BGE 108 IV 145
 
35. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 23. Dezember 1982 i.S. Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich gegen St. (Nichtigkeitsbeschwerde)
 
Regeste
Art. 5 und 6 StGB.
 
Sachverhalt


BGE 108 IV 145 (145):

A.- St. hat sich am 30. Mai 1978 in Zürich abgemeldet. Er wohnt und arbeitet seither in Saudi-Arabien. Am 29. Oktober 1981 konnte er in der Schweiz verhaftet werden. Er blieb bis zum 5. November 1981 in Untersuchungshaft und begab sich dann wieder nach Saudi-Arabien.
Am 15. Juni 1982 erhob die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich gegen St. Anklage wegen Veruntreuung und Irreführung der Rechtspflege, begangen im Juli 1977 in Italien. Die Anklagekammer des Obergerichts des Kantons Zürich beschloss am 27. September 1982, dass die erhobene Anklage einstweilen nicht zugelassen werde, da der Angeklagte sich nicht in der Schweiz befinde und eine Strafverfolgung gemäss Art. 6 StGB zur Zeit nicht möglich sei.
B.- Gegen diesen Beschluss der Anklagekammer führt die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, der angefochtene Beschluss sei wegen Verletzung von Art. 6 Ziff. 1 StGB aufzuheben und die Sache sei zur neuen Beurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
 


BGE 108 IV 145 (146):

Aus den Erwägungen:
2. Die Bestimmungen der Art. 3-6 StGB regeln nicht nur den Anwendungsbereich des Gesetzes, wie Überschrift und Wortlaut vermuten lassen, sondern umschreiben gleichzeitig auch die schweizerische Gerichtsbarkeit (s. BGE 102 IV 38 E. 2b, BGE 99 IV 123 f. E. 1a und b). In welchen Fällen die Schweiz Strafhoheit beansprucht und sich zur Verfolgung und Bestrafung eines Verhaltens für zuständig erklärt, ergibt sich aus den Vorschriften über den räumlichen Anwendungsbereich des Gesetzes. Die Art. 346 ff. StGB ordnen den Gerichtsstand innerhalb der Schweiz im interkantonalen Verhältnis; stillschweigend vorausgesetzt ist aber immer, dass gemäss Art. 3 ff. StGB die schweizerische Gerichtsbarkeit überhaupt gegeben ist. So kommt insbesondere Art. 348 StGB (Gerichtsstand bei strafbaren Handlungen im Ausland) nur zum Zuge, wenn gemäss Art. 4-6 StGB für eine Auslandtat die schweizerische Zuständigkeit zu beanspruchen ist. Die oft gebrauchte Wendung, in den Art. 3 ff. werde "nur" der Geltungsbereich des Gesetzes geregelt, die Ordnung des Gerichtsstandes finde sich in den Art. 346 ff. StGB, ist insoweit ungenau (vgl. hiezu BGE 102 IV 38; STRATENWERTH, Allgem. Teil, S. 94 Rn 25; für das deutsche Recht klar im Sinne der vorstehend dargelegten Auffassung: JESCHECK, Lehrbuch, 3. Aufl., S. 129).
Die Anklagekammer des Zürcher Obergerichtes hat es abgelehnt, durch Zulassung der Anklage gegen einen Abwesenden die Durchführung eines Kontumazialverfahrens zu ermöglichen (unter Berufung auf HAFTER, Allgem. Teil, S. 59 und 62; SCHWANDER, Das Schweizerische Strafgesetzbuch, 2. Aufl., S. 36 f.).
Die Abgrenzung der staatlichen Strafgewalt nach dem Territorialitätsprinzip - d.h. die Anknüpfung der Gerichtsbarkeit an den Begehungsort - bildet heute international die primäre Grundlage des sogenannten internationalen Strafrechts. Auch das Strafgesetzbuch geht in Art. 3 StGB von dieser Basis aus (s. BGE 99 IV 123 f. E. 1a). Die weitern Vorschriften, welche das Territorialitätsprinzip

