BGE 129 I 68 - Luzerner Kirchenaustritt | |||
| |||
Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: A. Tschentscher, Sabiha Akagündüz | |||
Auszug aus dem Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung i.S. A. gegen Römisch-katholische Kirchgemeinde B. sowie Römisch-katholische Landeskirche des Kantons Luzern (staatsrechtliche Beschwerde) |
2P.16/2002 |
vom 18. Dezember 2002 | |
Regeste |
Art. 15 BV, Art. 72 BV; Art. 9 EMRK; Glaubens- und Gewissensfreiheit; Austritt aus der Kirchgemeinde bzw. aus der Landeskirche. |
Rechtswirkungen einer Erklärung, lediglich aus der Kirchgemeinde bzw. Landeskirche austreten, sich aber weiterhin zur römisch-katholischen Kirche bekennen zu wollen (sog. partieller Kirchenaustritt), im Lichte der Glaubens- und Gewissensfreiheit und der rechtlichen Regelung im Kanton Luzern (E. 3.1-3.4). | |
Sachverhalt | |
A. | |
A. ist in der luzernischen Gemeinde B. wohnhaft. Mit schriftlicher Eingabe vom 9. Dezember 2000 an den Kirchenrat der katholischen Kirchgemeinde B. mit dem Betreff "Partieller Kirchenaustritt" erklärte sie, aus der erwähnten Kirchgemeinde auszutreten. Gleichzeitig hielt sie aber fest, "dass dieser Austritt nur die Staatskirche des Kantons Luzern betrifft und nicht etwa die Röm.-Kath. Kirche, zu der ich mich als Katholikin nach wie vor zugehörig fühle". Der Präsident des Kirchenrates antwortete am 21. Dezember 2000, ihre Mitgliedschaft in der Kirchgemeinde B. bestehe fort, nachdem sie sich nach wie vor zur römisch-katholischen Kirche bekenne; ein "partieller Kirchenaustritt" sei aus rechtlichen Gründen nicht möglich. Er verwies hiezu auf folgende Bestimmungen der Verfassung der römisch-katholischen Landeskirche des Kantons Luzern vom 25. März 1969 (im Folgenden: Kirchenverfassung/LU):
| 1 |
§ 12 Katholikinnen und Katholiken
| 2 |
Wer nach kirchlicher Ordnung der römisch-katholischen Kirche angehört, gilt für Landeskirche und Kirchgemeinden als Katholikin oder Katholik, solange sie oder er dem zuständigen Kirchenrat am gesetzlich geregelten Wohnsitz nicht schriftlich erklärt hat, der römisch-katholischen Konfession nicht mehr anzugehören.
| 3 |
§ 13 Mitgliedschaft
| 4 |
(1) Mitglied der Kirchgemeinde ist jede Katholikin und jeder Katholik, die oder der in ihrem Gemeindegebiet den gesetzlich geregelten Wohnsitz hat.
| 5 |
(2) Wer einer Kirchgemeinde angehört, ist zugleich Mitglied der Landeskirche.
| 6 |
Im Anschluss daran wechselten A. und der Kirchenrat mehrfach Korrespondenz. Mit als "Gemeindebeschwerde" bezeichneter Rechtsschrift vom 31. Juli 2001 (Postaufgabe 2. August 2001) gelangte A. schliesslich erfolglos an den Synodalrat der römisch-katholischen Landeskirche des Kantons Luzern mit dem Antrag festzustellen, "dass die Beschwerdeführerin mit Wirkung ab 10. Dezember 2000 nicht mehr Mitglied der Römisch-katholischen Kirchgemeinde B. ist".
| 7 |
B. | |
Mit Postaufgabe vom 19. Januar 2002 hat A. beim Bundesgericht staatsrechtliche Beschwerde mit folgendem Antrag eingereicht:
| 8 |
1. Es sei der Entscheid der Römisch-katholischen Landeskirche des Kantons Luzern vom 19. Dezember 2001 aufzuheben.
| 9 |
2. Es sei festzustellen, dass die Beschwerdeführerin mit Wirkung ab Empfang der Austrittserklärung, d.h. ab 10. Dezember 2000, eventuell ab 21. Dezember 2000, nicht mehr Mitglied der Römisch-katholischen Kirchgemeinde B. ist.
