BGE 102 II 193
 
29. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 30. September 1976 i.S. Rohr gegen Schärer und Mitbeteiligte.
 
Regeste
Klage auf Ungültigerklärung einer letztwilligen Verfügung; Verjährung (Art. 521 Abs. 1 ZGB).
Sie gilt auch für Kläger, die mit dem Beklagten Gesamteigentümer und Mitbesitzer der Erbschaft sind und sich somit begnügen könnten, die Ungültigkeit des Testaments gestützt auf Art. 521 Abs. 3 ZGB (jederzeit) einredeweise geltend zu machen (Erw. 3).
 
Sachverhalt


BGE 102 II 193 (193):

A.- Am 2. September 1921 starb Jakob Rohr (im folgenden Erblasser genannt), der in Hausen/AG ein kleines landwirtschaftliches Heimwesen bewirtschaftet hatte. Als gesetzliche Erben hinterliess er seine Ehefrau, Rosa Rohr-Jäggi, sowie einen Sohn und drei Töchter.


BGE 102 II 193 (194):

Bei der behördlichen Inventarisierung des Nachlasses seiner am 18. Februar 1969 verstorbenen Ehefrau kam ein Testament des Erblassers vom 13. Januar 1919 zum Vorschein. Darin hatte dieser unter Ziffer 3 folgendes verfügt:
"Später kann der Sohn Fritz durch Kauf das Wohnhaus erwerben mit
Umgelände um den Preis von Fr. 15'000.--. Der Mutter Rosa Rohr-Jäggi wird
das Wohnrecht eingeräumt bis zu ihrem Tode."
Das Testament wurde am 11. März 1969 durch den Präsidenten des Bezirksgerichtes Brugg eröffnet.
B.- Mit Eingabe vom 18. Januar 1970 leiteten die drei Töchter des Erblassers beim Friedensrichteramt des Kreises Windisch gegen ihren Bruder Klage ein. Sie stellten die Rechtsbegehren, es sei gerichtlich festzustellen, dass die eigenhändige letztwillige Verfügung des Erblassers vom 13. Januar 1919 nichtig, allenfalls ungültig sei, und es sei der Beklagte gestützt auf Art. 540 Abs. 1 Ziff. 4 ZGB als erbunwürdig zu erklären. Nach erfolglosem Sühneversuch stellte der Friedensrichter am 14. Februar 1970 das Weisungszeugnis aus. Die Klage wurde jedoch beim Gericht nicht anhängig gemacht.
C.- Am 15. Februar 1971 stellten die Töchter des Erblassers beim Friedensrichteramt ein neues, im wesentlichen gleichlautendes Klagebegehren, mit dem sie ein umfassendes Offenbarungsbegehren im Sinne der §§ 304 ff. aarg. ZPO verbanden. Nachdem das Weisungszeugnis am 4. März 1971 ausgestellt worden war, reichten sie mit Eingabe vom 4. Oktober 1971 beim Bezirksgericht Brugg gegen ihren Bruder Klage ein mit folgenden Rechtsbegehren:
"1.1 Der Beklagte sei gemäss Art. 540 Abs. 1 ZGB als erbunwürdig zu
erklären.
1.2 Es sei richterlich festzustellen, dass Frau Rosa Rohr-Jäggi,
verstorben am 18. Februar 1969, in Hausen wohnhaft gewesen, gemäss Art. 540
Abs. 1 ZGB erbunwürdig gewesen ist.
2. Eventuell:
2.1 Es sei richterlich festzustellen, dass die eigenhändige letztwillige
Verfügung vom 13. Januar 1919 des am 2. September 1921 verstorbenen Jakob
Rohr, gew. Strassenwärter, nichtig ist.
2.2 Eventuell sei die in 2.1 genannte letztwillige Verfügung ungültig zu
erklären.
2.3 Subeventuell sei die in 2.1 genannte Verfügung insoweit ungültig zu
erklären, als sie dem Beklagten das Recht einräumt, das sich im Nachlass
befindliche Wohnhaus mit Umgelände zum Preis von Fr. 15'000.-- durch Kauf


