Diese Bestimmung trifft auch zu, wenn die erste Beschimpfung, wie dies nach Art. 177 Abs. 1 möglich ist, in der Verübung einer Tätlichkeit, z.B. in der Versetzung eines Backenstreichs, besteht. Vom Wortlaut des Art. 177 Abs. 3 werden dagegen nicht erfasst die Fälle, in denen die erste Tätlichkeit nicht als Angriff auf die Ehre, sondern als Angriff auf den Körper mit Strafe bedroht ist, also dem Art. 126 untersteht. Allein die Tätlichkeiten gegenüber einem Erwachsenen richten sich selten bloss gegen den Körper; in den meisten Fällen enthalten sie auch einen Angriff auf die Ehre. Wer eine Tätlichkeit unmittelbar mit einer Beschimpfung oder Tätlichkeit erwidert, tut es in der Regel, weil er sich in seiner Ehre gekränkt fühlt, ohne darnach zu fragen, ob auch ein Angriff auf seinen Körper im Sinne des Art. 126 vorliegt. Es rechtfertigt sich daher, diese Unterscheidung auch durch den Richter nicht machen zu lassen, Art. 177 Abs. 3 also nicht nur anzuwenden, wenn die erste Tätlichkeit eine reine Beschimpfung ist, sondern auch dann, wenn sie daneben oder ausschliess
lich einen Angriff auf den Körper enthält. Art. 177 Abs. 3 soll dem Richter die Möglichkeit geben, von Strafe abzusehen, wenn die streitenden Teile sich selber schon an Ort und Stelle Gerechtigkeit verschafft haben und der Streit zu unbedeutend ist, als dass das öffentliche Interesse nochmalige Sühne verlangen würde. Dieser Sinn des Gesetzes erlaubt es, von der Bestrafung auch Umgang zu nehmen, wenn die erste Tätlichkeit unter Art. 126 fällt. Das öffentliche Interesse steht dem in der Regel nicht im Wege, sind doch Tätlichkeiten im Sinne des Art. 126 gleich wie Beschimpfungen bloss auf Antrag zu verfolgen und im Unterschied zu letzteren sogar bloss mit Übertretungsstrafe bedroht. Zudem stellt Art. 177 Abs. 3 selber die Tätlichkeiten in gewisser Beziehung der Beschimpfung gleich, nämlich dann, wenn sie als Vergeltungstat verübt werden. Dass das Gesetz damit nur die Tätlichkeiten im Sinne des Art. 177 Abs. 1 meine, erlaubt weder der Wortlaut noch der Werdegang des Gesetzes anzunehmen. Würde bloss die beschimpfende Tätlichkeit als Vergeltungstat anerkannt, so brauchte sie neben der Beschimpfung nicht besonders genannt zu werden. Die Bestimmung über Retorsion wurde in der zweiten Expertenkommision vorgeschlagen, und zwar zuerst mit einem Wortlaut, der die Vergeltungstat als "Beschimpfung oder Körperverletzung ("une injure ou une lésion corporelle") umschrieb (Protokoll
3 S. 30). Ohne ersichtliche Begründung wurde dann beantragt und beschlossen, "Körperverletzung" durch "Tätlichkeiten" (voies de fait) zu ersetzen (Protokoll
3 88 f.). Das Wort "Tätlichkeiten" aber wurde damals mit dem Sinne eines Angriffs auf den Körper, nicht eines Angriffs auf die Ehre, gebraucht, kam es doch bloss im Randtitel und im Texte des Art. 244 vor, der unter den Vorschriften über die Übertretungen gegen Leib und Leben stand (jetzt Art. 126), während Art. 108 Ziff. 1, der den Tatbestand der Beschimpfung umschrieb und dem heutigen Art. 177 Abs. 1 entsprach, es noch nicht verwendete, sondern von Angriffen auf die Ehre "durch Wort oder Tat"
(par la parole ou par le geste) sprach. Darf aber Art. 177 Abs. 3 StGB angewendet werden, wenn Tätlichkeiten im Sinne des Art. 126 StGB als vergeltende Tat verübt werden, so darf es auch geschehen, wenn sie die Rolle der vergoltenen Tat gespielt haben, denn es ist nicht einzusehen, weshalb jemand sollte bestraft werden müssen, wenn er durch Tätlichkeiten im Sinne des Art. 126 Tätlichkeiten gleicher Art, nicht aber, wenn er damit eine Beschimpfung (inbegriffen beschimpfende Tätlichkeiten) vergilt.