BGE 127 III 576 - Internationales Schiedsverfahren | |||
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Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: Sabiha Akagündüz, A. Tschentscher | |||
99. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung |
vom 10. September 2001 |
i.S. X. GmbH gegen Y. SA |
(staatsrechtliche Beschwerde) | |
Regeste |
Offensichtliches Versehen im internationalen Schiedsverfahren; Verletzung des rechtlichen Gehörs (Art. 190 Abs. 2 lit. d IPRG). |
Nicht jedes offensichtliche Versehen stellt eine Verletzung des rechtlichen Gehörs im Sinne von Art. 190 Abs. 2 lit. d IPRG dar. Voraussetzungen, unter denen ein offensichtliches Versehen zu einer formellen Rechtsverweigerung und damit zu einer Verletzung des Gehörsanspruchs führt (E. 2). | |
Auszug aus den Erwägungen: | |
Aus den Erwägungen:
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Erwägung 2 | |
2 | |
a) In der Lehre wird auf die Problematik der vom Bundesgericht im angeführten Entscheid getroffenen Unterscheidung zwischen einer formellen und einer materiellen Rechtsverweigerung hingewiesen (KNOEPFLER/SCHWEIZER, in: SZIER 1996 S. 572; JERMINI, Die Anfechtung der Schiedssprüche im internationalen Privatrecht, Diss. Zürich 1997, S. 232 f.; vgl. auch AUBERT, Bundesstaatsrecht der Schweiz, Basel 1995, Bd. II, N. 1797 S. 838). Ebenso wird die Diskrepanz zwischen einer bewusst willkürlichen Beweiswürdigung des Schiedsgerichts und einem offensichtlichen Versehen in Bezug auf entscheidrelevante Tatsachen hervorgehoben. Während Erstere nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung nicht korrigiert werden könne, führe Letzteres zur Aufhebung des Entscheides, selbst wenn es für den Ausgang des Verfahrens nicht ausschlaggebend gewesen sei (KNOEPFLER/SCHWEIZER, in: SZIER 1996 S. 572). Auch die Vornahme der Abgrenzung im konkreten Fall wird in Frage gestellt und die Befürchtung geäussert, die Parteien könnten unter dem Mantel der formellen Rechtsverweigerung die Beweiswürdigung des Schiedsgerichts in Frage stellen. Daher sei eine Verletzung des rechtlichen Gehörs nur restriktiv anzunehmen und auf die Fälle zu beschränken, in denen das Schiedsgericht eine Aktenstelle übersehe. Sofern es eine Aktenstelle berücksichtige, aber missverstehe, liege dagegen fehlerhafte Beweiswürdigung vor (JERMINI, a.a.O., S. 233). PATOCCHI/GEISINGER (Internationales Privatrecht, Zürich 2000, N. 25.2 zu Art. 190 IPRG S. 621) interpretieren den Entscheid dahin, dass ein Versehen des Schiedsgerichts dann eine Verletzung des Gehörsanspruchs darstellt, wenn sich die Parteien im Verfahren über diese Frage einig waren, während RÜEDE/HADENFELDT (Schweizerisches Schiedsgerichtsrecht, Supplement zur 2. Aufl., Zürich 1999, S. 61) daraus ableiten, eine Verweigerung des rechtlichen Gehörs liege vor, wenn der Schiedsrichter versehentlich eine entscheidungserhebliche Behauptung einer Partei nicht zur Kenntnis nehme. Andere Kommentatoren sprechen sich dafür aus, in jedem offensichtlichen Versehen eine Verletzung des rechtlichen Gehörs zu erkennen (BERTI/SCHNYDER, Basler Kommentar, N. 68 zu Art. 190 IPRG, wohl auch HEINI, IPRG Kommentar, N. 36 zu Art. 190 IPRG). Vorab ist daher die Tragweite des von der Beschwerdeführerin angeführten Entscheides, an dem das Bundesgericht auch in neuerer Rechtsprechung festgehalten hat (Urteil des Bundesgerichts vom 22. Februar 1999, publiziert in: SZIER 2000 S. 575, E. 3b S. 578), zu erläutern.
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b) Entgegen der Ansicht der Beschwerdeführerin liegt nicht in jedem offensichtlichen Versehen eine Verletzung des rechtlichen Gehörs. Das Bundesgericht hat vielmehr festgehalten, dass eine offensichtlich falsche oder aktenwidrige Feststellung für sich allein nicht ausreiche, um einen internationalen Schiedsentscheid aufzuheben (BGE 121 III 331 E. 3a S. 333). Der Anspruch auf rechtliches Gehör enthält keinen Anspruch auf einen materiell richtigen Entscheid. Daher ist es nicht Sache des Bundesgerichts, zu überprüfen, ob das Schiedsgericht sämtliche Aktenstellen berücksichtigt und richtig verstanden hat. Im Gegensatz zur Regelung des Schiedsgerichtskonkordats (Konkordat über die Schiedsgerichtsbarkeit vom 27. März 1969; SR 279), wonach die Rüge zulässig ist, der Schiedsspruch sei willkürlich, weil er auf offensichtlich aktenwidrigen tatsächlichen Feststellungen beruhe (Art. 36 lit. f), schränkt Art. 190 Abs. 2 IPRG (SR 291) dem Willen des Gesetzgebers entsprechend aus Gründen der Effizienz der Schiedsgerichtsbarkeit die Anfechtungsgründe erheblich ein (BGE 119 II 380 E. 3c S. 383 mit Hinweis). Während der Entwurf des Bundesrates vom 10. November 1982 (BBl 1983 I 516) in Art. 177 Abs. 2 noch vorsah, die Anfechtung "wegen offensichtlicher Rechtsverweigerung oder wegen Willkür" zuzulassen (SCHWANDER, Einführung in das internationale Privatrecht, Bd. 2, Besonderer Teil, St. Gallen 1997, S. 443 Fn. 75), beschränkte der Gesetzgeber die materiellrechtliche Überprüfung eines internationalen Schiedsentscheides durch das Bundesgericht auf die Frage, ob der Schiedsspruch mit dem Ordre public vereinbar ist (Art. 190 Abs. 2 lit. e IPRG; BGE 121 III 331 E. 3a S. 333; 120 II 155 E. 6a S. 166; 117 II 604 E. 3 S. 606; 116 II 634 E. 4 S. 636 mit Hinweisen).