BGE 108 IV 145 (147):

ergänzen (Art. 4-6 StGB), können zu Kollisionen mit der Strafhoheit des ausländischen Staates führen, in welchem sich der Begehungsort befindet. Art. 5 und 6 StGB haben deutlich subsidiäre Funktion; sie kommen nur zum Zuge, wenn die primär zuständigen Behörden des Begehungsortes die Auslandtat nicht bereits abschliessend beurteilt haben bzw. die im Ausland ausgefällte Strafe dort noch nicht voll verbüsst ist und der Täter sich in der Schweiz befindet. Dass der Täter sich in der Schweiz befinden muss, stellt gemäss Art. 5 und 6 StGB unzweifelhaft eine Voraussetzung der schweizerischen Gerichtsbarkeit dar.
In einem von der Beschwerdeführerin zitierten, in BJM 1968 S. 87 veröffentlichten Urteil hat das Basler Appellationsgericht die Auffassung vertreten, die gemäss Art. 5 StGB im Zeitpunkt der Klageeinreichung gegebene schweizerische Gerichtsbarkeit für eine Auslandtat entfalle nicht, auch wenn der Täter nach Einleitung des Privatklageverfahrens die Schweiz verlassen habe und hier nicht mehr vor Gericht gestellt werden könne. Dieser Entscheid dürfte von zivilprozessualen Überlegungen beeinflusst worden sein. Wenn die Anwesenheit des Täters in der Schweiz eine Voraussetzung der (im oben dargelegten Sinn: subsidiären) schweizerischen Zuständigkeit ist, dann lässt sich nicht die Regel aufstellen, eine einmal vorhandene Kompetenz könne nicht infolge des Wegzuges des Beschuldigten wieder entfallen (so BJM 1968 S. 88). Begibt sich der in der Schweiz wegen einer Auslandtat Angeschuldigte vor der Beurteilung ins Ausland, so ist nach dem Wortlaut der Art. 5 und 6 StGB eine Voraussetzung der schweizerischen Zuständigkeit nicht mehr erfüllt; er befindet sich nicht mehr in der Schweiz. Es bestehen auch keine überzeugenden praktischen Gründe, um in solchen Fällen das zu Recht eingeleitete Verfahren doch weiterzuführen und mit einem Kontumazialurteil abzuschliessen, wenn die durchgeführte Untersuchung eine genügende Grundlage für eine materielle Beurteilung bildet. Dies wäre eine problematische und durch das Gesetz nicht gestützte Erweiterung der Gerichtsbarkeit. Wenn in Art. 5 und 6 StGB verlangt wird, dass der Täter sich in der Schweiz befinden müsse, so wollte der Gesetzgeber damit nicht etwa einfach die Einvernahme des Angeschuldigten sicherstellen, sondern in erster Linie soll wohl auf diese Weise eine Kumulation paralleler Strafverfahren am ausländischen Begehungsort und in der Schweiz vermieden werden. Sobald ein Täter sich nicht in der Schweiz aufhält, ist aber möglich, dass er im ausländischen Staat der Begehung zur Rechenschaft

BGE 108 IV 145 (148):

gezogen, allenfalls sogar von einem Drittstaat dorthin ausgeliefert wird. Für Auslandtaten wollte der Gesetzgeber - abgesehen von Delikten gegen den Staat (Art. 4 StGB) - in weiser Zurückhaltung wirklich nur dann die schweizerische Gerichtsbarkeit beanspruchen, wenn der Täter sich in der Schweiz befindet und hier in einem ordentlichen Verfahren abgeurteilt werden kann. Eine Ausweitung dieser (subsidiären) Gerichtsbarkeit, um in wenigen Einzelfällen zur Verhinderung der Verfolgungsverjährung Kontumazialurteile zu ermöglichen, wäre vom Wortlaut der Art. 5 und 6 StGB nicht gedeckt und entspricht überdies keineswegs einem dringenden praktischen Bedürfnis.
Aus diesen Erwägungen ist an der in SJZ 1966 S. 273 publizierten Rechtsprechung (Urteil des Kassationshofes i.S. P. AG vom 4. Mai 1965) festzuhalten.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.