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Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: Brian Valerius, A. Tschentscher | |||
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Einem Angeklagten ist daher nicht allein deswegen ein Pflichtverteidiger beizuordnen, weil er die deutsche Sprache nicht beherrscht und wegen seiner Mittellosigkeit nicht in der Lage ist, die Kosten für einen Dolmetscher aufzubringen. |
StPO § 140 Abs. 2 Satz 1; MRK Art. 6 Abs. 3 Buchst. c und e |
3. Strafsenat |
Beschluss |
vom 26. Oktober 2000 g.A. |
- 3 StR 6/00 - |
I. Amtsgericht Delmenhorst II. Oberlandesgericht Oldenburg |
Aus den Gründen: | |
I. | |
Der Jugendrichter in Delmenhorst hat die Angeklagten - der deutschen Sprache nicht mächtige, von Sozialhilfe in der Form von Warengutscheinen und Taschengeld lebende Asylbewerber - wegen "je eines gemeinschaftlichen Diebstahls und darüber hinaus zweier einzeln begangener Diebstähle" jeweils zu einem Dauerarrest von zwei Wochen verurteilt. Mit ihren Revisionen rügen die Angeklagten übereinstimmend die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Namentlich machen sie mit der Verfahrensrüge den absoluten Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO geltend, weil ihnen unter Verstoß gegen § 68 Nr. 1 JGG, § 140 Abs. 2 Satz 1 StPO bzw. Art. 6 Abs. 3 Buchst. c MRK kein Verteidiger beigeordnet worden sei. ![]() | 1 |
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Hieran sieht sich das Oberlandesgericht Oldenburg jedoch durch den Beschluß des Bayerischen Obersten Landesgerichts vom 20. Dezember 1989 (RReg 4 St 245/89 = StV 1990, 103) gehindert. Dieses hat dort entschieden, daß einem Angeklagten, der die deutsche Sprache nicht beherrscht, unabhängig von der Bedeutung des strafrechtlichen Vorwurfs jedenfalls dann ein Pflichtverteidiger beigeordnet werden muß, wenn er mittellos ist und daher die Kosten für einen Dolmetscher, ohne den er sich mit einem Wahlverteidiger nicht hinreichend verständigen könnte, nicht aufzubringen vermag.
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Das Oberlandesgericht Oldenburg hat die Sache deshalb gemäß § 121 Abs. 2 GVG zur Entscheidung folgender Rechtsfrage vorgelegt:
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"Ist einem Angeklagten, der die deutsche Sprache nicht beherrscht, unabhängig von der Bedeutung des strafrechtlichen Vorwurfs jedenfalls dann ein Pflichtverteidiger beizuordnen, wenn er mittellos ist und daher die Kosten für einen Dolmetscher nicht aufzubringen vermag?"
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II. | |
Die Vorlage ist zulässig. Das Oberlandesgericht Oldenburg kann die Revisionen der Angeklagten nicht wie beabsichtigt verwerfen, ohne von den die Entscheidung tragenden Erwägungen des genannten Beschlusses des Bayerischen Obersten Landesgerichts abzuweichen. Seine Auffassung, die aufgeworfene Rechtsfrage sei entscheidungserheblich, weil die Revisionen der Angeklagten aus anderen Gründen weder mit der Sach- noch mit der Verfahrensrüge Erfolg haben könnten, ist rechtlich vertretbar. Sie ist daher bei der Prüfung der Vorlegungsvoraussetzungen durch den Senat zugrunde zu legen (vgl. BGHSt 22, 94, 100; 33, 183, 186; 34, 101, 103 ff.).
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1. Dies gilt insbesondere für die Ansicht des vorlegenden Gerichts, den jugendlichen, strafrechtlich noch nicht in Erscheinung getretenen Angeklagten habe wegen der denkbaren straf- und aus ![]() ![]() | 7 |
Ebenso ist seine Auffassung rechtlich vertretbar, daß weder wegen der Taten an sich (Ladendiebstähle) noch wegen der Beweislage (weitgehende Geständigkeit der Angeklagten; ein Zeuge zu vernehmen) oder wegen Besonderheiten des Verfahrens (gleichzeitige Verhandlung gegen zwei Angeklagte; Hinzuverbindung eines weiteren Verfahrens gegen den Angeklagten Ma. A. in der Hauptverhandlung unter Verzicht auf sämtliche Fristen) die Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage die Beiordnung von Verteidigern gebot. Bestehen beim Angeklagten sprachbedingte Verständigungsschwierigkeiten, so kann dies zwar dazu führen, daß die Bestellung eines Verteidigers unter dem Gesichtspunkt der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage eher geboten sein kann, als dies sonst der Fall ist (BVerfGE 64, 135, 150 m.w.N.). Ausnahmslos trifft dies indessen nicht zu.
