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Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: Rainer M. Christmann, A. Tschentscher | |||
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2. Hebt das Revisionsgericht ein Urteil nur wegen mangelnder oder fehlerhafter Prüfung der Zurechnungsfähigkeit auf, so kann es die Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen aufrechterhalten. |
StGB § 51 Abs. 1 und 2; StPO § 353 Abs. 2 |
4. Strafsenat |
Urteil |
vom 27. November 1959 g.G. |
- 4 StR 394/59 - |
I. Landgericht Bielefeld |
Aus den Gründen: | |
1 | |
I. | |
a) Im Anschluß an das Sachverständigengutachten führt das Landgericht im Urteil aus, daß Anhaltspunkte für eine Geisteskrankheit oder Geistesschwäche beim Angeklagten nicht ersichtlich seien. Seine geistigen Fähigkeiten lägen über dem Durchschnitt. Er sei zwar nicht gemütskalt oder gemütsschwach, jedoch ein egoistisch eingestellter Mensch mit einem ausgeprägten Sexualtrieb. Diese sexuelle Triebhaftigkeit sei bei ihm aber im Kern nicht abnorm entwickelt; er sei vielmehr ein rein männlicher Typ. Es lägen "keine Anzeichen für eine Krankheitswert besitzende Inversion, also eine Verweiblichung" vor. Seine gleichgeschlechtlichen Handlungen entsprängen vielmehr einer "Perversion"; diese aber sei nicht geeignet, seine Schuldfähigkeit zu beeinträchtigen. Das Gesetz verlange ![]() ![]() | 2 |
b) Diese Ausführungen lassen nicht deutlich erkennen, ob die Strafkammer den Begriff der "krankhaften Störung der Geistestätigkeit" im Sinne des § 51 StGB in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes ausgelegt hat. Hierunter fallen nicht nur Geisteskrankheiten im klinisch-psychiatrischen Sinne, sondern alle Arten von Störungen der Verstandestätigkeit sowie des Willens-, Gefühls- oder Trieblebens, welche die bei einem normalen und geistig reifen Menschen vorhandenen, zur Willensbildung befähigenden Vorstellungen und Gefühle beeinträchtigen (RGSt 73, 121; BGH LM StGB § 51 Abs 1 Nr. 5 = MDR 1955, 368). Das gilt auch von einer geschlechtlichen Triebhaftigkeit, die - bei normaler Richtung - derart stark ausgeprägt ist, daß ihr der Träger selbst bei Aufbietung aller ihm eigenen Willenskräfte nicht ausreichend zu widerstehen vermag, oder die infolge ihrer Naturwidrigkeit den Träger in seiner gesamten inneren Grundhaltung und damit im Wesen seiner Persönlichkeit so verändert, daß er zur Bekämpfung des Triebs nicht die erforderlichen Hemmungen aufbringt, selbst wenn der naturwidrige Trieb nur von durchschnittlicher Stärke ist (u.a. BGH 2 StR 365/54 vom 18. Januar 1955, 1 StR 546/55 vom 10. Januar 1956, 1 StR 529/55 vom 28. Februar 1956, 1 StR 72/56 vom 27. April 1956, 1 StR 288/56 vom 28. September 1956, 1 StR 482/55 vom 2. Dezember 1956).
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Allerdings kommt dem gleichgeschlechtlichen Trieb nicht schon um seiner Abartigkeit willen allein die Bedeutung einer krankhaften Störung der Geistestätigkeit zu. Es ist vielmehr davon auszugehen, daß der geistig gesunde Mensch über die erforderlichen inneren Kräfte verfügt, um die ihm aus einem naturwidrigen Geschlechtstrieb erwachsenden Neigungen zu überwinden. Das Gesetz verlangt, daß der einzelne die ihm zur ![]() ![]() | 4 |
c) Die von der Strafkammer aus dem Sachverständigengutachten ohne eigene Würdigung übernommene und im Urteil ohne nähere Begründung angeführte Unterscheidung zwischen "Inversion" und "Perversion" mit ihren gegensätzlichen Schlußfolgerungen für die Zurechnungsfähigkeit des Angeklagten begegnet zumindest in dieser Allgemeingültigkeit beanspruchenden Fassung - Inversion entschuldigt, Perversion entschuldigt nicht - rechtlichen Bedenken. Sie erweckt Zweifel, ob der Sachverständige und mit ihm das Landgericht von dem oben erörterten rechtlichen Begriff der "krankhaften Störung der Geistestätigkeit" ausgegangen sind. Der Satz, es lägen "keine Anzeichen für eine Krankheitswert besitzende Inversion" beim Angeklagten vor, läßt in Gegenüberstellung zu dem folgenden Satz, seine Handlungen entsprängen vielmehr einer Perversion, diese aber sei "nicht geeignet", die Schuldfähigkeit zu beeinträchtigen, die Auslegung zu, Sachverständiger und Strafkammer räumten nur der Inversion als Erscheinungsform der gleichgeschlechtlichen Unzucht einen Einfluß auf die strafrechtliche Verantwortung eines Angeklagten ein, weil diese zu einer "Verweiblichung" führen könne. Ganz abgesehen davon, daß der Sinn des Wortes "Inversion" sich keineswegs in dieser Bedeutung erschöpft, sondern ganz allgemein das Vorhandensein eines "umgekehrten, veränderten" Geschlechtstriebes bezeichnet, läge für eine solche Beschränkung kein Grund vor. Entscheidend für die Frage der Schuldfähigkeit ist allein, ob eine Wesensveränderung gegeben ist, die auf die Einsichtsfähigkeit oder das Hemmungsvermögen des Angeklagten - erheblich - einwirkt, gleichviel ob sie von einer Veränderung ![]() ![]() | 5 |
II. | |
Der festgestellte Mangel zwingt zur Aufhebung des Urteils im ganzen. Wenn auch geschlechtliche Triebstörungen nur selten die Zurechnungsfähigkeit völlig aufheben mögen (vgl. BGH 1 StR 529/55 vom 28. Februar 1956), so läßt sich dies im vorliegenden Fall doch nicht von vornherein sicher ausschließen. Deshalb kann auch der Schuldspruch nicht bestehenbleiben.
