1C_713/2020 / 1C_715/2020 vom 23. März 2021 | |
Regeste | |
Art. 34, 142 Abs. 2, Art. 189 Abs. 4 BV, Art. 77 BPR; Eidgenössische Volksabstimmung über die Konzernverantwortungsinitiative; die Kritik am Erfordernis des Ständemehrs ist sofort gegen die Abstimmungsanordnung zu erheben. Die allgemeine Informationslage kann nur beim nachträglichen Rechtsschutz beanstandet werden.
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Im Ausnahmefall, dass ein nachträglicher, wiedererwägungsweiser Rechtsschutz zulässig ist, kann die Informationslage im Vorfeld einer Volksabstimmung in allgemeiner Weise zum Gegenstand des Verfahrens gemacht werden (E. 4.1.1). Übersicht über die Lehre und die bundesgerichtliche Rechtsprechung (E. 4.1.2 und 4.1.3). Solange eine Abstimmungsbeschwerde nach Art. 77 Abs. 1 lit. b BPR möglich ist, kann die allgemeine Informationslage nicht mit einer Beschwerde wegen Verletzung politischer Rechte beanstandet werden (E. 4.1.4). ![]() | |
A. | |
A. Am 29. November 2020 fand die eidgenössische Volksabstimmung unter anderem über die Volksinitiative "Für verantwortungsvolle Unternehmen - zum Schutz von Mensch und Umwelt" (im Folgenden: Konzernverantwortungsinitiative) statt. Gemäss den vorläufigen amtlichen Endergebnissen lehnten die Stände die Volksinitiative im Verhältnis von 12 5 / 2 zu 8 1 / 2 ab, wobei die Stimmberechtigten die Volksinitiative mit einer Mehrheit von 1'299'173 Ja-Stimmen (50.73 %) zu 1'261'673 Nein-Stimmen (49.27 %) annahmen (https://www.bk.admin.ch/ch/d/pore/va/20201129/can636.html).
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B. | |
B. Mit Eingabe vom 4. Dezember 2020 erhob ein im Kanton Zürich Stimmberechtigter beim Regierungsrat des Kantons Zürich Abstimmungsbeschwerde gemäss Art. 77 Abs. 1 lit. b des Bundesgesetzes vom 17. Dezember 1976 über die politischen Rechte (BPR; SR 161.1) mit dem Antrag, das Abstimmungsresultat vom 29. November 2020 zur Konzernverantwortungsinitiative sei für ungültig zu erklären. Er führte zur Begründung im Wesentlichen an, dass die Ablehnung der Volksinitiative aufgrund des Ständemehrs gegen den Grundsatz der Rechtsgleichheit und des Diskriminierungsverbots verstosse. ![]() | |
Dagegen erhebt der unterlegene Beschwerdeführer am 22. Dezember 2020 Beschwerde an das Bundesgericht (Verfahren 1C_713/ 2020). Er beantragt, das Abstimmungsresultat sei wegen Verstosses gegen Art. 8 BV und Art. 14 EMRK für ungültig zu erklären.
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C. | |
C. Mit Eingabe vom 2. Dezember 2020 erhoben zudem mehrere im Kanton Zürich Stimmberechtigte beim Regierungsrat des Kantons Zürich Stimmrechts- und Abstimmungsbeschwerde gemäss Art. 77 Abs. 1 lit. a und b BPR mit den Anträgen, die Volksabstimmung über die genannte Volksinitiative sei aufzuheben, und in der Folge sei die Annahme der Volksinitiative festzustellen. Eventuell sei die Volksabstimmung zu wiederholen. Sie führen zur Begründung im Wesentlichen an, dass die Ablehnung der genannten Volksinitiative gegen die Grundprinzipien der Demokratie und den Grundsatz verstosse, dass alle Stimmenden die gleichen politischen Rechte haben und alle Stimmen formell gleichbehandelt werden. Weiter sei die Stimmbevölkerung mangelhaft informiert worden, das Abstimmungsergebnis beruhe nicht auf einer freien Willensbildung.
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Mit Beschluss vom 16. Dezember 2020 trat der Regierungsrat des Kantons Zürich nicht auf die Beschwerde ein. Soweit eine mangelhafte Informationslage geltend gemacht werde, sei die Eingabe offensichtlich verspätet. Soweit die Anforderung des Ständemehrs als rechtswidrig kritisiert werde, habe dieser Beschwerdegrund kantonsübergreifende Auswirkungen.
