BGE 99 Ib 351
 
44. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 9. November 1973 i.S. A. gegen Staatsrat des Kantons Freiburg.
 
Regeste
Art. 43 StGB; Massnahmen an geistig Abnormen.
2. Der Vollzug einer Verwahrung gemäss Art. 43 StGB muss sich auf eine gültige richterliche Anordnung dieser Massnahme stützen (Erw. 3).
3. Anspruch auf rechtliches Gehör beim Vollzug einer Massnahme, deren Anordnung längere Zeit zurückliegt (Erw. 4).
 
Sachverhalt


BGE 99 Ib 351 (351):

A.- In der Nacht vom 30. September 1968 legte A. in einem Abfalldepot in Murten Feuer oder liess es durch einen Dritten legen.
Am 1. Dezember 1970 stellte die Anklagekammer des Kantonsgerichts Freiburg die gegen A. wegen Brandstiftung, eventuell wegen Anstiftung hierzu eröffnete Strafuntersuchung ein und leitete die Akten "im Hinblick auf eine administrative

BGE 99 Ib 351 (352):

Verwahrung in einer Heil- oder Pflegeanstalt" an den Staatsrat des Kantons Freiburg weiter. Sie stützte sich auf ein psychiatrisches Gutachten vom 4. November 1970 von Dr. X. des kantonalen psychiatrischen Spitals Marsens, das A. wegen Schizophrenie ("processus schizophrénique simple") als unzurechnungsfähig erklärte und empfahl, ihn zu entmündigen und unter ständige ärztliche Kontrolle zu stellen. Die Anklagekammer stellte fest, die Absicht von A., das Abfalldepot in ein Wohnhaus umzuwandeln und die Abfälle mit Hilfe eines Brandes zu beseitigen, hätte ganz seinen krankhaften Ideen entsprochen.
B.- Gestützt auf Berichte von Dr. X. vom 20. Dezember 1971 und von Dr. Z. vom 14. November 1972, die eine ambulante ärztliche Kontrolle ohne Hospitalisierung für angemessen hielten, sah der Staatsrat ohne formellen Entscheid zunächst von einer Anstaltseinweisung ab. Im Frühjahr 1973 geriet A. wegen Entzuges von Autoschildern mit der Polizei von Murten in Konflikt. Wegen "unreglementärem Vorgehen, Verweigerung von Aussagen und handgreiflicher Abweisung" verzeigte er am 9. April 1973 die Polizei und Unbekannt beim Oberamt Seebezirk. Ein gegen ihn eingeleitetes Strafverfahren wegen Nachtlärm und Ruhestörung gemäss Art. 11 EG StGB für den Kanton Freiburg stellte der Untersuchungsrichter am 5. Juli 1973 wegen Unzurechnungsfähigkeit von A. ein.
Aufgrund des Gutachtens vom 4. November 1970, des Beschlusses der Anklagekammer vom 1. Dezember 1970 und der Vorfälle von 1973 verfügte der Staatsrat am 25. Juni 1973, A. werde für unbestimmte Dauer im kantonalen psychiatrischen Spital von Marsens interniert, aus dem er nur unter Vorbehalt des positiven Vorentscheides der medizinischen Direktion von Marsens bedingt entlassen werden könne. Unter Umständen könne er in die Klinik von Münchenbuchsee überführt werden. Der Beschluss wurde am 3. Juli 1973 ohne ordnungsgemässe Eröffnung an den Betroffenen und ohne Benachrichtigung der Angehörigen vollzogen.
C.- A. führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, der Staatsratsbeschluss vom 25. Juni 1973 sei aufzuheben. Er rügt, er sei nie angehört und der Entscheid sei nicht ordnungsgemäss eröffnet worden. Er habe unter regelmässiger ambulanter Behandlung gestanden, so dass nicht die geringste Gemeingefahr vorgelegen habe. Das psychiatrische Gutachten,

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auf das sich der Staatsrat stütze, liege bald drei Jahre zurück. Die Internierung und das Vorgehen der Polizei überschritten in krasser Weise das Ermessen.
D.- Im Namen des Staatsrates beantragt der Staatsanwalt, die Beschwerde abzuweisen. Das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement schliesst auf Gutheissung der Beschwerde.
 
