BGE 98 V 35
 
10. Urteil vom 19. Januar 1972 i.S. Kuster gegen Ausgleichskasse des Kantons Luzern und Versicherungsgericht des Kantons Luzern
 
Regeste
Art. 12 IVG.
Art. 13 IVG.
Kein Anspruch gemäss dieser Bestimmung, wenn das Geburtsgebrechen des Versicherten nicht vor dessen Mündigkeit behandelt werden kann.
Art. 78 Abs. 3 IVV.
Die Kosten von Abklärungsmassnahmen, denen sich der noch minderjährige Versicherte unterzieht, gehen nicht zu Lasten der Invalidenversicherung, wenn die Behandlung des Geburtsgebrechens erst nach Eintritt der Volljährigkeit einsetzen kann.
 
Sachverhalt


BGE 98 V 35 (36):

A.- Der am 7. Oktober 1950 geborene Beschwerdeführer André Kuster, Student, litt seit 1966 im unteren Rückenbereich an Beschwerden, diedurchden Hausarztals Folgen eines Morbus Scheuermann gedeutet und behandelt wurden. Im September 1970 stellte der Internist Dr. B. röntgenologisch eine Hydronephrose (Nierenbeckenerweiterung) fest und überwies den Patienten dem Chirurgen und Urologen Dr. S. Dieser diagnostizierte am 23. Oktober 1970 eine angeborene Hydronephrose rechts im Sinne des Geburtsgebrechens Ziffer 344 GgV "ohne Zeichen eines Harnweginfektes oder einer Steinbildung" und legte durch Operation vom 14. Dezember 1970 eine Nierenbeckenplastik an. Mit Anmeldung vom 23. Oktober 1970 ersuchte André Kuster die Invalidenversicherung um Übernahme der Kosten der genannten medizinischen Vorkehren. Gestützt auf einen entsprechenden Beschluss der Invalidenversicherungs-Kommission lehnte die Ausgleichskasse des Kantons Luzern das Leistungsgesuch gemäss Verfügung vom 14. Dezember 1970 ab.
B.- André Kuster liess gegen diese Verfügung Beschwerde erheben. Beantragt wurde Kostenübernahme für die inzwischen durchgeführte Nierenoperation. Der Zustand, der den Beschwerdeführer berechtigt hätte, die Invalidenversicherung in Anspruch zu nehmen, habe beweisbar bereits zur Zeit der Minderjährigkeit bestanden, aber infolge unverschuldeter Fehldiagnose des Arztes erst 14 Tage nach Erreichen der Mündigkeitangemeldetwerden können; daher sei der Beschwerdeführer gegenüberderlnvalidenversicherungaus Art. 13 IVG anspruchsberechtigt geblieben...
Die Invalidenversicherungs-Kommission beantragte Abweisung der Beschwerde; die Ausgleichskasse schloss sich diesem Antrag im wesentlichen an, hielt aber dafür, die Invalidenversicherung

BGE 98 V 35 (37):

habe die Kosten der Untersuchung durch Dr. B. zu übernehmen, weil diese Abklärung vor dem 20. Geburtstag des Beschwerdeführers erfolgt sei. In diesem Sinne entschied dann das Versicherungsgericht des Kantons Luzern am 26. Februar 1971.
C.- Der Vater des Beschwerdeführers hat für diesen den kantonalen Entscheid mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das Eidgenössische Versicherungsgericht weitergezogen und das im vorinstanzlichen Verfahren gestellte Rechtsbegehren erneuert...
Die Ausgleichskasse und das Bundesamt für Sozialversicherung lassen sich mit dem Antrag auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde vernehmen. Das Bundesamt beantragt überdies Aufhebung von Ziffer 1, 1. Halbsatz, im Dispositivdes kantonalen Entscheides, weildie Voraussetzungen für die Übernahme von Untersuchungskosten gemäss Art. 78 Abs. 3 IVV nicht erfüllt seien.
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
2. a) Art. 13 Abs. 1 IVG gewährt Minderjährigen, die an einem Geburtsgebrechen leiden, einen Rechtsanspruch auf alle zur Behandlung dieses Gebrechens notwendigen medizinischen Massnahmen, und zwar unabhängig von der Möglichkeit einer Eingliederung in das Erwerbsleben (Art. 8 Abs. 2 IVG). Mit dieser weitgehenden Privilegierung nimmt die erwähnte Bestimmung eine besondere Stellung im System der Invalidenversicherung ein; Rechtsgleichheit und Rechtssicherheit gebieten eine strikte Abgrenzung ihres Anwendungsbereiches. Dies geschieht einerseits durch die abschliessende Umschreibung der Geburtsgebrechen in der Verordnung über Geburtsgebrechen und anderseits durch Einschränkung der Anspruchsberechtigung auf Minderjährige. Ausnahmen von dieser Regelung sind - vorbehältlich Art. 13 Abs. 2 zweiter Satz IVG - weder gesetzlich vorgesehen noch gerechtfertigt, zumal seit 1964 auch die soziale Krankenversicherung für Geburtsgebrechen leistungspflichtig ist (vgl. Art. 14 Abs. 1 Vo III über die Krankenversicherung). Das Gericht verweist unter anderen auf die Urteile i.S. Widmer vom 12. November 1971, Diethelm vom 20. Mai 1970 (ZAK 1970 S. 556), Schmocker vom 5. Mai 1970, Weibel vom 9. März 1970 (ZAK 1970

