruhe ausschließlich auf einer sittlichen Schwäche.
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b) Diese Ausführungen lassen nicht deutlich erkennen, ob die Strafkammer den Begriff der "krankhaften Störung der Geistestätigkeit" im Sinne des § 51 StGB in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes ausgelegt hat. Hierunter fallen nicht nur Geisteskrankheiten im klinisch-psychiatrischen Sinne, sondern alle Arten von Störungen der Verstandestätigkeit sowie des Willens-, Gefühls- oder Trieblebens, welche die bei einem normalen und geistig reifen Menschen vorhandenen, zur Willensbildung befähigenden Vorstellungen und Gefühle beeinträchtigen (RGSt 73, 121; BGH LM StGB § 51 Abs 1 Nr. 5 = MDR 1955, 368). Das gilt auch von einer geschlechtlichen Triebhaftigkeit, die - bei normaler Richtung - derart stark ausgeprägt ist, daß ihr der Träger selbst bei Aufbietung aller ihm eigenen Willenskräfte nicht ausreichend zu widerstehen vermag, oder die infolge ihrer Naturwidrigkeit den Träger in seiner gesamten inneren Grundhaltung und damit im Wesen seiner Persönlichkeit so verändert, daß er zur Bekämpfung des Triebs nicht die erforderlichen Hemmungen aufbringt, selbst wenn der naturwidrige Trieb nur von durchschnittlicher Stärke ist (u.a. BGH 2 StR 365/54 vom 18. Januar 1955, 1 StR 546/55 vom 10. Januar 1956, 1 StR 529/55 vom 28. Februar 1956, 1 StR 72/56 vom 27. April 1956, 1 StR 288/56 vom 28. September 1956, 1 StR 482/55 vom 2. Dezember 1956).
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Allerdings kommt dem gleichgeschlechtlichen Trieb nicht schon um seiner Abartigkeit willen allein die Bedeutung einer krankhaften Störung der Geistestätigkeit zu. Es ist vielmehr davon auszugehen, daß der geistig gesunde Mensch über die erforderlichen inneren Kräfte verfügt, um die ihm aus einem naturwidrigen Geschlechtstrieb erwachsenden Neigungen zu überwinden. Das Gesetz verlangt, daß der einzelne die ihm zur Verfügung stehenden Willenskräfte voll einsetzt; Willensschwäche oder sonstige Charaktermängel rechtfertigen die Anwendung des § 51 Abs. 1 oder Abs. 2 StGB nicht. Dabei ist jedoch immer Voraussetzung, daß der gleichgeschlechtlich Veranlagte nicht infolge einer mit seinem Trieb verbundenen Persönlichkeitsentartung der natürlichen Hemmungen entbehrt, deren er bedarf, um der Versuchung zur gleichgeschlechtlichen Unzucht widerstehen zu können (u.a. BGH Urt. vom 28. Februar 1956 - 1 StR 529/55 m.w.N.).