| 10 |
Das Bundesgericht weist die staatsrechtliche Beschwerde ab, soweit es darauf eintritt.
| 11 |
Auszug aus den Erwägungen: | |
Aus den Erwägungen:
| 12 |
Erwägung 3 | |
13 | |
3.1 Die Beschwerdeführerin macht im Wesentlichen geltend, die Kirchenbehörden würden von ihr "eine Erklärung betreffend Austritt aus der Konfession" verlangen, sie solle "ihren Glauben verleugnen". Ein solches Begehren sei ein "Anti-Bekenntnis". Dies dürfe von ihr aber nicht verlangt werden, denn es sei "eine Form des Glaubensabfalls und aus christlicher Sicht verboten". Nach kanonischem Recht sei ein Austritt "aus der Kirche Jesu Christi nicht möglich, nicht einmal mit einer schriftlichen Erklärung". Letztlich würden die Kirchenbehörden von ihr also etwas Unmögliches fordern. Dadurch werde die Glaubens- und Gewissensfreiheit verletzt.
| 14 |
3.2 Das Bundesgericht hat sich bisher nicht ausdrücklich zu der hier interessierenden Frage geäussert. Immerhin hat es bereits in BGE 2 S. 388 festgehalten und darauf auch in einem neueren Urteil vom 19. April 2002 (BGE 128 I 317 E. 2.2.2 S. 322) Bezug genommen, dass Art. 49 aBV nur von "Religionsgenossenschaften" (Art. 15 BV von "Religionsgemeinschaft") spricht und dass die Befreiung von den Kirchensteuern den Austritt aus der Religionsgenossenschaft selbst bedingt, wohingegen der Austritt aus der Kirchgemeinde allein nicht genügt (BGE 2 S. 388 E. 5 S. 396). In BGE 34 I 41 hat es sodann eine kantonale Regelung, die für die steuerrechtliche Anerkennung einen Austritt nicht nur aus der Kirchgemeinde, sondern aus der Landeskirche oder Religionsgenossenschaft überhaupt forderte, als nicht gegen Art. 49 aBV verstossend betrachtet (E. 11 und 12 S. 52 f.).
| 15 |
3.3 Die Doktrin ist gespalten: die Möglichkeit eines sog. partiellen Kirchenaustritts wird teilweise bejaht (vgl. in diesem Sinne MARTIN GRICHTING, Kirche oder Kirchenwesen?, Diss. Freiburg 1997, S. 185 ff.; DIETER KRAUS, Schweizerisches Staatskirchenrecht, Diss. Tübingen 1993, S. 93 f.; FELIX HAFNER, Kirchen im Kontext der Grund- und Menschenrechte, Habilitationsschrift Basel 1991, S. 339, Fn. 171; PETER KARLEN, Das Grundrecht der Religionsfreiheit in der Schweiz, Diss. Zürich 1988, S. 338 f.; JOHANNES GEORG FUCHS, Zugehörigkeit zu den Schweizer evangelisch-reformierten Volkskirchen, in: Louis Carlen [Hrsg.], Austritt aus der Kirche, 1982, S. 183 ff., insbes. S. 187; HANS SCHMID, Die rechtliche Stellung der römisch-katholischen Kirche im Kanton Zürich, Diss. Zürich 1973, S. 235; FRITZ ROHR, Organisation und rechtliche Stellung der evangelisch-reformierten Kirchgemeinde des Kantons Aargau, Diss. Zürich 1951, S. 94); zum Teil wird sie abgelehnt (URS JOSEF CAVELTI, Kirchenrecht im demokratischen Umfeld, 1999, S. 188 f.; ders., Der Kirchenaustritt nach staatlichem Recht, in: Louis Carlen [Hrsg.], a.a.O., S. 91; ADRIAN LORETAN, Die Konzilserklärung über die Religionsfreiheit - oder ist der Kirchenaustritt Privatsache?, in: Pastoralsoziologisches Institut [Hrsg.], Jenseits der Kirchen, 1998, S. 125 ff.; GIUSEP NAY, Leitlinien der neueren Praxis des Bundesgerichts zur Religionsfreiheit, in: René Pahud de Mortanges, Religiöse Minderheiten und Recht, 1998, S. 37 f.; EUGEN ISELE, Die Gliedschaft in der Kirche und die Mitgliedschaft in der Kirchgemeinde, Rechtsgutachten, Freiburg 1971; HEINZ BACHTLER, Rechtsgutachten über die Auslegung von § 4 des Gesetzes über das katholische Kirchenwesen vom 7. Juli 1963, in: Informationsblatt für die katholischen Kirchgemeinden des Kantons Zürich, Heft 3, Zürich 1971, S. 25 ff., insbes. S. 39; HANS BEAT NOSER, Pfarrei und Kirchgemeinde, 1957, S. 131; ALOIS SCHWEGLER, Die Kirchgemeinde im Kanton Luzern, Diss. Freiburg 1935, S. 77 f.; ULRICH LAMPERT, Kirche und Staat in der Schweiz, Bd. I, 1929, S. 331; wohl auch WALTHER BURCKHARDT, Kommentar der schweizerischen Bundesverfassung, 3. Aufl., 1931, S. 454).