BGE 98 V 35 (38):

S. 496), Bischoff vom 25. März 1966 und Burn vom 24. Januar 1966 (ZAK 1966 S. 324).
Die Rechtsprechung stellt bei Beurteilung der Ansprüche aus Art. 13 IVG stets auf den Zeitpunkt der Durchführung der Massnahme ab und nicht aufein formelles Kriterium wie das Datum der Anmeldung, des ärztlichen Untersuchs oder der Verwaltungsverfügung. Diese Praxis gewährleistet eine möglichst einheitliche Anwendung des Art. 13 IVG und wird überdies der besonderen Stellung dieser Norm im System der Invalidenversicherung gerecht. In diesem Sinne wurde beispielsweise im Falle eines Versicherten, der sich fünf Tage vor Eintritt der Volljährigkeit bei der Invalidenversicherung angemeldet hatte, die Übernahme der Behandlungskosten eines Geburtsgebrechens zu Lasten der Invalidenversicherung gemäss Art. 13 IVG verweigert, weil die Behandlung als solche in die Zeit der Volljährigkeit gefallen wäre (vgl. das erwähnte Urteil i.S. Diethelm, Erw. 1).
b) Nach dem Gesagten haben Verwaltung und Vorinstanz einen Rechtsanspruch des Beschwerdeführers gestützt auf Art. 13 IVG zu Recht verneint. Art. 1 Abs. 1 GgV, wonach der Zeitpunkt unerheblich ist, in welchem das Geburtsgebrechen als solches erkannt wird, vermag an diesem Ergebnis nichts zu ändern. Denn dieser Rechtssatz hat lediglich im Rahmen von Art. 13 IVG Bedeutung, also insbesondere unter der Voraussetzung, dass die erforderliche Massnahme noch vor Eintritt der Volljährigkeit durchgeführt werden kann. Auch die Beitragszahlung vor Erreichen des Mündigkeitsalters begründet an sich keinen Anspruch auf Leistungen gemäss der erwähnten Gesetzesbestimmung. Dieser Anspruch hängt neben den besonderen Voraussetzungen des Art. 13 IVG - die hier, wie ausgeführt, nicht vorliegen - bloss vom Versichertsein (Art. 6 Abs. 1 IVG) ab, welche Eigenschaft gemäss Art. 1 und 2 IVG in Verbindung mit Art. 3 AHVG nur beschränkt mit der Beitragspflicht verbunden ist.


BGE 98 V 35 (39):

Der Beschwerdeführer bestreitet in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde, durch sein Gebrechen nicht behindert gewesen zu sein. Es ist kaum zu bezweifeln, dass die fragliche medizinische Vorkehr geeignet gewesen ist, die Erwerbsfähigkeit des Beschwerdeführers vor wesentlicher Beeinträchtigung zu bewahren. Dieser Gesichtspunkt ist aber im Hinblick auf die grundsätzliche Bedeutung des Art. 12 IVG nicht ausschlaggebend. Diese Bestimmung bezweckt namentlich, die Aufgabenbereiche der Invalidenversicherung einerseits und der sozialen Kranken- und Unfallversicherung anderseits gegeneinander abzugrenzen. Die Abgrenzung "beruht auf dem Grundsatz, dass die Behandlung einer Krankheit oder einer Verletzung ohne Rücksicht auf die Dauer des Leidens primär in den Aufgabenbereich der Kranken- und Unfallversicherung gehört" (Bericht der Eidgenössischen Expertenkommission für die Revision der Invalidenversicherung vom 1. Juli 1966, S. 31). Auf Seite 32 dieses Expertenberichtes heisst es hiezu weiter:
"Würden ... alle Massnahmen einbezogen, die geeignet sind, die Erwerbsfähigkeit dauernd und wesentlich zu verbessern, so hätte dies zur Folge, dass praktisch alle Behandlungen, die eine Verbesserung oder Stabilisierung des Gesundheitszustandes bewirken und dadurch letztlich auch die Erwerbsfähigkeit beeinflussen, von der Invalidenversicherung übernommen werden müssten. Die Leistungen der Kranken- und Unfallversicherung würden sich unter diesen Umständen auf Bagatellschäden sowie auf die Behandlung von eingliederungsunfähigen Personen beschränken."
Demgemäss bestimmt Art. 12 IVG, der Versicherte habe Anspruch auf medizinische Massnahmen, "die nicht auf die Behandlung des Leidens an sich, sondern unmittelbar auf die berufliche Eingliederung gerichtet und geeignet sind, die Erwerbsfähigkeit dauernd und wesentlich zu verbessern oder vor wesentlicher Beeinträchtigung zu bewahren". Das Gesetz umschreibt also die Vorkehren medizinischer Art, welche von der Invalidenversicherung nicht zu übernehmen sind, mit dem Rechtsbegriff "Behandlung des Leidens an sich". Wo und solange labiles pathologisches Geschehen besteht und mit medizinischen Vorkehren angegangen wird, stellen solche Heilmassnahmen, sozialversicherungsrechtlich betrachtet, Behandlung des Leidens an sich dar. Sie fallen damit grundsätzlich in den Aufgabenbereich der sozialen Kranken- oder Unfallversicherung, wobei es gemäss ständiger Rechtsprechung nicht