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2. Die vom vorlegenden Gericht dem Senat zur Entscheidung unterbreitete Rechtsfrage ist auf die besondere Fallgestaltung beschränkt, daß die des Deutschen nicht mächtigen Angeklagten nicht über die finanziellen Mittel verfügen, um die Kosten für einen Dolmetscher (gemeint: zur Verständigung mit einem Wahlverteidiger außerhalb der Hauptverhandlung) aufzubringen. Hierauf kommt es für die Entscheidung des Oberlandesgerichts jedoch nur dann an, wenn nicht - unabhängig von der Tatschwere und der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage - allein schon die Sprachunkundigkeit eines Angeklagten stets seine Fähigkeit, sich selbst gegen den Tatvorwurf zu verteidigen, ausschließt (§ 140 Abs. 2 Satz 3 Alt. 3 StPO) und es daher in einem derartigen Fall, wenn ein Wahlverteidiger nicht mandatiert wurde, unabhängig von den finanziellen Verhältnissen des Angeklagten stets zur Beiordnung eines Pflichtverteidigers kommen muß (so teilweise das Schrifttum: Lüderssen in Löwe/Rosenberg, StPO 24. Aufl. § 140 Rdn. 80 f.; Molketin AnwBl 1980, 442, 448; nicht eindeutig Strate StV 1981, 46 ff. und Oellerich StV 1981, 434, 438 f.). Auch dies hat das vorlegende Gericht indessen in vertretbarer Weise verneint. ![]() | 9 |
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Die Ansicht des vorlegenden Gerichts weicht in diesem Punkt daher auch nicht von der Rechtsprechung der übrigen Obergerichte ab. Denn soweit dort nicht die finanzielle Unfähigkeit des Angeklagten, einen für die Verständigung mit einem (Wahl-)Verteidiger außerhalb der Hauptverhandlung notwendigen Dolmetscher zu entlohnen, als allein entscheidender Umstand für die Notwendigkeit der Beiordnung eines Pflichtverteidigers angesehen wurde (vgl. KG StV 1985, 184, 185; 1986, 239; anders aber KG NStZ 1990, 402 ff.; OLG Zweibrücken StV 1988, 379; BayObLG StV 1990, 103), waren stets weitere Umstände neben den Verständigungsschwierigkeiten des Angeklagten maßgeblich dafür, daß im Einzelfall die Bestellung eines Pflichtverteidigers nach § 140 Abs. 2 Satz 1 StPO als geboten angesehen wurde.
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3. Die Vorlegungsfrage bedarf der Präzisierung. Während die Sprachunkundigkeit des Angeklagten nach Ansicht des vorlegenden Gerichts für sich allein die Notwendigkeit der Beiordnung eines Pflichtverteidigers nicht zu begründen vermag, fordert sie nach Auffassung des Bayerischen Obersten Landesgerichts, wie sich aus dem Gesamtzusammenhang seiner Entscheidung ergibt, unabhängig von den sonstigen Umständen des Einzelfalles stets die Bestellung eines Verteidigers. Es kommt daher auf die Maßgeblichkeit oder Unmaßgeblichkeit der Bedeutung des strafrechtlichen Vorwurfs nicht an. Aus diesem Grund formuliert der Senat die zu beantwortende Frage wie folgt: ![]() | 12 |
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III. | |
Diese Frage ist zu verneinen.
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1. Wie bereits dargelegt, beruhen die unterschiedlichen Rechtsmeinungen des Bayerischen Obersten Landesgerichts und des vorlegenden Gerichts im Kern nicht auf einer abweichenden Auslegung der in § 140 Abs. 2 Satz 1 StPO normierten tatbestandlichen Voraussetzungen einer notwendigen Verteidigung.
