BGE 105 Ia 15 - Informationsstand Gösgen
 
5. Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
vom 28. März 1979
i.S. S. gegen Polizeirichter der Stadt St. Gallen und Bezirksgericht
(Gerichtskommission) St. Gallen (staatsrechtliche Beschwerde)
 
Regeste
Staatsrechtliche Beschwerde. Presse- und Meinungsäusserungsfreiheit.
1. Erschöpfung des kantonalen Instanzenzuges. Gleichzeitige Anfechtung eines kantonalen Entscheides mit staatsrechtlicher Beschwerde und mit einem kantonalen Rechtsmittel (E. 2).
2. Wer wegen Missachtung einer mit einer Bewilligung verbundenen Auflage bestraft wird, kann im Rahmen einer erst an den Strafentscheid anschliessenden staatsrechtlichen Beschwerde, vorbehältlich gewisser Ausnahmen, die Frage der Verfassungsmässigkeit der Bewilligungsverfügung nicht mehr aufwerfen (E. 3).
3. Das Aufstellen eines Informationsstandes auf öffentlichem Grund zur Verteilung von Flugblättern darf als gesteigerter Gemeingebrauch auch dann bewilligungspflichtig erklärt werden, wenn die Ausübung ideeller Freiheitsrechte in Frage steht. Beim Entscheid über die Zurverfügungstellung eines öffentlichen Standplatzes darf die Behörde, innerhalb gewisser Schranken, auch den Inhalt der zur Verteilung bestimmten Flugblätter berücksichtigen bzw. die Bewilligung in dieser Hinsicht an gewisse Auflagen knüpfen (E. 4).
 
Sachverhalt
A.- Nach Art. 19 der Polizeiverordnung der Stadt St. Gallen vom 20. Oktober 1964 (PolVO) bedarf die über den Gemeingebrauch hinausgehende Benützung der öffentlichen Strassen, Plätze usw. einer polizeilichen Bewilligung. Art. 25 Abs. 1 PolVO erklärt u.a. die Verteilung von Flugblättern, Programmen, Reklamezetteln sowie das Herumtragen oder Herumführen von Reklamen auf öffentlichem Grund als bewilligungspflichtig. Nach Art. 31 PolVO werden Zuwiderhandlungen gegen die Polizeiverordnung mit Haft oder Busse bestraft.
Die Gewerbepolizei der Stadt St. Gallen erteilte S. die Bewilligung, am 30. Juni und 1. Juli 1977 an einem bestimmten Ort auf öffentlichem Grund der Stadt St. Gallen einen Informationsstand, bestehend aus einem Tisch, 3-4 Stühlen, einem Sonnenschirm und einer Plakatwand, aufzustellen. Laut der Bewilligungsverfügung bestand der Zweck der Veranstaltung in der Abgabe einer Informationsbroschüre über das Atomkraftwerk Gösgen. Die Bewilligung enthielt den schriftlichen Zusatz, dass das Flugblatt "Gösgen, wir kommen wieder" nicht verteilt werden dürfe. Nach Angabe der Gewerbepolizei soll bei der Übergabe der Bewilligungsverfügung mündlich klargestellt worden sein, dass jeglicher Aufruf zu einer zweiten Besetzung des Atomkraftwerkes Gösgen am Wochenende des 2./3. Juli 1978 verboten sei.
Bei einer polizeilichen Kontrolle am 30. Juni 1977 wurde festgestellt, dass zwar das Flugblatt "Gösgen, wir kommen wieder" nicht verwendet wurde, dass aber am Stand zwei dem Inhalt nach gleichartige Flugblätter gut sichtbar angebracht waren und an Passanten abgegeben wurden. Das eine Flugblatt forderte jeden auf, am 2. Juli 1977 "mit Gasmaske und wasserdichter Bekleidung" nach Gösgen zu kommen, das andere rief auf zu einer zweiten Besetzung des Atomkraftwerkes Gösgen bzw. von dessen Zufahrtswegen. Die Gewerbepolizei entzog darauf die Bewilligung für das Aufstellen des Informationsstandes und erstattete Strafanzeige.
Der Polizeirichter der Stadt St. Gallen bestraffte S. mit Verfügung vom 8. November 1977 gestützt auf Art. 25 in Verbindung mit Art. 31 PolVO sowie gestützt auf Art. 59 Abs. 1 des kantonalen Einführungsgesetzes zum Strafgesetzbuch (unerlaubte Veranstaltung auf öffentlichem Grund) mit Fr. 100.- Busse. Auf Berufung hin sprach die Gerichtskommission des Bezirksgerichtes St. Gallen S. der Widerhandlung gegen die PolVO (Art. 19 in Verb. mit Art. 31) schuldig und auferlegte ihm eine Busse von Fr. 100.-.
S. führt gegen das Urteil des Bezirksgerichtes staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung von Art. 4 BV sowie der Presse- und Meinungsäusserungsfreiheit. Da er gegen das Urteil des Bezirksgerichtes zugleich eine Rechtsverweigerungsbeschwerde an das Kantonsgericht erhoben hatte, wurde die Behandlung der staatsrechtlichen Beschwerde bis zum Abschluss dieses kantonalen Rechtsmittelverfahrens ausgesetzt. Das Kantonsgericht wies die erhobene Rechtsverweigerungsbeschwerde in der Folge ab. S. erklärte daraufhin, dass er an der staatsrechtlichen Beschwerde gegen das Bezirksgerichtsurteil festhalte, den Entscheid des Kantonsgerichtes aber nicht anfechten werde.
 