| 16 |
3.4 Die in Art. 15 BV und Art. 9 EMRK garantierte Glaubens- und Gewissensfreiheit umfasst unter anderem das Recht, die Religion frei zu wählen, einer Religionsgemeinschaft beizutreten, anzugehören, aus ihr aber auch jederzeit auszutreten (vgl. BGE 125 I 347 E. 3a S. 354; 104 Ia 79 E. 3 S. 84; URS JOSEF CAVELTI, in: Bernhard Ehrenzeller/Philippe Mastronardi/Rainer J. Schweizer/Klaus A. Vallender [Hrsg.], Die Schweizerische Bundesverfassung, 2002, N. 28-30 zu Art. 15 BV; MARK E. VILLIGER, Handbuch der Europäischen Menschenrechtskonvention, 2. Aufl., 1999, S. 383, N. 594 f.). § 2 der Staatsverfassung des Kantons Luzern vom 29. Januar 1875, der für die Glaubens- und Gewissensfreiheit auf die Bundesverfassung verweist, hat keinen weiter gehenden Inhalt. Die von den kantonalen Kirchenbehörden mit Blick auf die Kirchenverfassung/LU vertretene Position respektiert diese Freiheit. Der Beschwerdeführerin steht es nämlich frei, der römisch-katholischen Religionsgemeinschaft weiterhin anzugehören oder aus ihr auszutreten. Von der Beschwerdeführerin wird nicht verlangt, dass sie sich gegen die römisch-katholische Religion ausspricht ("Anti-Bekenntnis"). Bekennt sie sich aber zu dieser Religionsgemeinschaft, die im Kanton Luzern als öffentlichrechtliche Institution anerkannt ist, ist sie auch an die insoweit vorgesehene Organisation gebunden. Denn nach dem schweizerischen Verfassungsverständnis können die Kantone gestützt auf Art. 72 Abs. 1 BV die Organisation und die Mitgliedschaft in den von ihnen anerkannten Kirchen regeln (vgl. BGE 120 Ia 194 E. 2c S. 201; WILLY SPIELER, Staatskirchenrecht als Kirchennotrecht, in: Dietmar Mieth/René Pahud de Mortanges [Hrsg.], Recht - Ethik - Religion, Festgabe zum 60. Geburtstag von Giusep Nay, 2002, S. 73 ff.; ADRIAN HUNGERBÜHLER/MICHEL F9RAUD, Rechtsprechung der Verfassungsgerichte im Bereich der Bekenntnisfreiheit, in: Constitutional jurisprudence, XI. Konferenz der Europäischen Verfassungsgerichte, Warschau 2000, S. 821; ULRICH HÄFELIN, Kommentar zur Bundesverfassung, N. 23 zu Art. 49 aBV; UELI FRIEDERICH, Kirchen und Glaubensgemeinschaften im pluralistischen Staat, Diss. Bern 1993, S. 374 ff.; DIETER KRAUS, a.a.O., S. 367 ff., insbes. S. 368 und 404 f.; ders., Die Kirchgemeinde in der Rechtsprechung des schweizerischen Bundesgerichts, in: Urban Fink/René Zihlmann [Hrsg.], Kirche, Kultur, Kommunikation, Peter Henrici zum 70. Geburtstag, 1998, S. 579). Dies ist hier durch das Luzerner Gesetz vom 21. Dezember 1964 über die Kirchenverfassung (als Rahmengesetz) sowie durch die vom Grossen Rat des Kantons Luzern genehmigte Kirchenverfassung/LU geschehen. Die Kirchenverfassung/LU (§§ 12 und 13) verknüpft für die im Kanton Luzern wohnhaften Personen das Bekenntnis zur römisch-katholischen Religionsgemeinschaft bzw. Konfession mit der Mitgliedschaft in der römisch-katholischen Landeskirche und der entsprechenden Kirchgemeinde (sog. Nexus). Eine solche Verknüpfung ist verfassungsrechtlich zwar nicht geboten; der Kanton