BGE 94 IV 68
 
19. Urteil des Kassationshofes vom 24. Mai 1968 i.S. Meier gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich.
 
Regeste
1. Übergesetzliche Rechtfertigungsgründe. Voraussetzung für die Zubilligung eines übergesetzlichen Notstandes oder der Wahrnehmung berechtigter Interessen ist, dass das verwendete Mittel dem verfolgten Ziele angemessen sei. Das trifft dann nicht zu, wenn dem Täter zur Erreichung des Zieles andere, gesetzliche Mittel zur Verfügung stehen und ihm zugemutet werden kann, davon Gebrauch zu machen.
 
Sachverhalt


BGE 94 IV 68 (69):

A.- Der Beschwerdeführer Kurt Meier, damals Detektiv-Wachtmeister der Stadtpolizei Zürich, übergab im Februar 1967 dem vom Migros-Genossenschaftsbund geführten Büro gegen Amts- und Verbandswillkür Photokopien von sieben Aktenstücken, welche Verfahren gegen den Automobilisten Josef Guldimann betrafen, und ermächtigte das Büro etwas später, das Material publizistisch zu verwenden. Die Leiterin des Büros, Dr. iur. G. Heinzelmann, verfasste gestützt darauf ein Pressebulletin, das in verschiedenen Tageszeitungen abgedruckt wurde.
B.- Durch Strafbefehl vom 8. Mai 1967 verurteilte die Bezirksanwaltschaft Zürich Kurt Meier wegen Verletzung des Amtsgeheimnisses (Art. 320 Ziff. 1 StGB) zu einer bedingt vollziehbaren Gefängnisstrafe von 14 Tagen.
Das Bezirksgericht Zürich, bei dem Meier Einsprache gegen den Strafbefehl erhob, änderte diesen am 23. August 1967 dahin ab, dass es den Angeklagten statt zu Gefängnis zu einer Busse von Fr. 400.-- verurteilte, die nach einem Jahr bei Bewährung zu löschen sei.
Das Obergericht des Kantons Zürich wies am 26. Januar 1968 die Berufung des Angeklagten ab und bestätigte das bezirksgerichtliche Urteil.
C.- Gegen das Urteil des Obergerichtes hat Meier kantonale und eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde erhoben.
Die kantonale Beschwerde wurde vom Kassationsgericht des Kantons Zürich am 8. April 1968 abgewiesen.
Mit der eidgenössischen Beschwerde beantragt Meier Aufhebung des obergerichtlichen Urteils und Rückweisung der Sache an das Obergericht zur Freisprechung, eventuell zu neuer Entscheidung.
Die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich beantragt Abweisung der Beschwerde.
 
Der Kassationshof zieht in Erwägung:
Was geheim zu halten ist, bestimmt für kantonale Behörden und Beamte das kantonale Recht. Nach der verbindlichen

BGE 94 IV 68 (70):