Auszug aus den Erwägungen:
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
 
Erwägung 1
 
Erwägung 2
2.- Staatsrechtliche Beschwerden wegen Verletzung von Art. 4 BV sind erst nach Erschöpfung des kantonalen Instanzenzuges zulässig, ebenso Beschwerden wegen Verletzung der Pressefreiheit und der Meinungsäusserungsfreiheit (Art. 86/87 OG). Ein Entscheid ist letztinstanzlich, wenn zur Geltendmachung der mit der staatsrechtlichen Beschwerde erhobenen Rüge kein kantonales Rechtsmittel mehr zur Verfügung steht. Auf die unmittelbar gegen das Urteil des Bezirksgerichtes erhobene staatsrechtliche Beschwerde ist daher nur soweit einzutreten, als die darin erhobenen Rügen nicht mehr Gegenstand eines kantonalen Rechtsmittelverfahrens bilden konnten. Das trifft zu für die Rüge der Verletzung der Presse- und Meinungsäusserungsfreiheit, nicht jedoch für die unter Berufung auf Art. 4 BV erhobenen Einwände (Absehen von einem förmlichen Freispruch bezüglich des Tatbestandes von Art. 59 Abs. 1 EGzStGB, Verbot der reformatio in peius, Kostenverteilung), die der Beschwerdeführer im Rahmen der kantonalen Rechtsverweigerungsbeschwerde vorbringen konnte und welche die Rekurskommission des Kantonsgerichtes in ihrem Beschwerdeentscheid vom 8. November 1978 denn auch materiell beurteilt hat. In bezug auf diese Fragen war das Urteil des Bezirksgerichtes, welches der Beschwerdeführer einzig angefochten hat, nicht letztinstanzlich. Erst nach erfolgloser Ergreifung des zur Verfügung stehenden kantonalen Rechtsmittels durften die erwähnten Rügen zum Gegenstand einer staatsrechtlichen Beschwerde gemacht werden, und der Beschwerdeführer hätte zu diesem Zwecke auch den Entscheid des Kantonsgerichtes anfechten und sich mit dessen Erwägungen auseinandersetzen müssen (BGE 94 I 463; 84 I 235; 81 I 148).
Nach der neueren bundesgerichtlichen Rechtsprechung (BGE 94 I 462 f.) wäre es auch zulässig gewesen, mit der Anrufung des Bundesgerichtes zuzuwarten, bis über das beim Kantonsgericht eingelegte Rechtsmittel entschieden war; mit einer daran anschliessenden staatsrechtlichen Beschwerde hätte zugleich noch das Sachurteil des Bezirksgerichtes angefochten werden können, und zwar auch mit Rügen, die vor Kantonsgericht nicht vorgebracht werden konnten. Nachdem jedoch der Beschwerdeführer nicht so vorging, sondern sofort gegen das Sachurteil des Bezirksgerichtes staatsrechtliche Beschwerde erhob, hätte er, um die Gegenstand des kantonsgerichtlichen Verfahrens bildenden Rügen dem Bundesgericht unterbreiten zu können, gegen den Entscheid des Kantonsgerichtes eine weitere staatsrechtliche Beschwerde einreichen müssen. Die unmittelbar gegen das Bezirksgerichtsurteil erhobene Beschwerde war in den betreffenden Punkten verfrüht, und es ist insoweit mangels Erschöpfung des Instanzenzuges nicht auf sie einzutreten.
 
