BGHSt 22, 26 - Freibeweis über Vorhalt in der Hauptverhandlung | |||
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Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: Rainer M. Christmann, A. Tschentscher | |||
GrundG Art. 103 Abs. 1, StPO § 261 |
2. Strafsenat |
Urteil |
vom 13. Dezember 1967 g.F. |
- 2 StR 544/67 - |
Landgericht Fulda |
Aus den Gründen: | |
Der Angeklagte übte in den Jahren 1964 bis 1966 mit seiner Schwiegermutter mehrfach den Geschlechtsverkehr aus. Anklage und Eröffnungsbeschluß legen ihm, ausgehend von der Anzeige der Schwiegermutter, Notzucht in Tateinheit mit Beischlaf zwischen Verschwägerten zur Last. Die Strafkammer hat ihn jedoch nur eines fortgesetzten Vergehens nach § 173 Abs. 2 Satz 2 StGB für schuldig befunden und ihn zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Seine Revision hat mit der Verfahrensbeschwerde Erfolg.
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Der Angeklagte hat in der Hauptverhandlung geltend gemacht, er habe nicht gewußt, daß der Geschlechtsverkehr zwischen Schwiegereltern und Schwiegerkindern "etwas Verbotenes"' sei. Die Strafkammer hat dennoch sein Unrechtsbewußtsein bejaht und dies wie folgt begründet: Es sei unerheblich, ob der Angeklagte den Geschlechtsverkehr mit seiner Schwiegermutter mit dem Begriff "Blutschande" verbunden habe. Es genüge, daß er ihn als vom Gesetz verbotene geschlechtliche Beziehung erkannt habe; dies aber sei bei ihm zumindest seit seiner Eheschließung der Fall gewesen. Auf dem Land im Kreis H., wo der Angeklagte unter normalen "bürgerlichen" Verhältnissen lebe, sei nach der Erfahrung des Gerichts bekannt, daß der Geschlechtsverkehr zwischen Schwiegereltern und Schwiegerkindern strafbar sei. Daß der Angeklagte um die Strafbarkeit seines Verhaltens gewußt habe, zeige im übrigen mit aller Eindeutigkeit seine polizeiliche Vernehmung vom 19. Januar 1967, in der er eine Gewaltanwendung entschieden in Abrede gestellt, gleichzeitig aber - und zwar in Bezug auf einverständlichen Verkehr - erklärt habe: Ich erstatte gegen meine Schwiegermutter Strafanzeige über genau das, was sie mir angehängt hat."
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Gegen diese Ausführungen wendet sich die Revision mit der Behauptung, daß die von der Strafkammer angeführte Stelle aus dem polizeilichen Vernehmungsprotokoll nicht Gegenstand der Hauptverhandlung gewesen sei; sie sei weder verlesen noch dem Angeklagten vorgehalten worden. Der Beschwerdeführer sieht aus diesem Grunde in der Verwertung des Protokolls einen Verfahrensverstoß. Seine Rüge ist begründet.
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1. Die von der Revision beanstandete Stelle des polizeilichen Vernehmungsprotokolls war nicht Gegenstand der Hauptverhandlung. Dies folgt aus den dienstlichen Außerungen der drei an der Hauptverhandlung beteiligt gewesenen Berufsrichter, die übereinstimmend erklärt haben, dem Angeklagten sei ein entsprechender Vorhalt nicht gemacht worden. Daß das Protokoll in anderer Form als durch Vorhalt an den Angeklagten in die Hauptverhandlung eingeführt wurde, ist auszuschließen. Dennoch wurde es im Urteil zum Nachteil des Angeklagten verwertet, indem es, wie die Urteilsgründe zeigen, mit zum Nachweis dafür herangezogen wurde, daß der Angeklagte die Strafbarkeit des Geschlechtsverkehrs mit seiner Schwiegermutter kannte. Die Strafkammer hat demnach ihre Überzeugung nicht ausschließlich aus dem Inbegriff der Verhandlung gewonnen und damit gegen § 261 StPO verstoßen. Auf diesem Verfahrensfehler kann das angefochtene Urteil beruhen; es kann deshalb keinen Bestand haben.
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2. Zwar ergibt sich der Fehler nicht aus Urteil oder Sitzungsniederschrift. Der Senat war aber nicht gehindert, die dienstlichen Erklärungen der Richter zu verwerten.
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Dabei kann auf sich beruhen, ob es dem Revisionsgericht ausnahmslos verwehrt ist, über das Ergebnis der tatrichterlichen Beweisaufnahme selbst Beweis zu erheben, etwa den Inhalt von Aussagen zu rekonstruieren (vgl. BGHSt 21, 149). Uni einen solchen Fall handelt es sich hier nicht. Hier ist nicht zweifelhaft, wie sich der Angeklagte in der Hauptverhandlung eingelassen hat. Fraglich ist vielmehr der äußere Ablauf der Hauptverhandlung, ob nämlich eine ganz bestimmte, im Urteil ausdrücklich erwähnte Urkunde überhaupt Gegenstand der Hauptverhandlung war und ob der Angeklagte demzufolge Gelegenheit hatte, zu ihr Stellung zu nehmen. Aus dem Schweigen des Sitzungsprotokolls kann hierfür keine abschließende Erkenntnis gewonnen werden, da der - hier allein in Betracht kommende - Vorhalt des Vernehmungsprotokolls nicht zu den von § 274 StPO erfaßten wesentlichen Förmlichkeiten gehört und ein Vorhalt dieser Art erfahrungsgemäß nur selten in der Sitzungsniederschrift vermerkt wird. Dadurch ist jedoch die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, den Verfahrensverstoß mit anderen Mitteln nachzuweisen; diese Möglichkeit muß hier sogar eröffnet sein, wenn anders nicht der Anspruch des Angeklagten auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) entscheidend beeinträchtigt werden soll. Das ergeben folgende Erwägungen:
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Gründet das Gericht seine Überzeugung auch auf Tatsachen, die nicht Gegenstand der Hauptverhandlung waren, zu denen sich also der Angeklagte dem erkennenden Gericht gegenüber nicht abschließend äußern konnte, so verstößt das Verfahren nicht nur gegen § 261 StPO, sondern zugleich auch gegen Art. 103 Abs. 1 GG. Der Verfahrensmangel würde, wie keiner näheren Ausführungen bedarf, einer Verfassungsbeschwerde zum Erfolg verhelfen (vgl. BVerfGE 19, 198 [200, 201]). Es ist nun kein Grund ersichtlich, der es rechtfertigen könnte, deshalb die Entscheidung über das Vorliegen des Verfahrensmangels dem Bundesverfassungsgericht vorzubehalten. Vielmehr ist in allen Fällen, in denen die Revision eine Verletzung des Art. 103 Abs. 1 GG in der Form des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO schlüssig behauptet, schon das Revisionsgericht nicht nur berechtigt, sondern mit Rücksicht auf die vorrangige Bedeutung der Verfassungsnorm auch verpflichtet, selbst den von der Revision erhobenen Vorwurf zu prüfen. Dabei kann und muß es sich aller ihm zur Verfügung stehenden Beweismittel bedienen und zwar auch dann, wenn das Strafverfahrensrecht als solches eine Beweiserhebung nicht vorsieht; denn nur auf diese Weise ist der Anspruch auf rechtliches Gehör ohne Einschränkung gewährleistet. Zugleich werden die Forderungen nach Beschleunigung des Strafverfahrens und Prozeßwirtschaftlichkeit beachtet, da nicht erst die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts herbeigeführt und abgewartet werden muß, sondern über den Bestand des angefochtenen Urteils sofort abschließend entschieden werden kann.
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