1C_291/2008 vom 17. Dezember 2008 | |
Regeste | |
Art. 34 Abs. 2 BV, Art. 2 lit. x KV/SG; Anspruch auf unverfälschte Stimmabgabe; direkte Wahl der Volksvertreter nach Proporzsystem; Grundsatz des freien Mandats. ![]() | |
Am 16. März 2008 fand im Kanton St. Gallen die Erneuerungswahl des Kantonsrats (Kantonsparlament) für die Amtsdauer 2008/2012 statt. Die Wahl des Kantonsrats erfolgt nach dem System der Proporzwahl. Der Kantonsrat besteht aus 120 Mitgliedern. Im Wahlkreis See-Gaster waren 15 Sitze zu vergeben. In diesem Wahlkreis errangen die miteinander verbundenen Listen Nrn. 6 und 7 der Christlichdemokratischen Volkspartei (CVP) insgesamt 5 Sitze und die Liste Nr. 1 der Schweizerischen Volkspartei (SVP) 6 Sitze. Auf der Liste Nr. 6 kandidierte unter anderem die bisherige Kantonsrätin Barbara Keller-Inhelder. Sie erzielte auf ihrer Liste die beste Stimmenzahl und wurde gemäss Wahlprotokoll als gewählt erklärt. Die Wahlergebnisse wurden im kantonalen Amtsblatt vom 31. März 2008 veröffentlicht. Es gingen keine Beschwerden gegen die Durchführung der Wahl und deren Ergebnisse ein. Mit Botschaft vom 22. April 2008 beantragte die Regierung des Kantons St. Gallen dem Kantonsrat, die Gültigkeit der Kantonsratswahl festzustellen. Am 27. Mai 2008 orientierte die Kantonsregierung jedoch das Präsidium des Kantonsrats, dass Barbara Keller-Inhelder Medienberichten zufolge kurz nach dem Wahltermin einen Parteiwechsel von der CVP zur SVP vollzogen habe.
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Der neugewählte Kantonsrat trat erstmals am 2. Juni 2008 zusammen. An diesem Datum behandelte er unter anderem die sog. Validierung der Kantonsratswahl. Bei diesem Geschäft stimmte er zunächst über die Gültigkeit der Wahl von Barbara Keller-Inhelder ab, hiernach gesamthaft über diejenige der anderen 119 Mitglieder. Die vorberatende kantonsrätliche Kommission hatte den Antrag gestellt, die Wahl von Barbara Keller-Inhelder wegen ihres Parteiwechsels für ungültig zu erklären. Diesen Antrag lehnte der Kantonsrat mit 58 zu 54 Stimmen bei 6 Enthaltungen und 2 Abwesenheiten ab; Barbara Keller-Inhelder befand sich im Ausstand. Anschliessend stellte der Kantonsrat fest, die Wahl der anderen 119 Mitglieder sei ebenfalls gültig.
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Den kantonsrätlichen Entscheid über die Validierung der Wahl von Barbara Keller-Inhelder fechten Jörg Frei und vier Mitbeteiligte beim Bundesgericht mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten an. Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit es darauf eintritt. ![]() | |
Erwägung 2 | |
Art. 34 Abs. 2 BV schützt die freie Willensbildung und unverfälschte Stimmabgabe. Die Garantie bedeutet, dass kein Abstimmungs- oder Wahlergebnis anerkannt werden darf, das nicht den freien Willen der Stimmbürger zuverlässig und unverfälscht zum Ausdruck bringt. Der Wählerwille soll sich möglichst unverfälscht in der Zusammensetzung des Parlaments widerspiegeln (vgl. BGE 131 I 442 E. 3.1 S. 447; BGE 123 I 97 E. 4a S. 105).
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Art. 2 KV/SG gewährleistet die Grundrechte nach Massgabe der Bundesverfassung in allgemeiner Weise und schliesst namentlich auch die freie Willensbildung und unverfälschte Stimmabgabe in Ausübung der politischen Rechte ein (lit. x). Diese kantonalen Garantien reichen nicht über jene von Art. 34 Abs. 2 BV hinaus (Urteil des Bundesgerichts 1C_412/2007 vom 18. Juli 2008 E. 3).
