BGHSt 42, 170 - Polizeiliche Vernehmung eines nichtverteidigten Beschuldigten II | |||
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Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: Brian Valerius | |||
StPO § 163 a Abs. 4 Satz 2, § 136 Abs. 1 Satz 2, § 137 Abs. 1 Satz 1 |
1. Strafsenat |
Urteil |
vom 21. Mai 1996 g.N. |
- 1 StR 154/96 - |
Landgericht Ulm |
Aus den Gründen: | |
Das Landgericht hat den Angeklagten u.a. wegen Mordes verurteilt.
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Seine Revision ist nicht begründet.
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a) Zwar hat er sich im Verlauf dieser Vernehmung nach ordnungsgemäßer Belehrung über seine Rechte als Beschuldigter (§ 163 a Abs. 4 Satz 2, § 136 Abs. 1 Satz 2 StPO) insgesamt dreimal auf sein Recht berufen, Angaben ohne Hinzuziehung eines Verteidigers zu verweigern. Er hat sich aber - nach jeweils kurzer Unterbrechung der Vernehmung - doch bereitgefunden, zunächst Angaben zu seiner Person und schließlich auch zur Sache zu machen, nachdem er wegen der Vernehmung zur Nachtzeit keinen Verteidiger erreichen konnte. Anhaltspunkte dafür, daß die freie Willensentschließung des Angeklagten von seiten der Vernehmungsbeamten dabei durch Zwang oder Täuschung beeinflußt worden wäre, sind nicht ersichtlich. Insbesondere fehlt jeder Hinweis auf eine Übermüdung des seinerzeit Beschuldigten (zu den strengen Voraussetzungen dieser Alternative des § 136 a Abs. 1 Satz 1 StPO s. BGH NJW 1992, 2903, 2904) oder darauf, daß ihm die Beiziehung eines Rechtsanwalts verwehrt worden wäre (BGHSt 38, 372).
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Das Vorgehen der Vernehmungsbeamten verstieß nicht gegen § 163 a Abs. 4, § 136, § 136 a StPO. Nach dem klaren Wortlaut dieser Bestimmungen mußte der Beschuldigte über sein Schweigerecht und die Möglichkeit belehrt werden, einen Verteidiger zu befragen. Das ist geschehen. Der Gang der Vernehmung zeigt, daß er seine Rechte auch verstanden hat. Verbotene Vernehmungsmethoden haben die Polizeibeamten nicht angewendet. Jenseits der von § 136 a StPO gezogenen Grenzen geht die Strafprozeßordnung davon aus, daß ein im vollen Besitz seiner geistigen Kräfte befindlicher Beschuldigter (für den Fall geistiger Beeinträchtigung s. BGHSt 39, 349, 351) selbst und frei entscheiden kann und muß, inwieweit er die in der Belehrung eröffneten Rechte für sich in Anspruch nehmen will. Ein Verbot, die Vernehmung in Fällen wie dem vorliegenden fortzusetzen, kann der Strafprozeßordnung nicht entnommen werden (BGH NJW 1992, 2903, 2904 f.).
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Ein solches Verbot ergibt sich auch nicht aus dem (verfassungsmäßig verankerten) Grundsatz des fairen Verfahrens. Allerdings hat der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs in seinem Urteil vom 12. Januar 1996 (5 StR 756/94, BGHSt 42, 15) ausgesprochen, das Gebot eines fairen Verfahrens zwinge nicht nur dazu, eine polizeiliche Vernehmung zu unterbrechen, wenn ein Beschuldigter zunächst nach einem Rechtsanwalt verlange, sondern die Vernehmung ohne Verteidiger dürfe nur dann fortgesetzt werden, wenn die Polizei sich zuvor ernsthaft bemüht habe, dem Beschuldigten bei der Herstellung des Kontaktes zu einem Verteidiger zu helfen, und ihn danach nochmals ausdrücklich auf sein Recht, einen Verteidiger hinzuzuziehen, hingewiesen habe. Bei einem Verstoß gegen diese Grundsätze hat der 5. Strafsenat ein Verwertungsverbot angenommen.