Der Kassationshof zieht in Erwägung:
Der Staatsrat ist eine Verwaltungsbehörde. Diese stützt ihren Beschluss:
"auf die früheren Art. 14 und 17 des schweiz. Strafgesetzbuches und 27 der Vollzugsverordnung des StGB, vom 7. Februar 1940; auf Art. 43 des neuen StGB;
auf den medizinischen Bericht des psychiatrischen Spitals von Marsens, vom 4. November 1970;
auf den Urteilsspruch der Anklagekammer des Kantonsgerichtes, vom 1. Dezember 1970;
auf die Akten."
Unter dieser "Vollzugsverordnung des StGB" ist in Wirklichkeit das "Einführungsgesetz zum Schweizerischen Strafgesetzbuch für den Kanton Freiburg vom 7. Februar 1940" gemeint. Dessen Art. 27 lautet:
"Der Staatsrat ist die zuständige Behörde für den Vollzug der Verwahrung und Versorgung von Unzurechungsfähigen oder vermindert Zurechnungsfähigen (Art. 17 des Schweizerischen Strafgesetzbuches)."
In der Vernehmlassung führt der Staatsanwalt im Namen des Staatsrates aus:
"Der Entscheid des Staatsrates basiert auf alt Art. 14 bzw. 17 StGB und auf neu Art. 43 StGB, wonach die zuständige Behörde den Beschluss des Richters auf Verwahrung ... vollzieht. Gemäss Art. 27 EG StGB ist der Staatsrat Vollzugsbehörde. Der Entscheid. ist ergangen in Ausübung einer langjährigen Praxis, wonach der Überweisungsbeschluss der Anklagekammer als hinreichender richterlicher Auftrag angesehen wurde (vgl.: Logoz, 1939 ad Art. 14 StGB, S. 52 Ziff. 1)."
Die Staatsanwaltschaft betrachtet somit den Beschluss der Anklagekammer als "richterlichen Auftrag" zum Vollzug der

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Massnahmen gemäss alt Art. 14 ff. und neu Art. 43 StGB. Die Anklagekammer stellte die Strafuntersuchung ein und beschloss: "Das Strafaktenheft wird dem Staatsrat zur weiteren Entscheidung übersandt." In den Erwägungen hierzu heisst es lediglich, die Strafakten seien "an den Staatsrat im Hinblick auf eine administrative Verwahrung in einer Heil- oder Pflegeanstalt weiterzuleiten". Darunter versteht der Staatsrat aber nicht eine verwaltungsrechtliche Verwahrung, sondern jene gemäss Strafgesetzbuch. Zuständig zum Vollzug einer richterlich angeordneten Massnahme sind die von den Kantonen bezeichneten Behörden (Art. 345 Ziff. 2 StGB), im Kanton Freiburg gemäss Art. 27 EG StGB der Staatsrat.
Der angefochtene Staatsratsbeschluss will somit eineVerfügung des Strafvollzuges sein, die von der letzten kantonalen Instanz ausging, so dass die Verwaltungsgerichtsbeschwerde als zulässig erscheint (Art. 98 lit. g OG, Art. 5 VwG).
3. Die Massnahmen werden vom Strafrichter angeordnet (Art. 43 StGB, alt Art. 14 ff. StGB). Der Vollzug der richterlich verhängten Massnahmen obliegt der zuständigen Behörde, im Kanton Freiburg gemäss Art. 27 EG StGB dem Staatsrat. Diese Aufteilung der Kompetenzen anerkennt der Staatsrat, beruft er sich doch ausdrücklich "auf den Urteilsspruch der Anklagekammer des Kantonsgerichtes vom 1. Dezember 1970" und seine Vollzugsbefugnis gemäss Art. 27 EG StGB. Es ist jedoch fraglich, ob jener Beschluss tatsächlich die Verwahrung des Beschwerdeführers gemäss alt Art. 14 StGB anordnet. Im Dispositiv heisst es nur, das Strafaktenheft werde dem Staatsrat zur weiteren Entscheidung übersandt. In den Erwägungen führt die Anklagekammer dazu aus, die Akten würden an den Staatsrat im Hinblick auf eine administrative Verwahrung in einer Heil- oder Pflegeanstalt weitergeleitet. In dieser Begründung und in der blossen Übersendung der Akten kann aber keine gültige richterliche Anordnung der Verwahrung gemäss alt Art. 14 StGB erblickt werden. Zudem fehlte auf dem Einstellungsbeschluss die Rechtsmittelbelehrung (Art. 251 Abs. 2 BStP), die hätte angebracht werden müssen, wenn die Anklagekammer eine Verwahrung hätte anordnen wollen. Fehlte somit ein