BGE 102 II 193 (195):

erwerben zu können."
In seiner Klageantwort vom 20. Dezember 1971 liess der Beklagte beantragen, es sei auf die Klage wegen Verjährung nicht einzutreten, allenfalls sei diese vollumfänglich abzuweisen.
Mit Urteil vom 26. November 1974 trat das Bezirksgericht auf die Klage grundsätzlich ein und hiess diese insofern gut, als es feststellte, dass die Ehefrau des Erblassers erbunwürdig gewesen sei. Das Begehren um Feststellung der materiellen Ungültigkeit der letztwilligen Verfügung wurde - "mangels genügender sachlicher Grundlage" - von der Hand gewiesen.
D.- Gegen das bezirksgerichtliche Urteil appellierten die Klägerinnen an das Obergericht des Kantons Aargau. In teilweiser Gutheissung der Berufung stellte dessen 1. Zivilabteilung mit Entscheid vom 27. Februar 1976 fest, Ziffer 3 Satz 1 des Testaments (die Verfügung zu Gunsten des Beklagten) sei ungültig.
E.- Das Urteil der kantonalen Appellationsinstanz hat der Beklagte beim Bundesgericht mit Berufung angefochten.
Die Klägerinnen schliessen auf Abweisung der Berufung und Bestätigung des angefochtenen Urteils.
 
Aus den Erwägungen:
a) Nach den für das Bundesgericht verbindlichen Feststellungen der Vorinstanz begann die einjährige Frist am 12. März 1969 (an dem der Testamentseröffnung folgenden Tag)

BGE 102 II 193 (196):

zu laufen. Das erste Sühnebegehren der Klägerinnen ging beim zuständigen Friedensrichteramt am 6. Februar 1970 ein. Damit hätte die einjährige Klagefrist gewahrt werden können, zumal nach aargauischem Prozessrecht (§§ 6 und 7 ZPO) für Erbstreitigkeiten ein Vermittlungsverfahren zwingend vorgeschrieben ist und zwischen diesem und dem eigentlichen Gerichtsverfahren in dem Sinne ein Zusammenhang besteht, als der Kläger den Streit spätestens sechs Monate nach dem Vermittlungsversuch (§ 106 Abs. 2 aarg. ZPO) vor den zuständigen Richter zu tragen hat (vgl. dazu BGE 98 II 181 Erw. 11 mit Hinweisen). Letzteres haben die Klägerinnen indessen unterlassen, so dass das Weisungszeugnis vom 14. Februar 1970 seine prozessrechtliche Wirkung verlor (vgl. EICHENBERGER, Beiträge zum Aargauischen Zivilprozessrecht, S. 121; KELLER/PFISTERER, Die Zivilprozessordnung für den Kanton Aargau, 3. A., N. 11 zu § 106).
b) Ein Vermittlungsbegehren kann nur dann im Sinne der hievor angeführten bundesgerichtlichen Praxis als Klageanhebung gelten, wenn im Anschluss an das Sühneverfahren innert der vom kantonalen Prozessrecht gesetzten Frist beim zuständigen Richter auch Klage erhoben wird (vgl. BGE 98 II 181 und 182). Die Anrufung des Friedensrichters konnte aber andererseits auch nicht eine Unterbrechung der Klagefrist bewirken, handelt es sich doch bei dieser - wie das Bundesgericht in BGE 98 II 177 ff. unter Hinweis auf ein früheres Urteil (BGE 86 II 340 ff.) dargetan hat - nicht um eine Verjährungs-, sondern um eine Verwirkungsfrist, auf die die Bestimmungen der Art. 135 ff. OR ohnehin keine Anwendung finden können (a.a.O. S. 181 Erw. 10).
Wohl haben sich die Klägerinnen am 15. Februar 1971 ein zweites Mal an den Friedensrichter gewandt, doch war die Einjahresfrist damals abgelaufen. Die kantonalen Instanzen haben daher die auf dem Weisungszeugnis vom 4. März 1971 beruhende Klage zu Unrecht als nicht verjährt betrachtet.


BGE 102 II 193 (197):

Allein, dieser Hinweis ist unbehelflich, da die Klägerinnen nicht behaupten können und auch nicht behaupten, sie beriefen sich zur Verteidigung gegen einen vom Beklagten geltend gemachten Anspruch auf die Ungültigkeit des Testaments. Geklagt haben ja ausschliesslich sie. Der Beklagte beschränkte sich stets darauf, der Klage seiner Schwestern mit dem Antrag zu begegnen, es sei darauf nicht einzutreten. Namentlich hat er im Prozess nie geltend gemacht, er wolle von dem ihm in der letztwilligen Verfügung eingeräumten Recht Gebrauch machen, das zum väterlichen Nachlass gehörende Wohnhaus für Fr. 15'000.-- zu kaufen.
Angesichts der klaren gesetzlichen Regelung ginge es aber auch nicht an, die Ungültigkeitsklage dort zeitlich uneingeschränkt zuzulassen, wo sie von mitbesitzenden und somit auf sie nicht angewiesenen Erben erhoben wird.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
In Gutheissung der Berufung wird das Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau (1. Zivilabteilung) vom 27. Februar 1976 aufgehoben und die Klage als verwirkt abgewiesen.