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c) Zu prüfen bleibt, unter welchen Umständen in einem einfachen offensichtlichen Versehen, welches das Bundesgericht unter Vorbehalt des Ordre public nicht korrigiert, auch eine formelle Rechtsverweigerung liegt. Der Anspruch auf rechtliches Gehör im Rahmen eines internationalen Schiedsverfahrens entspricht im Wesentlichen den aus Art. 29 Abs. 2 BV hergeleiteten Verfahrensgarantien mit Ausnahme der Pflicht zur Begründung des Entscheides (BGE 116 II 373 E. 7b S. 374 f.; BERTI/SCHNYDER, a.a.O., N. 64 zu Art. 190 IPRG; RÜEDE/HADENFELDT, Schweizerisches Schiedsgerichtsrecht, 2. Aufl., Zürich 1993, S. 368 f.; kritisch VISCHER, IPRG Kommentar, N. 17 zu Art. 182 IPRG, mit Hinweis). Er umfasst die Rechte der Parteien auf Teilnahme am Verfahren und auf Einflussnahme auf den Prozess der Entscheidfindung (BGE 126 V 130 E. 2b S. 131 f. mit Hinweis). Die Rechtsprechung leitet daraus insbesondere das Recht der Parteien ab, sich über alle für das Urteil wesentlichen Tatsachen zu äussern, ihren Rechtsstandpunkt zu vertreten, erhebliche Beweisanträge zu stellen, an den Verhandlungen teilzunehmen, sowie das Recht, in die Akten Einsicht zu nehmen (BGE 127 I 54 E. 2b S. 56; 126 V 130 E. 2b S. 131 f., je mit Hinweisen).
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e) In dem BGE 121 III 331 zu Grunde liegenden Fall führten beide Parteien aus, während einer gewissen Zeit seien Leistungen erbracht worden, wogegen das Schiedsgericht infolge eines offensichtlichen Versehens davon ausging, für den entsprechenden Zeitraum habe keine Partei die Erbringung einer Leistung behauptet. Damit hat das Schiedsgericht nicht etwa die ihm unterbreitete Streitfrage falsch entschieden, sondern vielmehr über einen Sachverhalt geurteilt, der ihm gar nicht unterbreitet wurde. Im Ergebnis war die Partei mit Bezug auf einen Teil der Klage nicht besser gestellt, als wenn ihr das rechtliche Gehör überhaupt nicht gewährt worden wäre, indem das Gericht infolge des Versehens eine wesentliche Behauptung der Partei überhaupt nicht zur Kenntnis nahm (BGE 121 III 331 E. 3b S. 334). Die formelle Rechtsverweigerung liegt darin, dass eine Partei ihren Standpunkt nicht in das Verfahren einbringen konnte, so dass ihn das Gericht bei der Entscheidfindung nicht berücksichtigte (vgl. ALBERTINI, Der verfassungsmässige Anspruch auf rechtliches Gehör im Verwaltungsverfahren des modernen Staates, Diss. Bern 2000, S. 90). Dabei spielt keine Rolle, ob das Schiedsgericht eine Aktenstelle überhaupt unberücksichtigt lässt oder missversteht. Ausschlaggebend ist vielmehr, dass eine Partei im Verfahren benachteiligt worden ist (vgl. AUBERT, a.a.O., N. 1797 S. 837) und ihr Mitwirkungsrecht derart entwertet wurde, dass sie im Ergebnis nicht besser dasteht, als wenn ihr das rechtliche Gehör zu einer entscheidwesentlichen Frage überhaupt nicht gewährt worden wäre.
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f) Wer aus einem offensichtlichen Versehen eine Verletzung des rechtlichen Gehörs ableiten will, kann sich demnach nicht darauf beschränken, auszuführen, inwiefern das behauptete Versehen zu einer fehlerhaften Beweiswürdigung führte, da darin, wie auch in einer willkürlichen Beweiswürdigung, keine Verletzung des rechtlichen Gehörs liegt. Die betreffende Partei hat vielmehr darzulegen, dass ihr das richterliche Versehen verunmöglicht hat, ihren Standpunkt in Bezug auf ein prozessrelevantes Thema in den Prozess einzubringen und zu beweisen.
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