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Informationen zum Dokument  BVerfGE 92, 126 - Parabolantenne II  Materielle Begründung
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Zitiert durch:
BVerfGE 106, 253 - Zählverfahren
BVerfGE 105, 365 - Beschlagnahme bei Berufsgeheimnisträgern

Zitiert selbst:

I.
1. Die Beschwerdeführer sind türkische Staatsangehö ...
2. Mit dem angegriffenen - vor der Entscheidung des Bundesverfass ...
3. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügen die Beschwerdef&uum ...
4. Dem Justizministerium des Landes Nordrhein-Westfalen und der G ...
II.
1. Nach § 32 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im St ...
2. Die Verfassungsbeschwerde ist weder unzulässig noch offen ...
3. Bei offenem Ausgang des Verfassungsbeschwerdeverfahrens hä ...
Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: A. Tschentscher  
 
BVerfGE 92, 126 (126)Beschluß
 
des Ersten Senats vom 7. Februar 1995  
-- 1 BvR 2116/94 --  
in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde 1. der Frau A..., 2. des Herrn A... - Bevollmächtigte: Rechtsansälte Dr. Joachim Baltes und Georg Rixe, Hauptstraße 60, Bielefeld - gegen a) das Urteil des Landgerichts Bielefeld vom 28. September 1994 - 2 S. 320/94 -, b) das Urteil des Amtsgerichts Bielefeld vom 13. Mai 1994 - 42 C 62/94 -, hier: Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung.  
BVerfGE 92, 126 (126)BVerfGE 92, 126 (127)Entscheidungsformel:  
Die Wirkung der Urteile des Amtsgerichts Bielefeld vom 13. Mai 1994 - 42 C 62/94 - und des Landgerichts Bielefeld vom 28. September 1994 - 2 S. 320/94 - wird für die Dauer von sechs Monaten, längstens bis zur Entscheidung in der Hauptsache ausgesetzt.  
 
Gründe:
 
Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen ein Räumungsurteil, das ergangen ist, weil die Beschwerdeführer die Verurteilung zur Entfernung einer Parabolantenne nicht befolgt haben.
1
I.  
1. Die Beschwerdeführer sind türkische Staatsangehörige, die mit ihren zwei schulpflichtigen Kindern eine Mietwohnung in einem Mehrfamilienhaus bewohnen. Das Haus ist an das Breitbandkabelnetz angeschlossen, in das ein türkisches Fernsehprogramm eingespeist wird. Die Beschwerdeführer installierten am Balkon ihrer Wohnung eine Parabolantenne, mit der mehrere türkische Fernsehprogramme empfangen werden können. Die Vermieterin verlangte von den Beschwerdeführern die Entfernung der Parabolantenne.
2
Das Amtsgericht verurteilte die Beschwerdeführer am 20. August 1993, die Parabolantenne zu entfernen. Dieses Urteil wurde vom Bundesverfassungsgericht am 29. Juni 1994 wegen Verstoßes gegen das Grundrecht der Informationsfreiheit aufgehoben (1 BvR 1737/93).
3
Die Beschwerdeführer befolgten das in Rechtskraft erwachsene Urteil des Amtsgerichts nicht. Sie unterrichteten die Vermieterin davon, daß sie Verfassungsbeschwerde erhoben hatten, und baten sie um Mitteilung eines ihr genehmen Standorts für die Parabolantenne. Diese ging darauf nicht ein, sondern erwirkte gemäß § 887 ZPO einen Vollstreckungsbeschluß des Amtsgerichts, der sie zur Ersatzvornahme ermächtigte. Die sofortige Beschwerde der Beschwerdeführer gegen diesen Beschluß blieb erfolglos. Die BeBVerfGE 92, 126 (127)BVerfGE 92, 126 (128)schwerdeführer brachten die auf Veranlassung der Vermieterin abmontierte Antenne umgehend wieder an. Daraufhin kündigte die Vermieterin das Mietverhältnis fristlos.
4
2. Mit dem angegriffenen - vor der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ergangenen - Urteil entschied das Amtsgericht, daß die Beschwerdeführer die Wohnung zu räumen und an die Klägerin herauszugeben hätten. Das Mietverhältnis sei durch die fristlose Kündigung wirksam beendet worden. Die Klägerin sei zur fristlosen Kündigung aus wichtigem Grund berechtigt gewesen. Dies ergebe sich daraus, daß die Beschwerdeführer der im Urteil vom 20. August 1993 ausgesprochenen Verpflichtung, die Parabolantenne zu entfernen, nicht nachgekommen seien. Die Beschwerdeführer könnten nicht geltend machen, sie seien ohne Verschulden davon ausgegangen, daß angesichts des laufenden Verfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht noch keine definitive Verpflichtung zur Entfernung der Parabolantenne bestanden habe.
5
Das Landgericht wies die Berufung nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts mit dem ebenfalls angegriffenen Urteil zurück, gewährte den Beschwerdeführern aber eine Räumungsfrist bis zum 31. März 1995. Das zwischen den Parteien bestehende Mietverhältnis sei durch die fristlose Kündigung vom 14. Dezember 1993 wirksam beendet worden. Die fristlose Kündigung sei gemäß § 554 a BGB gerechtfertigt, da die Beschwerdeführer ihre vertraglichen Pflichten schuldhaft in einem solchen Maße verletzt hätten, daß der Klägerin die Fortsetzung des Mietverhältnisses nicht zugemutet werden könne. Die Beschwerdeführer hätten das bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 29. Juni 1994 rechtskräftige Urteil des Amtsgerichts vom 20. August 1993 nicht befolgt und die von ihnen installierte Parabolantenne nicht entfernt. Das Gesamtverhalten der Beschwerdeführer zeige, daß diese im laufenden Mietverhältnis nicht gewillt seien, rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidungen nachzukommen und rechtmäßige Zwangsvollstreckungsmaßnahmen zu dulden.
6
3. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügen die Beschwerdeführer die Verletzung von Art. 2 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1 und 3, Art. 5 Abs. 1 Satz 1, Art. 14 Abs. 1 und Art. 103 Abs. 1 GG. Das Urteil des BVerfGE 92, 126 (128)BVerfGE 92, 126 (129)Amtsgerichts vom 20. August 1993, auf dessen Nichtbefolgung die Kündigung gestützt werde, sei vom Bundesverfassungsgericht wegen Verstoßes gegen Art. 5 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 GG aufgehoben worden. Unter diesen Umständen liege in dem Verhalten der Beschwerdeführer keine eindeutige und grob schuldhafte Pflichtverletzung, die zur fristlosen Kündigung berechtige. Wenn sich die angegriffenen Entscheidungen zur Begründung der Räumungspflicht auf dieses Urteil beriefen, setzten sie den Verstoß gegen Art. 5 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 GG fort.
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Die Beschwerdeführer beantragen, durch einstweilige Anordnung die Vollstreckung aus den angegriffenen Räumungsurteilen bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde auszusetzen.
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4. Dem Justizministerium des Landes Nordrhein-Westfalen und der Gegnerin des Ausgangsverfahrens ist Gelegenheit gegeben worden, zur Verfassungsbeschwerde und zum Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung Stellung zu nehmen.
9
II.  
1. Nach § 32 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsakts vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die Verfassungsbeschwerde erwiese sich von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet (vgl. BVerfGE 90, 277 [283], st. Rspr.).
10
2. Die Verfassungsbeschwerde ist weder unzulässig noch offensichtlich unbegründet. Sie wirft insbesondere die in der Rechtsprechung noch nicht geklärte Frage auf, ob und inwieweit Sanktionen, die an die Nichtbefolgung eines rechtskräftigen, später aber vom Bundesverfassungsgericht wegen einer Grundrechtsverletzung aufgehobenen Urteils geknüpft werden, zulässig sind.
11
3. Bei offenem Ausgang des Verfassungsbeschwerdeverfahrens hängt die Entscheidung von einer Abwägung der Folgen ab, die bei BVerfGE 92, 126 (129)BVerfGE 92, 126 (130)Erlaß oder bei Ablehnung der einstweiligen Anordnung eintreten würden.
12
a) Erginge die einstweilige Anordnung nicht, hätte die Verfassungsbeschwerde später aber Erfolg, so müßten die Beschwerdeführer ihre Wohnung räumen und könnten sie voraussichtlich wegen zwischenzeitlicher anderweitiger Vermietung auch nicht wieder beziehen. Sie müßten sich vielmehr eine andere Wohnung suchen und den Umzug finanzieren.
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b) Erginge die einstweilige Anordnung, hätte die Verfassungsbeschwerde später aber keinen Erfolg, so müßte die Vermieterin den Beschwerdeführern die Wohnung zunächst weiter überlassen. Zusätzliche Einbußen wären damit jedoch nicht verbunden. Insbesondere entginge ihr nicht der vereinbarte Mietzins.
14
c) Bei Abwägung der jeweiligen Folgen wiegen die Nachteile für die Beschwerdeführer schwerer. Dem Verlust ihrer Wohnung mit den damit verbundenen Lasten der Wohnungssuche, des Umzugs und der Veränderung der Lebensumstände steht auf seiten der Vermieterin nur die zeitliche Verzögerung der Räumung ohne nennenswerte wirtschaftliche Einbußen gegenüber.
15
Seidl, Grimm, Söllner, Kühling, Seibert, Jaeger, HaasBVerfGE 92, 126 (130)  
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