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2.2 In der Replik bringen die Beschwerdeführer Rügen vor, die sie in der Beschwerdeschrift nicht geltend gemacht haben. Es gilt vorweg zu prüfen, ob dies zulässig sei. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts ist eine Beschwerdeergänzung auf dem Weg der Replik nur insoweit statthaft, als die Ausführungen in der Vernehmlassung eines anderen Verfahrensbeteiligten dazu Anlass geben. Ausgeschlossen sind hingegen in diesem Rahmen Anträge und Rügen, die der Beschwerdeführer bereits vor Ablauf der Beschwerdefrist hätte erheben können (vgl. BGE 134 IV 156 E. 1.7 S. 162; BGE 132 I 42 E. 3.3.4 S. 47 mit weiteren Hinweisen).
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2.2.1 Zum einen führen die Beschwerdeführer in diesem Rahmen aus, der angefochtene Entscheid verstosse gegen Art. 62 Abs. 3 des Geschäftsreglements des Kantonsrats vom 24. Oktober 1979 (sGS 131.11) und sei auch deswegen aufzuheben. Mit dieser Bestimmung wird vorgeschrieben, dass gewisse vorberatende Kommissionen des Kantonsrats in der Regel dem Kantonsrat schriftlich Bericht zu erstatten haben. Die Beschwerdeführer beanstanden, es sei vorliegend nur eine kurze mündliche und damit unzulängliche Berichterstattung erfolgt. Dass diese neu erhobene Rüge wegen Äusserungen in der Vernehmlassung der Kantonsregierung notwendig geworden sei, ist weder behauptet noch ersichtlich. Bereits aus dem Protokollauszug, den die Beschwerdeführer als Anfechtungsobjekt ![]() ![]() | |
In der Replik bringen die Beschwerdeführer nun die Präzisierung an, der Parteiwechsel habe mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit noch vor dem Wahltermin stattgefunden. Auch insofern sind die Beschwerdeführer nicht zu einer Beschwerdeergänzung berechtigt. Sie machen nicht geltend, die nachträglich behaupteten Tatsachen und neu eingereichten Belege seien ihnen vor Ablauf der Beschwerdefrist nicht zugänglich gewesen. Aus diesem Grund kann auf die diesbezüglichen Ausführungen nicht eingegangen werden.
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Im Übrigen bekräftigen die Beschwerdeführer in der Replik, die Gegenseite habe mit der Kommunikation des Parteiwechsels gezielt bis nach den Wahlen zugewartet. Die Beschwerdeführer zeigen nicht auf, inwiefern ihre neue Sachdarstellung für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein soll. Nur unter dieser Voraussetzung wäre eine Sachverhaltsrüge gemäss Art. 97 Abs. 1 BGG überhaupt zulässig. Auch im Hinblick darauf sind die neuen Vorbringen zum Sachverhalt unbeachtlich.
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2.3 Im Ergebnis ist der Streitgegenstand auf die Frage beschränkt, ob es das Stimm- und Wahlrecht verletzt, Barbara Keller-Inhelder trotz des nach den Wahlen vollzogenen Parteiwechsels zur Amtsausübung zuzulassen. Es ist unbestritten, dass die übrigen rechtlichen Voraussetzungen für den Amtsantritt erfüllt sind. Die Beschwerdeführer legen Barbara Keller-Inhelder zur Last, sich gegenüber der Wählerschaft treuwidrig verhalten zu haben. An ihrer Stelle sei dem in Frage kommenden Ersatzmitglied der Wahlliste das Nachrücken zu gestatten. Der Kantonsrat habe verkannt, dass er zum Schutz von Sinn und Zweck des Proporzwahlrechts zu einer solchen Anordnung verpflichtet sei. Die Beschwerdeführer verlangen von den Parlamentariern keine rechtliche Bindung während der ganzen ![]() ![]() | |
Erwägung 3 | |