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richterlicher Verwahrungsbeschluss im Sinne von alt Art. 14 bzw. neu Art. 43 StGB, so stellte die zwangsweise Verbringung in die Anstalt eine klare Rechtsverletzung dar. Der angefochtene Entscheid ist daher aufzuheben.
a) Der Umfang des Anspruchs auf rechtliches Gehör bestimmt sich nach den kantonalen Verfahrensvorschriften. Wo jedoch dieser kantonale Rechtsschutz ungenügend ist, greifen die unmittelbar aus Art. 4 BV folgenden, also bundesrechtlichen Verfahrensregeln zur Sicherung des rechtlichen Gehörs Platz (BGE 98 Ia 6 E. 2 a).
b) Der Beschwerdeführer rügt keine Verletzung kantonaler Verfahrensvorschriften. Es stellt sich deshalb nur die Frage, ob die aus Art. 4 BV sich ergebenden Regeln verletzt worden sind. Diese Frage ist zu bejahen. Eine vom Richter angeordnete Verwahrung - diese ist für die Prüfung der oben gestellten Frage vorauszusetzen - konnte ca. 21/2 Jahre später nur in Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör vollstreckt werden, wenn nicht zuvor in einem rechtsstaatlichen Grundsätzen genügenden Verfahren geprüft wurde, ob der Beschwerdeführer auch heute noch der Verwahrung bedürfe. Diese Frage stellte sich im vorliegenden Fall umso mehr, als aus der Brandstiftung von A. vom 30. September 1968 nicht auf eine Pyromanie geschlossen werden konnte, und die Gutachter wohl eine dauernde ärztliche Betreuung, nicht aber unbedingt eine Verwahrung empfahlen. Eine solche Überprüfung hätte auch deshalb dem Geiste des Gesetzes entsprochen, weil schon alt Art. 17 Ziff. 2 StGB die zuständige Behörde verpflichtete, die Massnahmen aufzuheben, sobald deren Grund weggefallen ist, und die probeweise Entlassung anzuordnen, sobald sie gerechtfertigt erscheint. Der neue Art. 45 Ziff. 1 Abs. 2 und 3 StGB verpflichtet die vollziehende Behörde darüber hinaus, jährlich mindestens einmal die bedingte oder probeweise Entlassung nach Anhören des zu Entlassenden zu prüfen. Den Fall, dass der Vollzug einer Massnahme gemäss alt Art. 14 ff. und neu Art. 43 StGB lange Zeit nicht angeordnet wurde, regelt das Gesetz allerdings nicht. Da gerichtlich angeordnete Massnahmen

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in der Regel in verhältnismässig kurzer Zeit vollstreckt werden, bestand hierzu auch kein Anlass. Das Fehlen einer entsprechenden Norm schliesst aber die Verpflichtung zu einer neuen Überprüfung der Verwahrungsbedürftigkeit nicht aus.
Nachdem im vorliegenden Fall ca. 21/2 Jahre verstrichen sind, ohne dass der Staatsrat die Verbringung in eine Anstalt für notwendig hielt, hätte er prüfen müssen, ob diese unter den jetzt herrschenden Umständen noch erforderlich sei. Vor dem Entscheid hätte er zudem den Beschwerdeführer anhören müssen. Indem er dies unterliess, verweigerte er A. das rechtliche Gehör. Der angefochtene Entscheid müsste aus diesem Grunde auch aufgehoben werden, wenn er sich auf eine vom Richter gültig angeordnete Verwahrung stützen könnte.
Demnach erkennt der Kassationshof:
Die Beschwerde wird gutgeheissen und der Entscheid des Staatsrates des Kantons Freiburg vom 25. Juni 1973 aufgehoben.