BGE 98 V 35 (40):

darauf ankommt, ob im Einzelfall der entsprechende Versicherungsschutz tatsächlich besteht. Durch den Ausdruck"labiles pathologisches Geschehen" wird der Begriff des "Leidens an sich" abgegrenzt von den stabilen bzw. relativ stabilisierten Defektzuständen, welche Anlass zu medizinischen Massnahmen der Invalidenversicherung bieten können. Bei volljährigen Versicherten kann sich demnach die Frage, ob eine Heilanwendung medizinische Eingliederungsmassnahme der Invalidenversicherung sei oder nicht, erst stellen, wenn die Phase des labilen pathologischen Geschehens insgesamt abgeschlossen und ein stabiler bzw. relativ stabilisierter Zustand eingetreten ist. Das Gericht verweist hiezu auf BGE 97 V 46 /47, 51, EVGE 1969 S. 97/98. 101/102, 1968 S. 112/113, 1967 S. 100.
b) Im vorliegenden Fall erheischte eine angeborene Hydronephrose die Einsetzung einer Nierenbeckenplastik. Diese Operation stellt einen Eingriff in labiles pathologisches Geschehen im Sinne der dargelegten Unterscheidung dar. Mithin obliegt es nicht der Invalidenversicherung, gestützt auf Art. 12 IVG für die Kosten dieser Massnahme aufzukommen, vielmehr ist dies nach dem Gesagten Aufgabe der sozialen Krankenversicherung. Unter diesen Umständen ist auch die Frage nach der Dauerhaftigkeit und Wesentlichkeit des angestrebten bzw. erzielten Eingliederungserfolges rechtlich unerheblich. Im Ergebnis, nicht aber in der Begründung ist daher dem vorinstanzlichen Entscheid bezüglich der Verweigerung von Leistungen nach Art. 12 IVG beizupflichten und damit die Verwaltungsgerichtsbeschwerde abzuweisen.
a) Gemäss Art. 78 Abs. 3 IVV werden die Kosten von Abklärungsmassnahmen von der Versicherung getragen, wenn die Massnahmen durch die Invalidenversicherungs-Kommission angeordnet wurden oder, falls es an einer solchen Anordnung (wie vorliegend) fehlt, "soweit sie für die Zusprechung von Leistungen unerlässlich waren oder Bestandteil nachträglich zugesprochener Eingliederungsmassnahmen bilden". In einem Urteil i.S. Bobillier vom 5. November 1971 (BGE 97 V 233) hat das Gericht entschieden, diese Bestimmung sei in engem wörtlichem Sinne auszulegen.


BGE 98 V 35 (41):

b) Die Abklärungen des Internisten Dr. B., die röntgenologisch zur Feststellung einer Hydronephrose führten, sowie die weiteren Untersuchungen des Urologen Dr. S. mit dem Ergebnis, es liege eine angeborene Hydronephrose im Sinne des Geburtsgebrechens Ziffer 344 GgV vor und es sei eine Nierenbeckenplastik indiziert, sind als Einheit zu betrachten und stellen zweifellos Abklärungsmassnahmen im Sinne der genannten Bestimmung dar. Diese Massnahmen hätten jedenfalls dann von der Invalidenversicherung übernommen werden müssen, wenn das festgestellte Geburtsgebrechen noch vor Erreichen des Mündigkeitsalters hätte behandelt werden können; in diesem Falle wären die Massnahmen "für die Zusprechung von Leistungen unerlässlich" gewesen. Anders verhält es sich aber vorliegend, weil die fraglichen Abklärungsmassnahmen zwar wohl zur Feststellung und Behandlung des Gebrechens, nicht aber "für die Zusprechung von Leistungen unerlässlich" waren; denn diese Wirkung vermochten sie im vorneherein nicht hervorzubringen, weil schon zur Zeit der Vornahme der Abklärungen feststand, dass sie nicht mehr zur Behandlung des Gebrechens vor Vollendung des 20. Altersjahres führen konnten und somit auch keinen Rechtsanspruch aufÜbernahme der Behandlungskosten durch die Invalidenversicherung auszulösen vermochten.
Die Abklärungsmassnahme von Dr. B. bildet schliesslich - da weder Leistungen nach Art. 13 noch gemäss Art. 12 IVG zugesprochen werden können - auch nicht Bestandteil nachträglich gewährter Eingliederungsmassnahmen. Daher ist der vorinstanzliche Entscheid insoweit aufzuheben, als er die Invalidenversicherung zur Übernahme von Untersuchungskosten verpflichtet.
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen und der kantonale Entscheid im Umfange von Ziffer 1 Satz 1 des Dispositivs aufgehoben.