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Aus den Gründen des Beschlusses des Bayerischen Obersten Landesgerichts vom 20. Dezember 1989 (StV 1990, 103) und insbesondere der dort als Beleg zitierten Entscheidung des Kammergerichts in StV 1985, 184 f. (aufgegeben durch KG NStZ 1990, 402) ergibt sich vielmehr, daß das Bayerische Oberste Landesgericht unabhängig von den in § 140 Abs. 2 Satz 1 StPO umschriebenen Voraussetzungen die Bestellung eines Pflichtverteidigers in analoger Anwendung dieser Vorschrift für geboten erachtete, um dem dortigen Angeklagten ein faires, rechtsstaatliches Verfahren zu gewährleisten. Dem liegt ersichtlich die Auffassung zugrunde, daß das durch Art. 6 Abs. 3 Buchst. e MRK gewährleistete Recht eines der Gerichtssprache nicht kundigen Angeklagten, die unentgeltliche Beiziehung eines Dolmetschers zu verlangen, auch für vorbereitende Gespräche mit einem Wahlverteidiger gelte; da aber das deutsche Kostenrecht lediglich für den gerichtlich bestellten Anwalt über § 97 Abs. 2 Satz 1 und 2, § 126 BRAGO die Erstattung der notwendigen Auslagen ermögliche, die für die erforderliche Zuziehung eines Dolmetschers zu Gesprächen zwischen dem Verteidiger und dem Angeklagten außerhalb der Hauptverhandlung anfallen, sei die Bestellung eines Verteidigers geboten, um dem Angeklagten die durch Art. 6 Abs. 3 Buchst. e MRK garantierte Unentgeltlichkeit auch dieser Dolmetschertätigkeit zu sichern (so auch Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO 44. Aufl. § 140 Rdn. 32 und Art. 6 MRK Rdn. 25; Laufhütte in KK 4. Aufl. § 140 Rdn. 25; Pfeiffer, StPO 2. Aufl. § 140 Rdn. 7).
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Demgegenüber ist das vorlegende Gericht der Ansicht, daß der Anspruch des sprachunkundigen Angeklagten auf unentgeltliche ![]() ![]() | 17 |
2. Entgegen der Auffassung des vorlegenden Gerichts räumt Art. 6 Abs. 3 Buchst. e MRK dem der Gerichtssprache nicht mächtigen Angeklagten (Beschuldigten) unabhängig von seiner finanziellen Lage für das gesamte Strafverfahren und damit auch für vorbereitende Gespräche mit einem Verteidiger einen Anspruch auf unentgeltliche Zuziehung eines Dolmetschers ein, auch wenn kein Fall der notwendigen Verteidigung im Sinne des § 140 StPO oder des Art. 6 Abs. 3 Buchst. c MRK gegeben ist (a); indessen ist es zur Gewährleistung der Unentgeltlichkeit nicht erforderlich, dem Angeklagten einen Pflichtverteidiger beizuordnen (b).
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a) Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in seinem Urteil vom 23. Oktober 1978 (NJW 1979, 1091) nicht nur festgestellt, daß das in Art. 6 Abs. 3 Buchst. e MRK gewährleistete Recht auf unentgeltliche Beiziehung eines Dolmetschers für jedermann, der die Verhandlungssprache des Gerichts nicht spricht oder versteht, den Anspruch auf unentgeltlichen Beistand eines Dolmetschers einschließt, ohne daß im Nachhinein Zahlung der dadurch verursachten Kosten von ihm verlangt werden darf. Er hat darüber hinaus auch dargelegt, daß sich dieser Anspruch nicht nur auf den in der Hauptverhandlung tätigen Dolmetscher beziehe, sondern für das gesamte Verfahren gelte und sicherstelle, daß dem sprachunkundigen Angeklagten sämtliche Schriftstücke und mündliche Erklärungen in dem gegen ihn geführten Verfahren übersetzt werden, auf deren Verständnis er angewiesen ist, um ein faires Verfahren zu haben (a.a.O. S. 1092). ![]() | 19 |
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Danach hat der sprachunkundige Angeklagte gemäß Art. 6 Abs. 3 Buchst. e MRK Anspruch darauf, daß alle seine schriftlichen und mündlichen Verfahrenserklärungen, die strafprozessual vorgesehen sind, für ihn unentgeltlich in die Gerichtssprache übersetzt werden, insbesondere wenn das nationale Recht, wie etwa § 184 GVG, die Wirksamkeit der Erklärung davon abhängig macht, daß sie in der Gerichtssprache abgegeben wird (vgl. dazu BGHSt 30, 182). Verfahrenserklärungen des Angeklagten sind nach deutschem Strafprozeßrecht aber nicht nur im Rahmen mündlicher Vernehmungen und Verhandlungen vorgesehen, für die schon vom Gericht oder den Ermittlungsbehörden ein Dolmetscher zu ![]() ![]() | 21 |