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c) Die von der Strafkammer aus dem Sachverständigengutachten ohne eigene Würdigung übernommene und im Urteil ohne nähere Begründung angeführte Unterscheidung zwischen "Inversion" und "Perversion" mit ihren gegensätzlichen Schlußfolgerungen für die Zurechnungsfähigkeit des Angeklagten begegnet zumindest in dieser Allgemeingültigkeit beanspruchenden Fassung - Inversion entschuldigt, Perversion entschuldigt nicht - rechtlichen Bedenken. Sie erweckt Zweifel, ob der Sachverständige und mit ihm das Landgericht von dem oben erörterten rechtlichen Begriff der "krankhaften Störung der Geistestätigkeit" ausgegangen sind. Der Satz, es lägen "keine Anzeichen für eine Krankheitswert besitzende Inversion" beim Angeklagten vor, läßt in Gegenüberstellung zu dem folgenden Satz, seine Handlungen entsprängen vielmehr einer Perversion, diese aber sei "nicht geeignet", die Schuldfähigkeit zu beeinträchtigen, die Auslegung zu, Sachverständiger und Strafkammer räumten nur der Inversion als Erscheinungsform der gleichgeschlechtlichen Unzucht einen Einfluß auf die strafrechtliche Verantwortung eines Angeklagten ein, weil diese zu einer "Verweiblichung" führen könne. Ganz abgesehen davon, daß der Sinn des Wortes "Inversion" sich keineswegs in dieser Bedeutung erschöpft, sondern ganz allgemein das Vorhandensein eines "umgekehrten, veränderten" Geschlechtstriebes bezeichnet, läge für eine solche Beschränkung kein Grund vor. Entscheidend für die Frage der Schuldfähigkeit ist allein, ob eine Wesensveränderung gegeben ist, die auf die Einsichtsfähigkeit oder das Hemmungsvermögen des Angeklagten - erheblich - einwirkt, gleichviel ob sie von einer Veränderung gewisser körperlicher Merkmale begleitet ist oder nicht. Richtig ist, daß bei anlagebedingten Homosexuellen Zwanghaftigkeit des Handelns näher liegt als bei anderen Tätern, die ihren Hang erst durch Übung erworben haben. Daraus kann aber nicht die Folgerung gezogen werden, daß bei dem letztgenannten Personenkreis jede auf die Einzelpersönlichkeit bezogene Untersuchung und Würdigung der Schuldfähigkeit zu unterbleiben hätte und allein die Zugehörigkeit zu dieser Gruppe ausreiche, um das Vorhandensein der vollen Schuldfähigkeit zu bejahen.
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II. | |
Der festgestellte Mangel zwingt zur Aufhebung des Urteils im ganzen. Wenn auch geschlechtliche Triebstörungen nur selten die Zurechnungsfähigkeit völlig aufheben mögen (vgl. BGH 1 StR 529/55 vom 28. Februar 1956), so läßt sich dies im vorliegenden Fall doch nicht von vornherein sicher ausschließen. Deshalb kann auch der Schuldspruch nicht bestehenbleiben.
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Zugleich sind die dem Urteil zugrunde liegenden Feststellungen, aufzuheben, sofern sie durch den erörterten Rechtsfehler betroffen werden (§ 353 Abs. 2 StPO). Das trifft hier nur auf die innere Tatseite zu.
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Das Revisionsgericht muß bei jeder aufhebenden Entscheidung prüfen, ob und inwieweit die gefundene Gesetzesverletzung auf die dem Urteil zugrunde liegenden Feststellungen einwirkt; in diesem Umfange, aber auch nur in ihm, müssen auch die Feststellungen aufgehoben werden (vgl. Hahn, Die gesamten Materialien zur Strafprozeßordnung, S. 258 zu § 315 des Entwurfs). Von dem Rechtsfehler können tatsächliche Feststellungen sowohl dann betroffen sein, wenn sie auf einem Fehler im Verfahren beruhen (RGSt 2, 289 [291]; 53, 199), wie auch dann, wenn das sachliche Recht verletzt und infolge eines solchen Irrtums schon der Sachverhalt unvollständig oder unrichtig ermittelt worden ist. Die Einwirkung dieser Rechtsmängel kann, was in der Natur der Sache liegt, jeweils nur Teile der Feststellungen berühren.
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Die "innere Unteilbarkeit der Schuldfrage", die eine gesonderte rechtliche Beurteilung von Teilen eines einheitlichen Schuldspruchs durch den Rechtsmittelrichter nicht zuläßt, also grundsätzlich zur vollen Aufhebung eines auch nur in Teilen unrichtigen Schuldspruchs nötigt, steht einer gesonderten Behandlung der dem einheitlichen Schuldspruch zugrunde liegenden tatsächlichen Feststellungen nicht entgegen. Die Vorschrift des § 353 Abs. 2 StPO geht gerade von dieser unterschiedlichen Behandlung der tatsächlichen Grundlagen eines Schuldspruchs aus, indem sie ausdrücklich nicht alle zum jeweils aufzuhebenden einheitlichen Schuldspruch gehörigen Feststellungen in die Aufhebung einbezieht, sondern nur diejenigen, die "durch die Gesetzesverletzung betroffen werden, wegen deren das Urteil aufgehoben wird". Sie denkt also an die Teilaufhebung der Feststellungen als Regel.