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Gegen diesen Beschluss des Regierungsrats des Kantons Zürich reichen die unterlegenen Stimmberechtigten am 23. Dezember 2020 Beschwerde an das Bundesgericht ein (Verfahren 1C_715/2020). Sie beantragen, den Beschluss des Regierungsrates des Kantons Zürich und die Volksabstimmung zur Konzernverantwortungsinitiative vom 29. November 2020 aufzuheben, die Annahme der Volksinitiative festzustellen und den Bundesrat zum Vollzug der Konzernverantwortungsinitiative zu verpflichten. Eventuell sei die Volksabstimmung zu wiederholen.
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Entscheid | |
Das Bundesgericht tritt auf die Beschwerden nicht ein.
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(Zusammenfassung) ![]() | |
3.3 Gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung sind Mängel in der Vorbereitung von Wahlen und Abstimmungen sofort und vor Durchführung des Urnenganges zu rügen, andernfalls der Stimmberechtigte sein Beschwerderecht im Grundsatz verwirkt (BGE 118 Ia 271 E. 1d S. 274, BGE 118 Ia 415 E. 2a S. 417; Urteil des Bundesgerichts 1C_495/ 2012 vom 12. Februar 2014 E. 1.1, nicht publ. in: BGE 140 I 107 mit Hinweisen). Diese Praxis bezweckt, dass Mängel möglichst noch vor der Wahl oder Abstimmung behoben werden können und der ![]() ![]() | |
Wie der bundesgerichtlichen Praxis zu kantonalen Wahlen und Abstimmungen zu entnehmen ist, bildet die Anordnung einer Wahl oder Abstimmung, welche in Anwendung einer bundesrechtswidrigen Wahl- oder Abstimmungsordnung durchgeführt werden soll, einen Mangel in der Vorbereitung im erwähnten Sinn. Anfechtungsobjekt ist auch in solchen Fällen nicht die Wahl oder Abstimmung selbst, sondern die Vorbereitungshandlung, nämlich die Wahl- oder Abstimmungsanordnung durch die zuständige Behörde. Zwar mag die Behebung von derartigen Mängeln, jedenfalls wenn sie ihre Grundlage in der Kantonsverfassung oder in einem Gesetz im formellen Sinn haben, vor der Wahl kaum denkbar sein. Dennoch darf vom Stimmbürger nach dem Grundsatz von Treu und Glauben erwartet werden, dass er die Anwendung eines seiner Ansicht nach verfassungswidrigen Wahl- oder Abstimmungssystems noch vor der Wahl oder Abstimmung rügt und nicht vorerst widerspruchslos hinnimmt, um hinterher die Wahl oder Abstimmung anzufechten, soweit deren Ergebnis nicht den Erwartungen entspricht (Urteil des Bundesgerichts 1C_100/2016 vom 4. Juli 2016 E. 3.1). Wie die Bundeskanzlei zu Recht ausführt, treffen diese Ausführungen auch auf die Rüge von Mehrheitserfordernissen für die Abstimmung über eine eidgenössische Volksinitiative zu.
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Der vorgebrachten Rüge liegt ein äusserst seltener Sachverhalt zugrunde. Gemäss Bundeskanzlei handelt es sich vorliegend erst um den zehnten Fall, in welchem eine eidgenössische Abstimmungsvorlage, die ein Volksmehr erzielt hat, allein am Erfordernis des Ständemehrs gescheitert ist (https://www.bk.admin.ch/ch/d/pore/va/ vab_2_2_4_4.html). Nach jenen Informationen ist dies bei einer eidgenössischen Volksinitiative gar erst einmal, am 13. März 1955 bei der Volksinitiative "zum Schutz der Mieter und Konsumenten (Weiterführung der Preiskontrolle)" (BBl 1955 I 673), vorgekommen. Dennoch geht die Möglichkeit, dass eine Abstimmungsvorlage wie vorliegend allein am Erfordernis des Ständemehrs scheitern kann, klar aus Art. 140 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 142 Abs. 2 BV hervor. Das Erfordernis des Ständemehrs ist somit Teil des ![]() ![]() | |
Erwägung 4 | |
4.1 Gemäss Art. 189 Abs. 4 BV können Akte der Bundesversammlung und des Bundesrats beim Bundesgericht nicht angefochten werden, ausser das Gesetz sieht dies vor. Dies gilt auch bei Beschwerden wegen Verletzung der politischen Rechte (BGE 138 I 61 E. 7.1 S. 85). Nicht direkt anfechtbar sind damit auch die bundesrätlichen Abstimmungserläuterungen (BGE 145 I 207 E. 1.5 S. 213, BGE 145 I 1 E. 5.1.1 S. 7; BGE 138 I 61 E. 7.2 S. 85; BGE 137 II 177 E. 1.2 S. 179).