Zu den strafprozessualen Rechten des Angeklagten zählt insbesondere seine Befugnis, sich in jeder Verfahrenslage des Beistands eines Verteidigers zu bedienen (§ 137 Abs. 1 Satz 1 StPO, Art. 6 Abs. 3 Buchst. c MRK). Ein des Deutschen nicht mächtiger Angeklagter kann dieses Recht in effektiver Weise nur wahrnehmen, wenn ihm eine Verständigung mit dem Verteidiger möglich ist. Abgesehen von dem besonderen Fall, daß der Verteidiger die Muttersprache des Angeklagten beherrscht, ist hierzu die Zuziehung eines Dolmetschers erforderlich. Mit den hierfür anfallenden Kosten darf der Angeklagte gemäß Art. 6 Abs. 3 Buchst. e MRK ebenfalls nicht belastet werden. Denn auch das Gespräch zwischen Angeklagtem und Verteidiger zur Vorbereitung der Verteidigung besteht aus Erklärungen, die im Rahmen des Strafverfahrens abgegeben werden. Soweit demgegenüber die Ansicht vertreten wird, Art. 6 Abs. 3 Buchst. e MRK beschränke die Unentgeltlichkeit der Dolmetscherleistung auf "Prozeßhandlungen des Beschuldigten oder gegenüber dem Beschuldigten" (Wolf StV 1992, 364, ![]() ![]() | 22 |
b) Zur umfassenden Gewährleistung des Anspruchs des der Gerichtssprache nicht kundigen Angeklagten aus Art. 6 Abs. 3 Buchst. e MRK ist es nicht erforderlich, ihm einen Pflichtverteidiger zu bestellen. Die Auffassung, die Beiordnung sei notwendig, weil nach § 97 Abs. 2 Satz 1 und 2, § 126 BRAGO eine Erstattung der Dolmetscherkosten nur für Gespräche zwischen Angeklagtem und Pflichtverteidiger gesetzlich vorgesehen sei, greift zu kurz.
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Sie vermag schon nicht zu erklären, wie der sprachunkundige Angeklagte von den Kosten freigestellt werden soll, die für die Übersetzung solcher Verfahrenserklärungen anfallen, die er unabhängig von der Zuziehung eines Verteidigers außerhalb mündlicher Verhandlungen oder sonstiger anberaumter Termine eigenständig abgeben kann (s. oben), und müßte daher insoweit einen Konventionsverstoß in Kauf nehmen, solange der Gesetzgeber nicht eingreift (vgl. Gollwitzer in Löwe/Rosenberg, StPO 24. Aufl. Art. 6 MRK Rdn. 244).
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Sie übersieht aber auch den Gesichtspunkt der Einheitlichkeit der Rechtsordnung. Die MRK steht innerstaatlich im Rang eines einfachen Bundesgesetzes (Kleinknecht/Meyer-Goßner a.a.O. vor Art. 1 MRK Rdn. 3 m.w.N.). Wenn sie in Art. 6 Abs. 3 Buchst. e dem Angeklagten die unentgeltliche Zuziehung eines Dolmetschers in dem dargestellten Umfang garantiert, kann die Erfüllung dieser Garantie nicht davon abhängen, daß daneben im anderweitigen Bundesrecht einfachgesetzliche kostenrechtliche Bestim ![]() ![]() | 25 |
Wie die Lücken des Kostenrechts bis zu einem Tätigwerden des Gesetzgebers im einzelnen auszufüllen sind, braucht der Senat für die Beantwortung der Vorlegungsfrage nicht zu entscheiden. In Betracht kommt etwa die entsprechende Anwendung des § 2 Abs. 4 GKG (so KG NStZ 1990, 402, 404), der §§ 3, 17 ZSEG (vgl. OLG Köln StraFo 1999, 69, 70), aber auch des § 126 BRAGO, um die Kostenfreistellung bzw. -erstattung auf die erforderlichen Kosten zu beschränken.
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Nach alledem ist es weder genügend noch erforderlich, auf eine innerstaatliche Kostenvorschrift zurückzugreifen, die für den besonderen Fall der Pflichtverteidigung die Erstattung von Dolmetscherkosten ausschließlich für Verteidigergespräche ermöglicht, und, um deren tatbestandlichen Voraussetzungen zu genügen, einen Pflichtverteidiger zu bestellen, obwohl ein Fall notwendiger Verteidigung nicht vorliegt.
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3. Die Vorlegungsfrage ist daher wie aus der Entscheidungsformel ersichtlich zu beantworten.
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