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Dem vermag sich der erkennende Senat jedenfalls für den hier zu entscheidenden Fall, in dem es wegen der mitternächtlichen Stunde wenig Aussichten gab, am Vernehmungsort einen Rechtsanwalt zu erreichen, nicht anzuschließen. Es ist zunächst Aufgabe des Gesetzgebers, den Verfassungsgrundsätzen der Rechtsstaatlichkeit und Achtung der Menschenwürde, aus denen das Gebot eines fairen Strafverfahrens erwächst, durch die Ausgestaltung des Strafprozeßrechts Rechnung zu tragen. Erst wenn eine Abwägung des öffentlichen Interesses an der Wahrheitsfindung (vgl. dazu BGHSt 38, 214, 220sowie BVerfG NStZ 1996, 45) mit den verfassungsrechtlich geschützten Belangen des Beschuldigten ergibt, daß die Anwendung geltenden Strafprozeßrechts zu einem verfassungsrechtlich nicht hinnehmbaren Eingriff in die Beschuldigtenrechte führt, ist Raum für eine Korrektur oder Ergänzung der Strafprozeßordnung. Dem 5. Strafsenat ist darin zuzustimmen, daß ein solcher Fall dann eintreten kann, wenn zwar die Belehrungspflichten vor einer Vernehmung beachtet werden, dem Beschuldigten sodann jedoch von seiten der Ermittlungsorgane bedeutet wird, er werde seine prozessualen Rechte nicht durchsetzen können. In der Entscheidung BGHSt 38, 372, auf die der 5. Strafsenat sich stützt, hatte der vernehmende Polizeibeamte dem Beschuldigten nach Belehrung die Kontaktaufnahme zu einem Rechtsanwalt aktiv verweigert und zugleich erklärt, die Vernehmung werde (ohne Anwalt) solange fortgesetzt, "bis Klarheit herrsche". So liegen die Dinge hier aber nicht. Es kann nicht die Rede davon sein, daß der Angeklagte in irgendeiner Form genötigt worden wäre, seine Beschuldigtenrechte nicht geltend zu machen. Vielmehr ist seine Entscheidung, ohne Anwalt keine Angaben zur Sache zu machen, von den Polizeibeamten zunächst akzeptiert worden. Danach ist dem Beschuldigten - unter erneuter Belehrung über seine Rechte - die vorläufige Festnahme eröffnet worden. Er hat sodann in Kenntnis seiner Rechte versucht, ohne Hinzuziehung eines Verteidigers den gegen ihn bestehenden Tatverdacht durch - seiner Meinung nach - entlastende Angaben zur Sache zu entkräften. Diese Angaben mußten die vernehmenden Beamten entgegennehmen, wollten sie nicht sein Recht, sich zu verteidigen, verletzen.
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Dem Urteil des 5. Strafsenats vom 12. Januar 1996 lag ein Fall zugrunde, in dem die Polizei den Beschuldigten durch Vorlage des besonders umfangreichen - und damit unüberschaubaren - Branchenverzeichnisses Hamburger Rechtsanwälte von der Aussichtslosigkeit überzeugt hatte, einen geeigneten Verteidiger zu seiner nächtlichen Vernehmung hinzuzuziehen, anstatt ihn auf den für die Stadt Hamburg eingerichteten anwaltlichen Notdienst hinzuweisen. Sollte dieses Urteil dahin zu verstehen sein, daß der 5. Strafsenat die in der Entscheidung BGHSt 38, 372 entwickelten Grundsätze ausnahmslos auch auf alle Fälle übertragen will, in denen - wie hier - einem Beschuldigten die volle Entscheidungsfreiheit darüber belassen wird, ob und wann er Angaben zur Sache machen will, so könnte dem nicht gefolgt werden.