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Damit macht das Gesetz zugleich die Frage nach der Zulässigkeit einer nur teilweisen Beseitigung der tatsächlichen Grundlagen eines Schuldspruchs unabhängig von der davon nicht immer klar unterschiedenen Frage der Teilbarkeit der Anfechtung einer Verurteilung mit der Rechtsrüge. Die Zulässigkeit der Rechtsmittelbeschränkung richtet sich im wesentlichen nach der rechtlichen Teilbarkeit einer Verurteilung, also der Rechtsfolgen, die Zulässigkeit der Teilaufhebung von Feststellungen aber danach, wieweit sie vom Rechtsfehler in dem oben genannten Sinne "betroffen" sind und wieweit die so betroffenen Feststellungen in tatsächlicher Beziehung selbständig sind, d.h. wieweit sie aus dem Gesamtzusammenhang aller Feststellungen herausgelöst werden können, ohne daß auch die anderen Feststellungen - und sei es auch nur durch Wegfall eines Beweisanzeichens - dadurch in Frage gestellt werden. Das Gebot der möglichst nur teilweisen Aufhebung der Feststellungen gilt sinngemäß für solche Fälle, in denen infolge rechtlicher Teilbarkeit der Verurteilung nur ein Teil von ihr, z.B. der Strafausspruch oder die Verurteilung hinsichtlich einer von mehreren rechtlich selbständigen Taten aufgehoben wird. Hier kommt es für die Selbständigkeit der tatsächlichen Feststellungen darauf an, in welchem Umfange die auf den aufgehobenen Teil der Verurteilung bezüglichen Feststellungen teilweise aufgehoben werden können, ohne daß die Übrigen, denselben Teil betreffenden, vom Rechtsfehler an sich nicht betroffenen Feststellungen dadurch beeinträchtigt werden. Aus der Notwendigkeit der inneren Einheit des Urteils ergibt sich im übrigen, daß mit der Aufhebung eines Teiles des Urteilsspruches stets auch solche zu ihm gehörigen tatsächlichen Feststellungen beseitigt werden müssen, die den auf aufrechterhaltene Teile des Urteils bezüglichen Feststellungen widersprechen.
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Das erörterte Gebot tunlichster Aufrechterhaltung der von der Gesetzesverletzung nicht berührten Feststellungen fällt auch keineswegs aus dem Rahmen der das Strafverfahrensrecht beherrschenden allgemeinen Grundsätze. Zu diesen Grundsätzen gehört es, daß das Revisionsgericht nur die zulässigerweise als rechtlich selbständig angefochtenen Teile des Urteils nachprüfen darf (§ 352 Abs. 1 StPO) und daß es das Urteil nur insoweit aufheben darf, als es die Revision für begründet hält (§ 353 Abs. 1 StPO). Kraft der mit der Beschränkbarkeit der Revision den Rechtsmittelberechtigten grundsätzlich eingeräumten Verfügungsmacht werden die von ihnen nicht angegriffenen selbständigen Teile der Entscheidung samt den ihnen jeweils zugrunde liegenden tatsächlichen Feststellungen rechtskräftig. Auch hier gibt es eine Bindung des mit der zurückgewiesenen Sache befaßten Tatrichters an die nicht aufgehobenen tatsächlichen Grundlagen, etwa bei Aufhebung nur des Strafausspruchs oder einer sichernden Maßregel, d.h. eine Bindung an die den Schuldspruch oder den Strafausspruch im engeren Sinne tragenden Feststellungen. Ähnliches gilt für einen aus Rechtsgründen nur teilweisen Erfolg des Rechtsmittels (BGHSt 7, 283).
