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| Bearbeitung, zuletzt am 15.03.2020, durch: DFR-Server, A. Tschentscher | |||
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71. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 26. Oktober 1988 i.S. Schweiz. Vereinigung für Straflosigkeit des Schwangerschaftsabbruches und Ursula Meier gegen Regierungsrat und Sanitätsdirektion des Kantons Zug (staatsrechtliche Beschwerde) | |
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Regeste |
| Art. 2 ÜbBest. BV; Straflose Unterbrechung der Schwangerschaft; kantonale Ausführungsvorschriften zu Art. 120 StGB. |
| 2. Fristwahrung (Art. 89 Abs. 1 OG) bei der Anfechtung eines nicht amtlich publizierten und den Beschwerdeführern nicht zugestellten kantonalen Erlasses (E. 1b). |
| 3. Legitimation (Art. 88 OG) einer gesamtschweizerischen Vereinigung zur Anfechtung kantonaler Weisungen betreffend die straflose Schwangerschaftsunterbrechung (E. 1d). |
| 4. Mit Art. 120 StGB nicht vereinbar ist eine kantonale Regelung, |
| - wonach straflose Schwangerschaftsunterbrechungen nur von Fachärzten FMH für Gynäkologie/Geburtshilfe in den gynäkologisch-geburtshilflichen Abteilungen kantonaler Spitäler vorgenommen werden dürfen (E. 2b aa); |
| - die ein Gutachtergremium für die Erfüllung der Aufgaben des für den Zustand der Schwangeren sachverständigen Facharztes (Art. 120 Ziff. 1 Abs. 2 StGB) vorsieht (E. 2b bb); |
| - welche die Gutachtertätigkeit auf schwangere Frauen mit Wohnsitz im Kanton des begutachtenden Arztes beschränkt (E. 2b cc). | |
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Sachverhalt | |
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"Der Regierungsrat wühlt ein aus patentierten Ärzten zusammengesetztes Gutachtergremium, das Gutachten im Sinne von Art. 120 Ziff. 1 StGB für die straflose Unterbrechung der Schwangerschaft zu erstatten hat." (§ 1 Abs. 1)
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"Die Sanitätsdirektion erlässt Ausführungsbestimmungen für die straflose Unterbrechung der Schwangerschaft." (§ 3)
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Die gestützt darauf am 12. Januar 1988 erlassenen Weisungen der Sanitätsdirektion lauten, soweit hier wesentlich, folgendermassen:
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"1. Begriffsbestimmung
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(...)
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1.3 Nach § 1 der Vollziehungsverordnung zu Art. 120 StGB betreffend Unterbrechung der Schwangerschaft wühlt der Regierungsrat das | 7 |
2. Ermächtigung zur Gutachtertätigkeit
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Zur Gutachtertätigkeit hat der Regierungsrat ein Gutachtergremium gewühlt, das sich aus nachstehenden Ärzten zusammensetzt:
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Herrn Dr. med. A. Schmid, Kantonsarzt, Vorsitz (von Amtes wegen)
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- Frau Dr. med. J. Hegglin, Zug
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- Herrn Dr. med. J. Henggeler, Oberägeri
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- Herrn Dr. med. H. Henner, Kantonsspital Zug (mit beratender Stimme)
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Das Gutachtergremium ist administrativ dem kantonsärztlichen Dienst angegliedert. (...)
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3. Gutachtenverfahren
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(...)
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3.2 Die Ermächtigung zur Gutachtertätigkeit ist auf das Gutachtergremium gemäss Ziff. 2 beschränkt. Im Kanton Zug darf eine straflose Schwangerschaftsunterbrechung nur durchgeführt werden, wenn ein positiver Befund des Gutachtergremiums vorliegt.
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3.3 Die Gutachtertätigkeit bezieht sich auf die Unterbrechung der Schwangerschaft bei Frauen mit Wohnsitz im Kanton Zug.
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3.4 Das Gutachtergremium hat der zeitlichen Dringlichkeit Rechnung zu tragen. Das Gutachtergremium kann bei besonderen Krankheitskombinationen Experten zuziehen oder für die Abklärung einer unklaren Frage eine Universitätsklinik/Poliklinik konsultieren oder die Schwangere zur Begutachtung dorthin überweisen.
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(...)
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4. Vornahme des straflosen Schwangerschaftsabbruches
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(...)
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4.2 Der Schwangerschaftsabbruch darf nur vorgenommen werden, wenn das bejahende Gutachten des Gutachtergremiums vorliegt. Die medizinischen Eingriffe können im Kanton Zug bei Zustimmung der Trägerschaften in den gynäkologisch-geburtshilflichen Abteilungen der Zuger Akutspitäler, und zwar nur durch Fachärzte FMH für Gynäkologie/Geburtshilfe durchgeführt werden."