Erwägung 3
Die Feststellung des Sachverhaltes prüft das Bundesgericht im Rahmen einer staatsrechtlichen Beschwerde, selbst wenn es um die Tragweite spezieller Verfassungsgarantien geht, nur unter dem Gesichtswinkel der Willkür. Die gleiche Kognitionsbeschränkung gilt hier, da kein besonders schwerer Grundrechtseingriff in Frage steht, für die Überprüfung der Handhabung des kantonalen (und kommunalen) Gesetzesrechtes.
Der Beschwerdeführer bringt nichts vor, was geeignet wäre, die Auffassung des Bezirksgerichtes, er habe sich über die ihm erteilte Bewilligung hinweggesetzt und damit gegen Art. 19 PolVO verstossen, als unhaltbar und willkürlich erscheinen liesse. Das Bezirksgericht konnte mit Grund annehmen, die Bewilligung für das Aufstellen des Informationsstandes sei unter dem Vorbehalt erteilt worden, dass keine Propaganda für eine zweite Besetzung des Atomkraftwerkes Gösgen erfolge, und der Beschwerdeführer sei sich bewusst gewesen, dass die Verteilung der beanstandeten Flugblätter nicht erlaubt gewesen sei. Es kann sich einzig darum handeln, ob die mit der Bewilligung verbundene Auflage, deren Missachtung dem Beschwerdeführer zum Vorwurf gemacht wird, ihrerseits verfassungsmässig war, wobei sich aber vorab die Frage stellt, ob im vorliegenden staatsrechtlichen Beschwerdeverfahren ein dahingehender Einwand überhaupt noch erhoben werden kann. Was der Beschwerdeführer unter Berufung auf die Presse- und Meinungsäusserungsfreiheit vorbringt, läuft auf die Rüge hinaus, der mit der Bewilligungsverfügung verbundene Vorbehalt sei verfassungswidrig gewesen. Nur das Aufstellen des Informationsstandes, nicht auch das Verteilen von Flugblättern auf öffentlichem Grund dürfe als gesteigerter Gemeingebrauch bewilligungspflichtig erklärt werden; jedenfalls hätte die Bewilligung für die Verteilung der beanstandeten Flugblätter nicht verweigert werden dürfen. Die erhobene Kritik richtet sich damit gegen die Bewilligungsverfügung der Gewerbepolizei vom 30. Juni 1977, welche unangefochten in Rechtskraft erwachsen ist.
Eine Verfügung, welche auf einer rechtskräftigen früheren Verfügung beruht und diese lediglich vollzieht oder bestätigt, kann nicht mit der Begründung angefochten werden, die frühere Verfügung sei verfassungswidrig; eine solche Rüge ist verspätet (BGE 104 Ia 175). Eine Ausnahme von diesem Grundsatz macht die Rechtsprechung dann, wenn die Verletzung unverzichtbarer und unverjährbarer Rechte in Frage steht (BGE 100 Ia 296, 97 I 916, 93 I 351, 88 I 265); das trifft im vorliegenden Fall nicht zu. Auch in sonstiger Hinsicht füllt keine Ausnahme von der erwähnten Regel in Betracht (vgl. BGE 104 Ia 175/76).
Die angefochtene Busse erging wegen Missachtung einer mit einer früheren Bewilligungsverfügung verbundenen Auflage und stellt insoweit einen Vollzugsakt dar; mit der erst im Anschluss an den Bussenentscheid erhobenen staatsrechtlichen Beschwerde kann daher die Frage der Verfassungsmässigkeit der Bewilligungsverfügung nicht mehr aufgeworfen werden (BGE 100 Ia 296 f. E. 2a und b; 97 I 916 f. E. 4a und b). Der Umstand, dass das Bezirksgericht als strafrichterliche Berufungsinstanz die Berechtigung der fraglichen Bewilligungsauflage geprüft hat, ändert nichts (BGE 100 Ia 297).
Auf die Rüge, das Verteilen der beanstandeten Flugblätter hätte nicht bewilligungspflichtig erklärt werden dürfen bzw. bewilligt werden müssen, ist daher nicht einzutreten.
 