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4.1.1 In BGE 138 I 61 hielt das Bundesgericht fest, dass, wenn erst im Nachgang zu allfälligen Beschwerdeverfahren und nach dem bundesrätlichen Erwahrungsbeschluss erhebliche Mängel bekannt würden, sich bei gegebenen Voraussetzungen ein Anspruch auf Überprüfung der Regularität einer Volksabstimmung direkt aus Art. 29 Abs. 1 und aus Art. 29a BV ableite (BGE 138 I 61 E. 4.3 S. 74; siehe auch BGE 145 I 207 E. 1.1 S. 210 f.). Das Bundesgesetz über die politischen Rechte, welches das Abstimmungsverfahren umschreibt, sei in diesem Sinne verfassungskonform anzuwenden. Allgemein seien Bundesgesetze nach den anerkannten Grundsätzen auszulegen. Dazu gehöre die verfassungskonforme Auslegung, unter Beachtung der Schranken von Art. 190 BV und im Rahmen des klaren Wortlauts und Sinns einer Gesetzesbestimmung. Im Zusammenhang mit der abstrakten Normkontrolle kantonaler Erlasse werde die verfassungskonforme Auslegung insbesondere dann als zulässig erachtet, wenn der Normtext lückenhaft, zweideutig oder unklar sei. Vorliegend weise das Bundesgesetz über die politischen Rechte eine namhafte Lücke auf. Für eidgenössische Abstimmungen gelte im Rahmen des Bundesgesetzes über die politischen Rechte direkt gestützt auf die verfassungsmässigen Grundsätze von Art. 29 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 29a BV ein Recht auf Überprüfung der Regularität von Volksabstimmungen und nachträglichen Rechtsschutz, wenn im Nachhinein eine massive Beeinflussung der Volksabstimmung zutage trete (BGE 138 I 61 E. 4.3 S. 74; siehe auch BGE 147 I 206 E. 2.3). Insofern handelt es sich um ein ausserordentliches Rechtsmittel. Beim damals zu prüfenden Fall von nachträglichem, wiedererwägungsweise geltend gemachtem Rechtsschutz führte es aus, könne die Informationslage im Vorfeld einer Volksabstimmung in allgemeiner Weise zum Gegenstand des Verfahrens gemacht werden und in diesem Rahmen könnten auch Akte der Bundesversammlung und des Bundesrats, namentlich die Abstimmungserläuterungen des Bundesrats, gewürdigt werden (BGE 138 I 61 E. 7.4 S. 86 f.). ![]() | |
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4.1.4 Wie die zuletzt genannten Urteile betonen, können Informationen über angebliche Unregelmässigkeiten - unabhängig von ihrer ![]() ![]() | |
Bloss im Ausnahmefall, wenn ein nachträglicher, wiedererwägungsweiser Rechtsschutz möglich ist, kann auch die Informationslage im Vorfeld einer Volksabstimmung in allgemeiner Weise zum Gegenstand des Verfahrens gemacht werden. In einem solchen Fall können auch die durch Art. 189 Abs. 4 BV von der Anfechtungsmöglichkeit beim Bundesgericht ausgenommenen Akte der Bundesversammlung und des Bundesrates in die Prüfung einbezogen werden. Das Recht, die Regularität einer eidgenössischen Volksabstimmung direkt gestützt auf die verfassungsmässigen Grundsätze von Art. 29 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 29a BV zu überprüfen und nachträglichen Rechtsschutz zu erlangen, ist allerdings, wie bereits ![]() ![]() | |
Demnach ergibt sich mit Blick auf den vorliegend zu beurteilenden Fall, dass solange eine Abstimmungsbeschwerde nach Art. 77 Abs. 1 lit. b BPR möglich ist, das ausserordentliche, unmittelbar auf die Bundesverfassung gestützte Rechtsmittel (vgl. vorne E. 4.1.1) nicht ergriffen und die allgemeine Informationslage nicht zum Gegenstand des Verfahrens gemacht werden kann.
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4.2 Die Beschwerdeführer rügen eine Verletzung von Art. 34 Abs. 2 BV durch die Abstimmungserläuterungen des Bundesrates sowie durch bestimmte angebliche Aussagen und Handlungen von Bundesrätin Karin Keller-Sutter, von Ständerätin Andrea Gmür-Schönenberger und von Nationalrätin Isabelle Chevalley im Vorfeld der ![]() ![]() ![]() |