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Mit Eingabe vom 25. April 1988 reichte die Schweizerische Vereinigung für Straflosigkeit des Schwangerschaftsabbruchs zusammen mit Ursula Meier beim Bundesgericht eine staatsrechtliche Beschwerde mit dem Begehren ein, die Weisungen des Sanitätsdepartements des Kantons Zug vom 12. Januar 1988 betreffend die straflose Unterbrechung der Schwangerschaft nach Art. 120 StGB seien aufzuheben. Die Beschwerdeführerinnen machen eine Verletzung des Grundsatzes der derogatorischen Kraft | 24 |
Der Regierungsrat beantragt in seiner Vernehmlassung vom 5. Juli 1988, die Beschwerde sei abzuweisen.
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Das Bundesgericht heisst die staatsrechtliche Beschwerde gut soweit es darauf eintritt.
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Aus den Erwägungen: | |
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b) Die Weisungen der Sanitätsdirektion wurden weder amtlich publiziert noch den Beschwerdeführerinnen zugestellt. Die Beschwerdefrist beginnt deshalb im Zeitpunkt der Kenntnisnahme zu laufen (BGE 108 Ia 3 E. 2b).
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Das ist für die Beschwerdeführerin Ursula Meier unbestrittenermassen frühestens der 6. April 1988, so dass sie mit der staatsrechtlichen Beschwerde vom 25. April 1988 die dreissigtägige Frist (Art. 89 Abs. 1 OG) eingehalten hat.
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Die Schweizerische Vereinigung für Straflosigkeit des Schwangerschaftsabbruches (SVSS) hat zwar vom Inhalt der Weisungen | 30 |
c) Die Beschwerdeführerinnen wenden sich auch gegen Bestimmungen der regierungsrätlichen Vollziehungsverordnung. Die Frist für eine unmittelbare Anfechtung dieses Erlasses ist allerdings unbenützt verstrichen. Auch wenn sich die Rüge der Verfassungswidrigkeit von Teilen der angefochtenen Weisungen, welche schon in der Vollziehungsverordnung festgelegt sind, als begründet erweist, führt dies nicht zur Aufhebung dieser Verordnung, sondern nur zur Kassation der gestützt darauf erlassenen Weisungen (BGE 111 Ia 271 E. 2; siehe auch BGE 107 Ia 220 E. 2b).
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d) aa) Zur Anfechtung eines kantonalen Erlasses mit staatsrechtlicher Beschwerde ist legitimiert, wer durch die als verfassungswidrig gerügten Bestimmungen in seinen rechtlich geschützten Interessen (Art. 88 OG) direkt oder zumindest virtuell betroffen ist, weil sie auf ihn angewandt werden oder wenigstens einmal angewandt werden könnten (BGE 113 Ia 326 E. 2a; siehe auch BGE 112 Ia 182 E. 1b je mit Hinweisen). Diese Voraussetzung ist für die Beschwerdeführerin Ursula Meier als Einwohnerin des Kantons Zug, die am 4. Mai 1949 geboren ist, ohne weiteres erfüllt.
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bb) Einem Verband wird die Beschwerdelegitimation zur Wahrung der Interessen seiner Mitglieder zugestanden, wenn er eine juristische Person ist, die einzelnen Mitglieder zur staatsrechtlichen Beschwerde legitimiert wären, die Wahrung der durch ein verfassungsmässiges Recht geschützten Interessen der Mitglieder zu seinen statutarischen Aufgaben gehört und tatsächlich ein Interesse der Mehrheit oder mindestens einer Grosszahl der Mitglieder | 33 |
e) Die Beschwerdeführerinnen verlangen die gesamthafte Aufhebung der Weisungen, beschränken sich in ihrer Begründung aber darauf, Mängel in den Ziffern 1.3, 3.3 sowie 4.2 geltend zu machen. Das Bundesgericht darf nur auf diese spezifisch gerügten Punkte eintreten (Art. 90 Abs. 1 lit. b OG).
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a) Dem kantonalen Gesetzgeber ist es verwehrt, strafrechtliche Vorschriften über Rechtsgebiete aufzustellen, die eine abschliessende Regelung im Bundesstrafrecht erfahren haben. Zudem gehen auch verwaltungsrechtliche Vorschriften des Bundesstrafrechts jeder ihnen widersprechenden Bestimmung des kantonalen öffentlichen Rechts vor. Im übrigen bleibt es den Kantonen aber unbenommen, zum Schutz öffentlicher Interessen verwaltungsrechtliche Normen zu erlassen, selbst wenn es sich um Rechtsverhältnisse handelt, für welche der Bund strafrechtliche Vorschriften | 36 |
Auszugehen ist davon, dass der Bundesgesetzgeber in Art. 120 Ziff. 1 StGB sowohl die materiellen Voraussetzungen der straflosen Schwangerschaftsunterbrechung als auch die Massnahmen zur Abwehr von Missbräuchen abschliessend geregelt hat (Sten.Bull. 1934 N 370/371). Diese Voraussetzungen dürfen von den Kantonen somit weder erschwert noch erleichtert werden, auch die Einführung zusätzlicher Vorkehren zur Missbrauchsbekämpfung ist unzulässig (BGE 101 Ia 580 E. 4b mit Hinweisen).