Erklärung der Vorinstanz unterlagen die Akten, von denen der Beschwerdeführer dem Büro gegen Amts- und Verbandswillkür Photokopien zur publizistischen Verwertung übergeben hat, der Geheimhaltungspflicht. Der Beschwerdeführer anerkennt denn auch, durch die Auslieferung der genannten Photokopien den in Art. 320 Ziff. 1 Abs. 1 umschriebenen Tatbestand an sich erfüllt zu haben.
Dabei geht er mit der Vorinstanz einig, dass Art. 34 StGB jedenfalls direkt nicht anwendbar ist, da diese Bestimmung nur den individuellen Notstand erfasst und die Wahrung allgemeiner Rechtsgüter, wie die hier in Frage stehende Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz, nicht darunter fällt. Nach unbestrittener Lehre gibt es indessen neben den in Art. 32-34 aufgeführten Gründen, die eine Tat rechtmässig oder straflos machen, auch noch sogenannte übergesetzliche Rechtfertigungsgründe (s. insbesondere GERMANN, Das Verbrechen S. 211 ff, und Taschenkommentar, 8. Aufl. Vorbem. zu Art. 32; NOLL, ZStrR 1964 S. 160 ff). Als solche gelten u.a. der übergesetzliche Notstand und die Wahrnehmung berechtigter Interessen. Diese Rechtfertigungsgründe nimmt der Beschwerdeführer für seine Handlung in Anspruch, mit der er sich an die Öffentlichkeit gewandt habe, um sie gegen die Verletzung der Rechtsgleichheit durch die Zürcher Polizeibehörden aufzurufen.
Ob Notstand, ob Wahrnehmung berechtigter Interessen, auf jeden Fall ist, wie der Beschwerdeführer anerkennt, Voraussetzung, dass das verwendete Mittel dem verfolgten Ziele angemessen sei. Das trifft dann nicht zu, wenn dem Täter zur Erreichung des Zieles andere, gesetzliche Mittel zur Verfügung stehen und ihm zugemutet werden kann, davon Gebrauch zu machen. Für die analoge Anwendung von Art. 34 StGB auf andere Notstände ergibt sich diese Voraussetzung schon daraus, dass nach dieser Bestimmung die Gefahr nicht anders abwendbar sein muss. In der gleichen Zwangslage muss sich der Täter bei der Wahrnehmung berechtigter Interessen befinden, wie der Kassationshof für die üble Nachrede nach Art. 173 StGB bis zur

BGE 94 IV 68 (71):

Teilrevision von 1950 erkannt hat, als die Wahrnehmung berechtigter öffentlicher und privater Interessen noch einen selbständigen Rechtfertigungsgrund bildete (BGE 85 IV 182 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Der Beschwerdeführer befand sich nicht in einer derartigen Zwangslage. Wenn er die Rechtsgleichheit bei den Zürcher Polizeibehörden zur Geltung bringen wollte, stand ihm dafür der Dienstweg offen. Dieser war nicht damit erschöpft, dass er sich beim seinerzeitigen Chef des Rechtsdienstes im Strassenverkehr, Frick, wiederholt vergeblich um eine Besprechung bemühte. Frick war zufolge seiner Wahl als ausserordentlicher Staatsanwalt aus dem Amte geschieden, schon bevor der Beschwerdeführer seine Schritte beim Büro gegen Amts- und Verbandswillkür unternahm. Es hätte daher nichts näher gelegen, als sich zunächst an den neuen Chef des Rechtsdienstes zu wenden. Sodann hätte er, wie das Bezirksgericht unwidersprochen feststellt, die Möglichkeit gehabt, die Sache beim städtischen Polizeivorstand, beim Stadtpräsidenten, dem nach der Gemeindeordnung die Geschäftsleitung und die allgemeine Aufsicht über den Gang der städtischen Verwaltung zusteht, und schliesslich beim Gesamtstadtrat anzubringen. Dafür, dass er bei allen diesen Instanzen von vornherein kein Gehör gefunden hätte, bestehen keinerlei ernstliche Anhaltspunkte. Infolgedessen wäre ihm zuzumuten gewesen, den genannten Weg zu beschreiten, wenn er sich von der geltend gemachten Gewissensnot befreien wollte. Dabei hätte ihn kein Vorwurf getroffen, wenn er die hierarchische Ordnung des Dienstweges nicht eingehalten hätte, sondern sich direkt etwa an den Stadtpräsidenten oder den Gesamtstadtrat oder, je nach dem kantonalen Recht, an die parlamentarische Geschäftsprüfungskommission gewandt hätte.
Es kann einem Beamten nicht zugestanden werden, mit Amtsgeheimnissen die "Flucht in die Öffentlichkeit" anzutreten, solange er nicht mit allen ihm zur Verfügung stehenden gesetzlichen, insbesondere dienstlichen Mitteln versucht hat, gegen die Amtspflichtverletzungen oder sonstigen Missstände anzukämpfen, die er in seiner Stellung wahrgenommen haben will.
Demnach erkennt der Kassationshof:
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.