3.2 Dabei ist einzubeziehen, dass für die im Amte stehenden Parlamentsmitglieder das Prinzip der auftragsfreien Repräsentation gilt (sog. freies Mandat). Für die Mitglieder der Bundesversammlung wird dieser Grundsatz heute aus Art. 161 Abs. 1 BV abgeleitet; die Bestimmung wurde inhaltlich unverändert aus Art. 91 aBV übernommen (vgl. dazu Häfelin/Haller/Keller, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, 7. Aufl. 2008, N. 1607; Moritz von Wyss, in: Die schweizerische Bundesverfassung, Kommentar, 2. Aufl. 2008, N. 3 ff. zu Art. 161 BV; Pierre Tschannen, Staatsrecht der Schweizerischen Eidgenossenschaft, 2. Aufl. 2007, § 34 N. 1; Auer/Malinverni/Hottelier, Droit constitutionnel suisse, Bd. I, 2. Aufl. 2006, N. 70; Jean-François Aubert, in: Petit Commentaire de la Constitution fédérale, 2003, N. 4 zu Art. 161 BV; derselbe, in: Kommentar zur Bundesverfassung, N. 1 ff. zu Art. 91 aBV). Nach der herrschenden Staatsrechtslehre in der Schweiz gehört der Grundsatz der auftragsfreien Repräsentation zum Wesen des parlamentarischen Mandats (vgl. Haller/Kölz/Gächter, Allgemeines Staatsrecht, 4. Aufl. 2008, S. 247 f.; Tschannen, a.a.O., § 30 N. 12 ff.; Aubert, in: Petit Commentaire, N. 1 lit. f der Vorbemerkungen vor Art. 148 ff. BV). Kritisch zu diesem Grundsatz geäussert hat sich Peter Saladin; er postulierte eine Verantwortung der Parlamentarier gegenüber ihrer Wählerschaft (Verantwortung als Staatsprinzip, 1984, S. 174 f.). In abgeschwächter Form bekennen sich mehrere Autoren unter dem Stichwort "Responsiveness" zu einer Bindung der Parlamentarier gegenüber ihrer Wählerschaft als Ansprechpartner (vgl. dazu Jörg Paul Müller, "Responsive Government": Verantwortung als Kommunikationsproblem, ZSR 1995 I S. 3 ff., 15, 21; René Rhinow, Grundzüge des Schweizerischen Verfassungsrechts, 2003, N. 1856, ![]() ![]() | |
Erwägung 4 | |
Erwägung 5 | |
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5.2 Das Wahlsystem der Verhältniswahl bezweckt, alle massgeblichen politischen Kräfte nach Massgabe ihrer Parteistärke im Parlament Einsitz nehmen zu lassen (vgl. BGE 131 I 74 E. 3.3 S. 80; BGE 123 I 97 E. 4d S. 106 mit weiteren Hinweisen). Bei diesem Wahlsystem tritt die Persönlichkeitswahl in den Hintergrund; im Vordergrund steht die von der Partei bzw. politischen Gruppierung aufgestellte Liste (vgl. BGE 118 Ia 415 E. 6c S. 420 f.; Urteil 1C_217/2008 vom 3. Dezember 2008 E. 2.1). Für die Stimmberechtigten zeichnet sich die Proporzwahl dadurch aus, dass sie nur Kandidaten wählen können, die auf einer Liste vorgeschlagen sind (BGE 98 Ia 64 E. 3c S. 72 f.; Hangartner/Kley, Die demokratischen Rechte in Bund und Kantonen der Schweizerischen Eidgenossenschaft, 2000, N. 1436). Das Stimm- und Wahlrecht umfasst bei Proporzwahlen einen Anspruch auf gehörige Bekanntgabe der Listen; dazu gehören Angaben über die Erklärung einer Listenverbindung (vgl. BGE 104 Ia 360 E. 3a S. 363 f.).
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5.3 Die Parteien schlagen die Kandidaten vor, die auf ihren Listen zur Wahl stehen. Die behördliche Bereinigung der Kandidatenlisten erfolgt im Vorverfahren. Im Rahmen des Vorverfahrens haben die Kandidaten schriftlich zu bestätigen, dass sie den Wahlvorschlag annehmen (Art. 13 Abs. 4 der Vollzugsverordnung vom 17. August 1971 zum kantonalen Gesetz über die Urnenabstimmungen [VV-UAG; sGS 125.31] unter Hinweis auf Art. 22 BPR). Ausserdem ist die sog. Doppelkandidatur verboten: Der Kandidatenname darf nur auf einer Liste erscheinen (vgl. Hangartner/Kley, a.a.O., N. 1433; vgl. im Einzelnen Art. 15 VV-UAG unter Hinweis auf Art. 27 BPR). ![]() ![]() | |
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5.7 Aufgrund der vorstehenden Überlegungen bildet es ebenfalls keinen gangbaren Weg, die Kandidatenstimmen von Barbara Keller- Inhelder von der alten auf die neue Partei zu transferieren und in diesem Sinne die Sitzzuteilung an die Wahllisten neu zu berechnen. ![]() ![]() ![]() |