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Das Gesetz nimmt solche Bindungen trotz der gedanklich stets gegebenen Möglichkeit in Kauf, daß bei Überprüfung des aufgehobenen Teils einer Entscheidung - etwa bei der Neuentscheidung über den Strafausspruch - Tatsachen hervortreten, die mit den bindend gewordenen Feststellungen zum rechtskräftigen Teil der Entscheidung, also hier zum Schuldspruch, nicht im Einklang stehen. Entsprechendes gilt für die Bindung an aufrechterhaltene Feststellungen trotz Aufhebung der Verurteilung im Rahmen des § 353 Abs. 2 StPO. Im Interesse des zügigen Ablaufs des Verfahrens, namentlich zur Vermeidung der Wiederholung von Zeit und Kosten beanspruchenden Beweisaufnahmen, wird der Prozeßbeteiligte, der sich beschwert fühlt, auf die Möglichkeit einer Wiederaufnahme des Verfahrens verwiesen. Zurückhaltung in der Aufhebung von tatsächlichen Feststellungen liegt nicht zuletzt auch deshalb im Sinne des Gesetzes, weil die Wiederholung von oft umfangreichen Beweisaufnahmen über früher schon eindeutig geklärte Tatfragen infolge des inzwischen eingetretenen Zeitablaufs die Wahrheitsermittlung gefährdet. Man denke z.B. an die Notwendigkeit der Aufklärung möglicherweise zahlreicher Einzelakte einer Fortsetzungstat, die nur deshalb erforderlich wird, weil trotz Rechtsfehlers bei nur einem (nicht gerade ganz unbedeutenden) Einzelakt mit der - an sich gebotenen - Aufhebung des gesamten Schuldspruchs zugleich alle tatsächlichen Feststellungen beseitigt worden sind, obwohl § 353 Abs. 2 StPO das, wie dargelegt, nicht erfordert hätte. Man denke ferner an den Fall der Gesetzesverletzung ausschließlich bei der Anwendung des sachlichen Rechts auf den festgestellten Sachverhalt, in dem das Revisionsgericht nicht selbst durch Änderung des Schuldspruchs entscheiden kann, weil der Angeklagte, wie nicht selten, noch auf die dadurch eintretende Veränderung des rechtlichen Gesichtspunkts (§ 265 StPO) hingewiesen werden muß, eine Wiederholung der einwandfreien und erschöpfenden Beweisaufnahme aber ebenso wie bei der Anwendung eines Straffreiheitsgesetzes (vgl. BGHSt 4, 287 [290]; 9, 104 [105]) sinnlos wäre. Zu den erheblichen Nachteilen einer zu weitgehenden Beseitigung der tatsächlichen Grundlagen gehört schließlich die Belästigung oder gar Gefährdung der für die Wiederholung der Beweisaufnahme erforderlichen Zeugen. Mit dieser ist besonders in Sittlichkeitssachen zu rechnen, in denen, wie in der hier zur Entscheidung stehenden Sache, jede vermeidbare neue Vernehmung jugendlicher Opfer von Übel ist.
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Diese Nachteile wiegen weit schwerer als die Gefahr, daß der Tatrichter, bei der erneuten Verhandlung durch aufrechterhaltene Feststellungen zum Nachteil des Angeklagten oder der Strafverfolgungsbehörde in seiner Freiheit der Sachverhaltsermittlung beschränkt sein könnte. Einer solchen Gefahr läßt sich durch vorsichtige Prüfung der Selbständigkeit der aufrechtzuerhaltenden Feststellungen begegnen.
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Legt man diese Maßstäbe an, so ist vorliegend ein charakteristischer Fall möglicher Beschränkung der Aufhebung tatsächlicher Feststellungen gegeben.
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Der Aufhebungsgrund (§ 51 StGB) wird durch das äußere Tatgeschehen in keinem Punkte berührt (vgl. BGHSt 9, 104). Die Strafkammer ist bei der neuen Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit des Angeklagten durch den bestehenbleibenden Teil der Feststellungen nicht behindert.
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