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Zugleich sind die dem Urteil zugrunde liegenden Feststellungen, aufzuheben, sofern sie durch den erörterten Rechtsfehler betroffen werden (§ 353 Abs. 2 StPO). Das trifft hier nur auf die innere Tatseite zu.
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Das Revisionsgericht muß bei jeder aufhebenden Entscheidung prüfen, ob und inwieweit die gefundene Gesetzesverletzung auf die dem Urteil zugrunde liegenden Feststellungen einwirkt; in diesem Umfange, aber auch nur in ihm, müssen auch die Feststellungen aufgehoben werden (vgl. Hahn, Die gesamten Materialien zur Strafprozeßordnung, S. 258 zu § 315 des Entwurfs). Von dem Rechtsfehler können tatsächliche Feststellungen sowohl dann betroffen sein, wenn sie auf einem Fehler im Verfahren beruhen (RGSt 2, 289 [291]; 53, 199), wie auch dann, wenn das sachliche Recht verletzt und infolge eines solchen Irrtums schon der Sachverhalt unvollständig oder unrichtig ermittelt worden ist. Die Einwirkung dieser Rechtsmängel kann, was in der Natur der Sache liegt, jeweils nur Teile der Feststellungen berühren. ![]() | 8 |
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Damit macht das Gesetz zugleich die Frage nach der Zulässigkeit einer nur teilweisen Beseitigung der tatsächlichen Grundlagen eines Schuldspruchs unabhängig von der davon nicht immer klar unterschiedenen Frage der Teilbarkeit der Anfechtung einer Verurteilung mit der Rechtsrüge. Die Zulässigkeit der Rechtsmittelbeschränkung richtet sich im wesentlichen nach der rechtlichen Teilbarkeit einer Verurteilung, also der Rechtsfolgen, die Zulässigkeit der Teilaufhebung von Feststellungen aber danach, wieweit sie vom Rechtsfehler in dem oben genannten Sinne "betroffen" sind und wieweit die so betroffenen Feststellungen in tatsächlicher Beziehung selbständig sind, d.h. wieweit sie aus dem Gesamtzusammenhang aller Feststellungen herausgelöst werden können, ohne daß auch die anderen Feststellungen - und sei es auch nur durch Wegfall eines Beweisanzeichens - dadurch in Frage gestellt werden. Das Gebot der möglichst nur teilweisen Aufhebung der Feststellungen gilt sinngemäß für solche Fälle, in denen infolge rechtlicher Teilbarkeit der Verurteilung nur ein Teil von ihr, z.B. der Strafausspruch oder die Verurteilung hinsichtlich einer von mehreren rechtlich selbständigen Taten aufgehoben wird. Hier kommt es für die Selbständigkeit der tatsächlichen Feststellungen darauf an, in welchem Umfange ![]() ![]() | 10 |
Das erörterte Gebot tunlichster Aufrechterhaltung der von der Gesetzesverletzung nicht berührten Feststellungen fällt auch keineswegs aus dem Rahmen der das Strafverfahrensrecht beherrschenden allgemeinen Grundsätze. Zu diesen Grundsätzen gehört es, daß das Revisionsgericht nur die zulässigerweise als rechtlich selbständig angefochtenen Teile des Urteils nachprüfen darf (§ 352 Abs. 1 StPO) und daß es das Urteil nur insoweit aufheben darf, als es die Revision für begründet hält (§ 353 Abs. 1 StPO). Kraft der mit der Beschränkbarkeit der Revision den Rechtsmittelberechtigten grundsätzlich eingeräumten Verfügungsmacht werden die von ihnen nicht angegriffenen selbständigen Teile der Entscheidung samt den ihnen jeweils zugrunde liegenden tatsächlichen Feststellungen rechtskräftig. Auch hier gibt es eine Bindung des mit der zurückgewiesenen Sache befaßten Tatrichters an die nicht aufgehobenen tatsächlichen Grundlagen, etwa bei Aufhebung nur des Strafausspruchs oder einer sichernden Maßregel, d.h. eine Bindung an die den Schuldspruch oder den Strafausspruch im engeren Sinne tragenden Feststellungen. Ähnliches gilt für einen aus Rechtsgründen nur teilweisen Erfolg des Rechtsmittels (BGHSt 7, 283).
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Das Gesetz nimmt solche Bindungen trotz der gedanklich stets gegebenen Möglichkeit in Kauf, daß bei Überprüfung des aufgehobenen Teils einer Entscheidung - etwa bei der Neuentscheidung über den Strafausspruch - Tatsachen hervortreten, die mit den bindend gewordenen Feststellungen zum rechtskräftigen Teil der Entscheidung, also hier zum Schuld ![]() ![]() ![]() | 12 |
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Legt man diese Maßstäbe an, so ist vorliegend ein charakteristischer Fall möglicher Beschränkung der Aufhebung tatsächlicher Feststellungen gegeben.
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Der Aufhebungsgrund (§ 51 StGB) wird durch das äußere Tatgeschehen in keinem Punkte berührt (vgl. BGHSt 9, 104). Die Strafkammer ist bei der neuen Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit des Angeklagten durch den bestehenbleibenden Teil der Feststellungen nicht behindert.
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