Erwägung 4
Wohl steht eine Betätigung der Meinungsäusserungsfreiheit in Frage und geniessen die am Informationsstand aufgelegten und zur Verteilung gelangten Flugblätter an sich den Schutz der Pressefreiheit. Anders als in BGE 96 I 588 ff. handelt es sich jedoch nicht um die Benützung des Trottoirs zur Flugblattverteilung durch eine einzelne Person, sondern um die Aufstellung eines Informationsstandes, bestehend aus einem Tisch, 3-4 Stühlen, einem Sonnenschirm und einer Plakatwand. Es ist klar, dass das Aufstellen eines derartigen Standes auf öffentlichem Grund einen gesteigerten Gemeingebrauch darstellt, der auch dann bewilligungspflichtig erklärt werden darf, wenn die Ausübung ideeller Freiheitsrechte in Frage steht. Die Behörde, der die Aufsicht und die Verfügung über den beanspruchten öffentlichen Boden zusteht, darf beim Entscheid über die Bewilligung neben Gesichtspunkten der polizeilichen Gefahrenabwehr auch andere öffentlichen Interessen berücksichtigen. Sie ist jedoch dabei nicht nur an das Willkürverbot und an den Grundsatz der Rechtsgleichheit gebunden, sondern sie hat darüber hinaus auch den besonderen ideellen Gehalt der Freiheitsrechte, um deren Ausübung es geht, in die vorzunehmende Interessenabwägung einzubeziehen (BGE 100 Ia 402; vgl. auch 102 Ia 53, 96 I 225; betr. Inanspruchnahme öffentlichen Grundes zu gewerblichen Zwecken vgl. BGE 101 Ia 476 ff., 104 Ia 177). Daraus folgt u.a., dass die Behörde eine Bewilligung nicht bloss deshalb verweigern darf, weil sie die vom Gesuchsteller propagierten Auffassungen nicht teilt oder missbilligt; sie ist vielmehr zu einer neutralen, sachlichen Haltung verpflichtet.
Dass die Bewilligungsbehörde über die Art und den ungefähren Inhalt der am Informationsstand zur Verteilung gelangenden Presseerzeugnisse im Bilde sein will, bevor sie über das Gesuch um Bewilligung und Zuweisung eines öffentlichen Standplatzes entscheidet, lässt sich nicht beanstanden. Nur wenn der Behörde der Zweck und die wesentlichen Umstände einer geplanten Veranstaltung bekannt sind, kann sie die ihr obliegende Interessenabwägung richtig vornehmen. Hierin liegt keine unzulässige Pressezensur, zumal die Verbreitung der betreffenden Presseerzeugnisse auch auf andere Weise, d.h. ohne gesteigerten Gemeingebrauch öffentlichen Grundes, erfolgen kann.
Hätte der Beschwerdeführer im vorliegenden Fall darauf beharrt, vom vorgesehenen Informationsstand aus zu einer zweiten Besetzung des Atomkraftwerkes Gösgen aufrufen zu dürfen, so wäre es zulässig gewesen, die verlangte Standplatzbewilligung zu verweigern. Die Behörde hätte mit guten Gründen annehmen dürfen, es sei weder legitim noch zweckmässig, einem Privaten einen öffentlichen Standplatz zur Verfügung zu stellen, um ihm den Aufruf zu rechtswidrigen, allenfalls sogar strafbaren Handlungen zu erleichtern. Es war alsdann auch zulässig, dass die Behörde die Bewilligung - statt sie gänzlich zu verweigern - an den Vorbehalt knüpfte, dass die vom Standplatz aus beabsichtigte Informationstätigkeit der Atomkraftwerkgegner nicht mit einem Aufruf zur neuerlichen Besetzung des Geländes oder der Zufahrtswege des Atomkraftwerkes Gösgen verbunden wird. Wohl hat die Behörde Zurückhaltung zu üben, wenn sie im Rahmen der Verfügung über den öffentlichen Grund Druckerzeugnisse und Meinungsäusserungen auf ihren Inhalt hin zu überprüfen hat. Die im Bewilligungsverfahren vorzunehmende Kontrolle darf nicht den Charakter einer politischen Zensur annehmen (BGE 96 I 590/91 E. 4c). Im vorliegenden Fall hat jedoch die Behörde die ihr verfassungsrechtlich gesetzten Schranken nicht überschritten, wenn sie die Standplatzbewilligung an den erwähnten Vorbehalt knüpfte.
 
Entscheid:
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.