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b) aa) Das Strafgesetzbuch behält die Ausführung strafloser Schwangerschaftsunterbrechungen patentierten Ärzten vor, d.h. solchen, denen im Kanton, in dem sie ihre ärztliche Tätigkeit ausüben, eine entsprechende Bewilligung erteilt wurde. Die Beschränkung auf Fachärzte FMH für Gynäkologie/Geburtshilfe und auf eine Durchführung der Eingriffe in den gynäkologisch-geburtshilflichen Abteilungen der Zuger Akutspitäler (Ziff. 4.2 Weisungen) lässt sich nicht auf Bundesrecht stützen. Eine einschränkende Auslegung des Begriffs "patentierter Arzt" lässt sich namentlich mit Blick auf die verfassungsrechtlich gewährleistete freie Arztwahl und die Bedeutung des Vertrauensverhältnisses zwischen der Schwangeren und dem Arzt sowie die Wahrung der Geheim- und Intimsphäre nicht rechtfertigen. Möglicherweise verfügen zur Zeit die privaten Arztpraxen im Kanton Zug nicht über die für Schwangerschaftsunterbrechungen notwendigen Einrichtungen oder deren Inhaber verzichten aus freien Stücken auf eine entsprechende Tätigkeit. Dies allein erlaubt es jedoch nicht, Ärzten, bei denen die kantonalen Gesundheitsbehörden im übrigen grundsätzlich die Voraussetzungen für eine Praxisausübung als erfüllt erachten (§ 16 ff. Gesundheitsgesetz), die Vornahme von Schwangerschaftsunterbrechungen gemäss Art. 120 Ziff. 1 StGB generell zu untersagen.
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bb) Das Bundesgesetz verlangt eine Begutachtung durch einen zweiten für den Zustand der Schwangeren sachverständigen Facharzt. Dieses Erfordernis war die wohl umstrittenste Frage in den sich von 1918 (Botschaft) bis 1937 erstreckenden Verhandlungen in den Eidgenössischen Räten, die zu sieben Differenzbereinigungen geführt haben. Die fachärztliche Begutachtung soll angesichts der Unbestimmtheit der medizinischen Voraussetzungen der Missbrauchsgefahr | 39 |
Das in den Weisungen vorgesehene Gutachtergremium kann die Funktion des "für den Zustand der Schwangeren sachverständigen Facharztes" aus verschiedenen Gründen nicht erfüllen. Die drei Ärzte, welche in diesem Gremium die Entscheidungen treffen, können nicht alle Fachdisziplinen vertreten, was im Einzelfall eine Begutachtung durch nicht fachspezifische Ärzte zur Folge haben könnte. Auch die in den Weisungen (Ziff. 3.4) vorgesehene Möglichkeit des Beizugs weiterer Experten behebt diesen Mangel nicht; am Entscheid wirken trotzdem Nichtfachleute mit. Dazu kommt, dass das Erfordernis fachärztlicher Begutachtung gerade deshalb an Stelle einer Anzeigepflicht des ausführenden Arztes vorgeschrieben worden ist, weil man eine Verletzung der Geheim- und Privatsphäre der Schwangeren ausschliessen und diese von einer Flucht in die Illegalität abhalten wollte (Sten.Bull. 1929 N 27; 1934 N 369-371). Neben den Bedenken hinsichtlich des erforderlichen umfassenden Fachwissens waren solche Gründe auch massgebend dafür, dass man davon absah, einen "Amtsarzt" als Gutachter vorzusehen. Bei einer Begutachtung durch ein Ärztegremium ist aber in der Regel naturgemäss die Privatsphäre erheblicher gefährdet und die Persönlichkeit der Schwangeren stärkeren Beeinträchtigungen ausgesetzt, als dies bei einer Begutachtung durch einen einzelnen Arzt der Fall wäre. Auch das in medizinischen Behandlungsverhältnissen oder Beratungssituationen erforderliche Vertrauensverhältnis wird im Kontakt zu einem einzelnen Arzt einfacher aufzubauen sein. Eine Abweichung vom klaren Wortlaut des Art. 120 Ziff. 1 Abs. 2 StGB und die Einsetzung eines Gutachtergremiums lässt sich somit nicht rechtfertigen und verletzt Bundesrecht.
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