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Auch § 137 Abs. 1 Satz 1 StPO ist nicht verletzt worden. Aus dem Recht des Beschuldigten, in jeder Lage des Verfahrens einen Verteidiger hinzuzuziehen, folgt nicht das Verbot, einen aussagebereiten Beschuldigten ohne Verteidiger zu vernehmen, nur weil er zu einem früheren Zeitpunkt nach einem solchen verlangt hatte. Zwar wird in der Literatur allgemein gefordert, eine Vernehmung sei zu unterbrechen, wenn der Beschuldigte den Wunsch äußere, zunächst einen Anwalt zu sprechen (Strate/Ventzke StV 1986, 30, 31 Fußn. 16), doch darf die Vernehmung nach einer gewissen Bedenkzeit fortgesetzt werden. Die gegenteilige Auffassung, die sich auf den Zusammenhang der Vorschriften über die Beschuldigtenvernehmung stützt (Strate/Ventzke a.a.O.), überzeugt nicht. Der ordnungsgemäß belehrte Beschuldigte hätte seine Rechte aus § 137 Abs. 1 Satz 1 StPO hier unschwer durchsetzen können, wenn er bei seiner Vernehmung weitere Angaben verweigert hätte.
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b) Im übrigen weist der Senat darauf hin, daß selbst dann, wenn man die Vorgehensweise der Vernehmungsbeamten als verfahrensfehlerhaft ansehen wollte, dies kein Verwertungsverbot für die polizeilichen Vernehmungsergebnisse zur Folge hätte.
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Die Entscheidung für oder gegen ein solches Verbot ist aufgrund einer allgemeinen Abwägung der im Rechtsstaatsprinzip angelegten gegenläufigen Gebote und Ziele zu treffen (BGHSt 38, 214, 219 ff.; BGH NJW 1992, 2903, 2905; vgl. auch BVerfG a.a.O.). Bei dieser Abwägung ist mitentscheidend, ob ein schwerwiegender Rechtsverstoß vorliegt und ein Beschuldigter in besonderem Maße des Schutzes bedarf. Letzteres hat der 5. Strafsenat für den Fall einer unterbliebenen Belehrung nach § 163 a Abs. 4, § 136 StPO zutreffend verneint, weil der Beschuldigte dort anderweitig über seine Rechte informiert war (BGHSt 38, 214, 224).
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Auch im vorliegenden Fall, in dem der Beschuldigte ordnungsgemäß über seine Rechte aufgeklärt, die Vernehmung mehrmals unterbrochen worden war und er lediglich aus seiner Sicht entlastende Angaben gemacht hatte, wöge eine Verletzung der Beschuldigtenrechte nicht so schwer, daß daraus ein Verwertungsverbot folgen müßte. Zwar hat der 5. Strafsenat im Urteil vom 12. Januar 1996 ausgesprochen, die Rechtssicherheit verbiete es, bei der Frage nach einem Verwertungsverbot zwischen Rechtsverstößen unterschiedlicher Schwere zu differenzieren, wenn - wie auch immer - der Wunsch eines Beschuldigten nach einem Verteidiger "unterlaufen" werde. Bei dieser Auffassung unterbleibt im Ergebnis die gebotene Abwägung. Der erkennende Senat hält demgegenüber an dem Abwägungserfordernis ohne Einschränkung fest.
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c) Die angeführte Entscheidung des 5. Strafsenats steht der vorliegenden Entscheidung schon deshalb nicht entgegen, weil die Ausführungen des 5. Strafsenats zum Verstoß gegen das Recht auf ein faires Verfahren und zu dem daraus abgeleiteten Verwertungsverbot das Urteil vom 12. Januar 1996 nicht tragen. In jenem Verfahren wurde die Revision des Angeklagten deshalb verworfen, weil die Verteidigung in der Hauptverhandlung erster Instanz der Verwertung der beanstandeten Vernehmungsergebnisse nicht in der nach Auffassung des 5. Strafsenats gebotenen Weise widersprochen hatte.
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