kann das Verhältnis zwischen kirchlichen Körperschaften des öffentlichen Rechts und Religionsgemeinschaft auch dualistisch regeln. Der Nexus, eine Regelung, die die Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft und zu ihren lokalen Verbänden als Einheit betrachtet, ist aber grundsätzlich zulässig. Dies muss jedenfalls solange gelten, als die Organe der Religionsgemeinschaft eine Verknüpfung nicht ablehnen, sondern sie - allenfalls stillschweigend - akzeptieren, wovon hier auszugehen ist. Es wäre auch in gewissem Sinne widersprüchlich, der Kirchgemeinde seines Wohnsitzes nicht angehören zu wollen, wohl aber der entsprechenden kirchlichen Dachorganisation. Denn beiden ist das gleiche Bekenntnis eigen, und die Organe vor Ort sind zugleich Organe der Dachorganisation bzw. handeln in ihrem Interesse und Auftrag. Persönliche Konflikte verleihen noch nicht von Verfassungs wegen das Recht, aus einem Verband nur teilweise auszutreten; das gilt im Bereich der Glaubens- und Gewissensfreiheit nicht anders als in anderen Grundrechtsbereichen. Auch unter Gesichtspunkten des Rechtsmissbrauchs wäre nur schwer zu rechtfertigen, weshalb eine aus der Kirchgemeinde und der Landeskirche ausgetretene Person weiterhin die Dienste der Kirchenorgane beanspruchen können sollte, nachdem sie mit ihrem Austritt bewirkt hat, dass sie an diese Leistungen nichts mehr beizusteuern hat (vgl. BGE 10 S. 320 E. 3 S. 324). Ein verfassungsrechtlicher Schutz für solches Verhalten erscheint jedenfalls nicht als geboten. Es ist weder von der Beschwerdeführerin dargelegt worden noch ersichtlich, dass das im Kanton Luzern geregelte Mitgliedschaftsverhältnis die Beschwerdeführerin in ihrem Bekenntnis und ihrer Religionsausübung in unzulässiger Weise beeinträchtigen würde. Wenn die Beschwerdeführerin den in BGE 104 Ia 79 publizierten Entscheid des Bundesgerichts anführt, ist ihr entgegenzuhalten, dass es dort nur um Formalitäten des Kirchenaustritts ging; zum partiellen Kirchenaustritt hatte sich das Bundesgericht nicht geäussert. Soweit es schliesslich um das Recht geht, seine religiöse Überzeugung zu verschweigen, verzichtet eine förmlich den Austritt aus den lokalen kirchlichen Körperschaften erklärende Person von sich aus auf absolute Geheimhaltung; der Austritt ohne derartige Erklärung ist im System der Mitgliedschaftspräsumption, welches das Bundesgericht seit langem anerkannt hat (vgl. BGE 31 I 81 E. 2 S. 88; 55 I 113 E. 2 S. 126; Urteil vom 14. November 1978, ZBl 80/1979 S. 78 ff. E. 2), gar nicht möglich. Gewiss kann die Person von den Behörden nicht verpflichtet werden, auch eine Austrittserklärung bezüglich der Religionsgemeinschaft abzugeben. Es ist jedoch auf dem Boden von rechtlichen Grundlagen wie den im Kanton Luzern geltenden auch nicht verfassungswidrig, wenn die Behörden eine Austrittserklärung wie die vorliegende als unvollständig und damit unbeachtlich betrachten (vgl. BGE 52 I 108 E. 3 S. 118 f.).
| 17 |
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR). |